30 August 2023

Konkordanz und Klimaschutz

Warum es nicht weiterhilft, jedes klimaschädliche Gesetz an Art. 20a GG zu messen

Lando Kirchmair hat auf dem Verfassungsblog kürzlich vorgeschlagen, alle klimaschädlichen Gesetze an Art. 20a GG zu messen und einer Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen, solange Klimaziele weiterhin nicht eingehalten werden. Im Beitrag nicht explizit genannter, aber wohl gemeinter Maßstab für die Überprüfung klimaschädlicher Gesetze soll die Verhältnismäßigkeit bzw. Herstellung praktischer Konkordanz sein.1) Dies lädt dazu ein, über die Folgen einer solchen Rechtfertigungsprüfung nachzudenken. Dabei zeigt sich jedoch – so die hier vertretene These –, dass der Maßstab der praktischen Konkordanz auf die Verteilungsprobleme des Klimaschutzes keine befriedigende Antwort gibt.

An dieser Stelle soll nicht weiter der Frage nachgegangen werden, ob sich – was fraglich ist – aus Art. 20a GG tatsächlich ein Rechtfertigungsvorbehalt für klimaschädliche Maßnahmen ergibt, wie Kirchmair vorschlägt2); dies wird im Folgenden als Prämisse unterstellt. Vielmehr sollen in diesem Beitrag die Folgen einer solchen Rechtfertigungsbedürftigkeit betrachtet werden.

Praktische Konkordanz als Ausgangspunkt

Nach dem Vorschlag Kirchmairs soll eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung bei der Prüfung klimaschädlicher Gesetze anhand von Art. 20a GG nur möglich sein, wenn sich das Gesetz auf Verfassungsgüter bzw. -prinzipien stützen kann, die das Gewicht der Klimaschutzverpflichtung überwiegen. Solche Konflikte zwischen verschiedenen Verfassungsrechtsgütern werden im deutschen Verfassungsrecht üblicherweise mit dem Grundsatz praktischer Konkordanz aufgelöst. Ziel ist es dabei, den verschiedenen Verfassungsrechtsgütern im Einzelfall zu ihrer größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen und keinen „abstrakten Vorrang“ einzelner Verfassungsrechtsgüter zu postulieren.3)

Zur Herstellung derartiger praktischer Konkordanz ist es erforderlich, die jeweils betroffenen Verfassungsrechtsgüter und deren Betroffenheit zu bestimmen. Hierzu ist insbesondere relevant, wie effektiv ein Rechtsgut durch eine Maßnahme geschützt oder beeinträchtigt wird und welche alternativen Maßnahmen es gibt.  Nur indem Gewicht und Bedeutung der Beeinträchtigung des einen Rechtsguts sowie der Grad der Förderung des anderen Rechtsguts bestimmt werden, kann eine Aussage über die Verhältnismäßigkeit bzw. praktische Konkordanz im Einzelfall getroffen werden.

Die Grenzen praktische Konkordanz bei Verteilungsfragen

Gerade diese Voraussetzungen stoßen bei der Verteilung knapper Güter aber an ihre Grenzen. Denn der Grad der Betroffenheit eines zu verteilenden Rechtsguts lässt sich durch eine Einzelmaßnahme innerhalb der zulässigen Grenze des zu verteilenden Gutes kaum bestimmen. Zwar lässt sich ggf. quantifizieren, wie sehr eine Maßnahme das gesamt zu verteilende Gut verbraucht. Hieraus lässt sich jedoch kein normatives Gewicht der Beeinträchtigung feststellen: Denn eingespart werden kann das Gut an vielen verschiedenen Stellen. Dabei ergibt sich aus dem betroffenen Gut selbst keine Präferenz dafür, wie und an welcher Stelle es zu verteilen ist.  Für die Frage, ob insgesamt zu viel von dem Gut verteilt wird, ist jedoch die Zielbestimmung der sachnähere Ansatzpunkt für eine verfassungsrechtliche Kontrolle, nicht aber die einzelnen Maßnahmen, die jeweils eine multipolare Abwägung erfordern.

