Staatsräson vor Völker(straf)recht?
Komplementarität und die deutsche Stellungnahme im IStGH-Haftbefehlsverfahren Palästina/Israel
Am 20.5.2024 hat Karim A.A. Khan, der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant sowie drei Hamas-Führungsfiguren1) in der Palästina-Situation („Situation in the State of Palestine“) beantragt (dazu Bock). Zahlreiche Staaten, Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen beteiligen sich an dem nun bei der Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber, ‘PTC‘) I anhängigen Haftbefehlsverfahren durch amicus curiae Stellungnahmen (s. hier). In der deutschen Stellungnahme, die am 9.8.2024 veröffentlicht wurde, werden ausschließlich Komplementaritätseinwände geltend gemacht. Der sog. Komplementaritätsgrundsatz regelt in Art. 17-19 IStGH-Statut (‘IStGHS‘)2) das Verhältnis des IStGH zu nationalen Kriminaljustizsystemen, wobei diesen grundsätzlich Vorrang vor dem IStGH eingeräumt wird (näher Ambos, Treatise International Criminal Law [ICL] III 2016, S. 266 ff.; ders. Internationales Strafrecht 2018, S. 335 ff.).
Im Folgenden werde ich zunächst mit der mangelnden Transparenz des amicus curiae Verfahrens beginnen. Danach werde ich einige verfahrensrechtliche Überlegungen anstellen, bevor ich auf die von Deutschland vorgebrachten Komplementaritätseinwände eingehe. Nach einer Zusammenfassung des deutschen Standpunkts werde ich diesen einer kritischen Bewertung unter Berücksichtigung anderer relevanter Stellungnahmen unterziehen. Insgesamt lässt sich sagen, dass Deutschland zwar einige interessante und bedenkenswerte Argumente vorbringt, die deutsche Stellungnahme sich auf grundsätzlicher Ebene aber auf der Linie der im Zusammenhang mit Israel allenthalben angeführten Staatsräson3) bewegt. So zeigt sich auch hier eine starke, fast bedingungslose Unterstützung Israels, die einem Primat der Politik über das Recht nahekommt und eine Israel meistbegünstigende Auslegung des Völker(straf)rechts zur Folge hat.
Mangelnde Transparenz
Die gängige Praxis beim IStGH ist es, amicus curiae Stellungnahmen – wie grundsätzlich alle Einlassungen im Sinne des Öffentlichkeitsgrundsatzes – sofort auf der Gerichtswebsite zu veröffentlichen, insbesondere wenn sie, wie hier, nur Rechtsfragen behandeln. Ungeachtet dessen hat PTC I zunächst alle Stellungahmen („filings“) in diesem Verfahren als geheim eingestuft (siehe UK Request for Leave, para. 29), was das Vereinigte Königreich zu Recht als unnötig kritisiert und deshalb eine Umklassifizierung als öffentlich beantragt hat (ebd.). PTC I hat diesem Antrag stattgegeben (hier, para. 7) und später entschieden, dass die eigentlichen amicus curiae Stellungnahmen („observations“) öffentlich eingereicht werden müssen (hier, Verfügung). Damit hat die Vorverfahrenskammer zunächst zwischen den Anträgen auf Zulassung („requests for leave“), die es als geheim eingestuft hat, und den eigentlichen amicus curiae Stellungnahmen, die von Anfang an öffentlich eingereicht werden mussten, unterschieden. Dieser Mangel an Transparenz und Inkonsistenz erscheint seltsam und bedarf einer Erklärung. Es ist zu hoffen, dass die Kammer alle Zulassungsanträge so bald wie möglich als öffentlich einstuft.
Deutschland hat seine ursprüngliche amicus curiae Stellungnahme, wie aus dem Titel hervorgeht, als „öffentlich“ mit Datum vom 6.8.2024 eingereicht, sie ist am nächsten Tag beim Gerichtshof eingegangen (siehe oben rechts auf jeder Seite der Stellungnahme) und war dann am 9.8. auf der Website abrufbar. Spekulationen über den Inhalt der Stellungnahme waren seit Mitte Juli im Umlauf (siehe hier und Talmon), aber das Auswärtige Amt hat die interessierte Öffentlichkeit nicht über das beschriebene Verfahren informiert. Es ist auch seltsam, dass die Stellungnahme ohne Angabe der Quelle in den „Court Records“ erscheint – lediglich als „Observations pursuant to Rule 103(1) of the Rules of Procedure and Evidence“; erst durch das Herunterladen der eigentlichen Stellungnahme wird klar, dass es sich um die deutsche handelt. Bei anderen Stellungnahmen erscheint die Quelle normalerweise bereits in der Liste der „Court Records“ (siehe beispielsweise die Stellungnahmen der USA, der Israel Bar Association oder von Adil Ahmad Haque). Schließlich verwundert es auch, dass Deutschland auf der Titelseite von der „Situation in Palestine“ statt (wie noch in der Stellungnahme von 2020) von „Situation in the State of Palestine“ spricht. Soll damit die Nichtanerkennung eines palästinensischen Staates zum Ausdruck gebracht werden?