Dies lässt sich – unter umgedrehten Vorzeichen, nämlich der Verteilung einer Last – anerkanntermaßen etwa im Steuerrecht feststellen. Zu seiner Finanzierung muss der Staat Steuern erheben. Die Finanzierung des Staatshaushalts stellt dabei ein verfassungsrechtlich anerkanntes Rechtsgut dar, mit dem Steuernormen gerechtfertigt werden. Dabei ist eine gewisse Gesamtsteuerlast erforderlich, um die notwendigen Staatseinnahmen zu erzielen. Für die Finanzierung des Haushaltes ist es letztlich irrelevant, ob die notwendigen Mittel durch Einkommensteuer, Umsatzsteuer, Körperschaftsteuer oder eine andere Steuerart erhoben werden. Die Prüfung von einzelnen Steuernormen konzentriert sich dementsprechend auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG und nicht auf freiheitsrechtliche Abwägungen der Erforderlichkeit einer Steuer.4)

Klimaschutz als Verteilungskonflikt

Bei dem hier fraglichen Klimaschutz handelt es sich um einen vergleichbaren Verteilungskonflikt. Nach dem Klimaschutzbeschluss des BVerfG liegt dem Klimaschutzgebot des Art. 20a GG der Gedanke zugrunde, dass ein Restbudget an CO2-Emissionen besteht, die getätigt werden dürfen (Rn. 215 ff.). Nach dieser verfassungsrechtlichen Konzeption sind also Emissionen nicht per se zu unterlassen; sie müssen „nur“ insgesamt auf ein Niveau beschränkt werden, das mit dem Klimaziel des Art. 20a GG vereinbar ist. Eine Verpflichtung zu konkreten klimaschützenden Maßnahmen ergibt sich aus dem Beschluss hingegen nicht (Rn. 249).

Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses lässt sich dann aber das Gewicht einer klimaschädlichen Maßnahme (wie etwa des unterbliebenen Tempolimits auf Autobahnen) kaum sinnvoll bestimmen. Die Beeinträchtigung des Klimaschutzziels müsste im Hinblick auf sämtliche andere Maßnahmen, die auch klimaschädlich sind, betrachtet werden. Wieso sollte – am Maßstab des Art. 20a GG – von einer konkreten Maßnahme eine übermäßige Beeinträchtigung des Klimaschutzziels ausgehen, wenn andere Maßnahmen (etwa die Zulassung der Kohleverstromung) genauso das begrenzte CO2-Restbudget zehren?

Das Problem, die Intensität einer konkreten Beeinträchtigung festzustellen, stellt sich genauso auf der Seite der zu berücksichtigenden Gegenrechtsgüter. Denn klimaschädliches Verhalten an einer Stelle zuzulassen muss nach dem Budgetansatz insgesamt mit einer Beschränkung klimaschädlichen Verhaltens an einer anderen Stelle korrespondieren; nur so lässt sich das Gesamtbudget einhalten. Dann müsste es aber einen verfassungsrechtlichen Maßstab geben, der erlaubt, die Intensität der Betroffenheit eines Rechtsguts festzustellen, um die verschiedenen Verhaltensweisen zueinander in Bezug zu setzen. Doch welcher verfassungsrechtliche Maßstab soll beantworten, ob die Freiheit, auf Autobahnen schnell zu fahren (die Autofahrer können sich auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG als Gegenrecht zum Klimaschutz berufen) höher zu gewichten ist als die Freiheit, mit dem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen (jedenfalls die Fluggesellschaften könnten sich bei einem Verbot auf Art. 12 I GG berufen)? Ein solcher genereller inhaltlicher Vergleich würde die punktuell wirkenden5) Maßstäbe von praktischer Konkordanz und Verhältnismäßigkeit überfordern.  Institutionell ist aus demokratischen Gründen eine solche planende, multipolare Zuweisung von Freiheitsräumen der Gesetzgebung und nicht dem Verfassungsgericht zugewiesen.

Soweit dagegen eingewendet wird, dass der Rechtfertigungsvorbehalt nur greifen soll, wenn (wie nach der aktuellen bundesdeutschen Klimapolitik) das zulässige CO2-Budget überschritten wird, führt dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Die insgesamt zu große Menge an Emissionen muss dann derart vermindert werden, dass sie sich auf das nach dem Budgetansatz Zulässige beschränkt. Und ebendiese Beschränkung der Gesamtemissionsmenge stellt sich auch als Verteilungskonflikt zwischen den insgesamt vorhandenen Interessen, CO2 zu emittieren, dar. Nur bestehen eben insgesamt mehr Interessen, CO2 zu emittieren als dies nach dem Budgetansatz möglich ist. Die notwendigen Beschränkungen müssen sich aus einer Verteilung des Restbudgets auf die CO2-Emissionsinteressen ergeben. Der Verteilungskonflikt ist verschärft, aber nicht kategorial anders als bei Einhaltung des Restbudgets.

Im Übrigen erscheint fraglich, wie ein solcher Rechtfertigungsvorbehalt, der nach Kirchmair zur Verfassungswidrigkeit des fehlenden Tempolimits führt, prozessual ausgestaltet sein soll: Gerichte – sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die einfachen Gerichte bei untergesetzlichen Normen – sind bei ihrer Entscheidung auf ihren Verfahrensgegenstand beschränkt. Sie können also nur punktuell einzelne Maßnahmen überprüfen; zu einer Gesamtplanung sind sie (abermals: aus demokratietheoretisch guten Gründen) weder befugt noch institutionell in der Lage. Dementsprechend hat auch das BVerfG im Klimaschutzbeschluss dem Gesetzgeber die Festlegung bzw. Determination des Verordnungsgebers für den Reduktionsminderungspfad über 2030 hinaus auferlegt (Rn. 261 ff.). Dass die (Un-)Zulässigkeit einzelner klimaschädlicher Normen dann aber von der – letztlich zufälligen – Frage abhängt, welche Maßnahme vor Gericht gebracht wird, überzeugt nicht.

Zielführender erscheint es, das Problem als Frage nach der Kontrolle von zusammenwirkenden (hier: klimaschädlichen) Einzelmaßnahmen und der – nach dem Klimaschutzbeschluss verfassungsrechtlich determinierten – verbindlichen Zielsetzung (hier: zum Klimaschutz) aufzufassen. Doch hier sind die anzuwendenden Maßstäbe – insbesondere ob staatliche Maßnahmen insoweit der Kohärenz bedürfen – noch nicht geklärt, wie sich beispielsweise in der Corona-Pandemie bei der Kontrolle von erst im Zusammenspiel wirksamen Pandemiemaßnahmen gezeigt hat.6)

Fazit

In Zeiten der voranschreitenden Klimakrise ist es ein hehres Anliegen, Art. 20a GG zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen. Der Klimaschutzbeschluss des BVerfG hat sich auf die Kontrolle der Klimaschutzziele beschränkt und keine Vorgaben für Maßnahmen gemacht. Für die Kontrolle, ob Klimaschutzmaßnahmen ausreichen, ist hingegen die praktische Konkordanz kein zielführender Maßstab. Vielmehr braucht es anderer Maßstäbe, um das Verhältnis von Zielsetzung und Einzelmaßnahmen zu betrachten – und gerade dieses Verhältnis ist für die Kontrolle von Klimaschutzmaßnahmen relevant.

References

References
1 Für das Österreichische Verfassungsrecht sieht Kirchmair dies explizit als den Prüfungsmaßstab an: ders./Krempelmeier, Journal für Rechtspolitik (JRP), 1/2023, 74 (89).
2 Kritisch insoweit etwa Gärditz, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 100. EL 01/2023, Art. 20a GG Rn. 60 (2013).
3 Klassisch: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 28.
4 Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (28 f.).
5 Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (30).
6 Vgl. z.B. zur Diskussion während der Corona-Krise im ersten Ansatz Gallon/Mangold im Verfassungsblog.