Verfahrensrechtliche Aspekte
Prozedural „kann“ („may“) eine Kammer eine solche Stellungnahme „in jedem Verfahrensstadium“ (“at any stage of the proceedings”) zulassen, wenn sie dies für „wünschenswert“ („desirable“) zur ordnungsgemäßen Entscheidung des betreffenden Falls („for the proper determination of the case“) hält (Regel 103 Abs. 1 der Verfahrens- und Beweisregeln [Rules of Procedure and Evidence, ‘RPE‘] des IStGH). In unserem Zusammenhang müssen jedoch zwei Einschränkungen berücksichtigt werden. Erstens können Komplementaritätseinwände nach Art. 18 und 19 IStGH-Statut nur von einem Staat erhoben werden, der „normalerweise die Gerichtsbarkeit [„jurisdiction“] ausüben würde“ oder „die Gerichtsbarkeit hat“ (Art. 18 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2 lit. b). Streng genommen hat also nur ein solcher Staat das Recht, auf der Grundlage von Komplementaritätsargumenten zu intervenieren, zumindest wenn er beabsichtigt, die Zulässigkeit des Verfahrens anzufechten (dagegen ließe sich allerdings anführen, dass ein Staat, der eine amicus curiae Stellungnahme einreicht, nicht die Zulässigkeit anfechten, sondern lediglich seine Rechtsansicht darlegen will). Zweitens können Komplementaritätseinwände im Rahmen eines Haftbefehlsverfahrens nur ausnahmsweise geltend gemacht werden. Art. 58 Abs. 1 verlangt, dass „begründeter Verdacht besteht, dass die Person ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen hat“ und dass die Festnahme „notwendig erscheint“.4) Die Komplementarität kommt hier grundsätzlich nicht zum Tragen, kann aber von einer Vorverfahrenskammer von Amts wegen (proprio motu) behandelt werden (für eine gute frühere Diskussion siehe El-Zeidy). Wir werden auf den begrenzten Ermessensspielraum der Vorverfahrenskammer in dieser Hinsicht weiter unten zurückkommen, wenn wir die deutschen Komplementaritätseinwände würdigen.
Vorliegend hat ursprünglich das Vereinigte Königreich (noch unter konservativer Regierung) einen solchen Antrag am 10.6.2024 geheim (!) gestellt (hier die am 27.6.2024 per Kammeranordnung öffentlich gemachte Fassung) und PTC I hat dem Antrag am 27.6.2024 mit Einreichungsfrist zum 12.7.2024 stattgegeben (hier). Damit wurde eine Flut von Stellungnahmen ausgelöst (s. Court Records), wobei sich das Vereinigte Königreich (nun unter einer Labour Regierung) allerdings zwischenzeitlich vom Verfahren zurückgezogen hatte (hier). Da die Kammer den Gegenstand der Stellungnahmen nicht auf die – ursprünglich vom Vereinigten Königreich aufgeworfene – Frage der Gerichtsbarkeit (im Zusammenhang mit den Osloer Friedensverträgen) beschränkt hat, gingen zahlreiche Stellungnahmen darüber hinaus. Auch Deutschland, das seine Zulassung am letzten Tag (!) der o.g. Frist (12.7.2024) beantragte, befasste sich mit der Frage der Zuständigkeit überhaupt nicht (anders als in der schon erwähnten Stellungnahme aus 2020; kritisch Schabas, para. 12 ff.). Die Kammer hat dem deutschen Antrag am 22.7.2024 mit Einreichungsfrist bis zum 6.8.2024 stattgegeben (vgl. Stellungnahme, para. 2 f.). Deutschland hat dann am letzten Tag der Frist (6.8.2024) eingereicht.
Nach der bisherigen Praxis des Gerichtshofs waren im Rahmen eines Haftbefehlsverfahrens keine externen (amicus curiae) Stellungnahmen zulässig (siehe Vasiliev mit Nachweisen; siehe auch hier, para. 6 zur fehlenden Aktivlegitimation [„standing“] des Verdächtigen). Ein wesentlicher Grund dafür ist der ex parte Charakter dieses Verfahrens (siehe z.B. hier, para. 6, 18 und hier, para. 9) und wohl die durch solche Stellungnahmen verursachte Verfahrensverzögerung. Im vorliegenden Fall (kritisch auch Roth und Vasiliev) musste die Kammer nicht nur die Einreichungsfristen für die späteren Zulassungsanträge verlängern (und die meisten Beteiligten haben, wie Deutschland, die gewährte Frist auch ausgeschöpft), sondern auch der Anklagebehörde und Verteidigung Gelegenheit zur Erwiderung geben (Regel 103(2) RPE); dies ist per Anordnung vom 9.8.2024 (para. 7 f.) geschehen und zwar bezüglich der Anklagebehörde mit Frist zum 26.8. (max. 53 Seiten) und bezüglich des IStGH-Verteidigerbüros (Office of the Public Counsel for Defence, OPCD) bis zum 16.8 (max. 10 Seiten). Die Kammer wird damit nun Hunderte Seiten von (weiteren) Stellungnahmen zu verarbeiten haben, was eine weitere Verzögerung bedeutet. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der übliche Zeitraum zwischen dem Antrag und dem Erlass eines Haftbefehls in der Regel mehrere Wochen beträgt, zum Beispiel im Fall von Al-Werfalli etwa zwei Wochen (siehe hier), im Fall von Saif Al-Islam Gaddafi knapp sechs Wochen (hier), im Fall des Rebellenführers Joseph Kony etwa acht Wochen (hier) und im Fall des russischen Präsidenten Putin nur drei Wochen (hier).5)
Die deutschen Komplementaritätseinwände
Im Kern argumentiert die Bundesregierung – unter Berufung auf den das Verhältnis zwischen dem IStGH und nationalen Strafjustizsystemen regelnden Komplementaritätsgrundsatz (Art. 17-19) –, dass Israel die echte Möglichkeit und mehr Zeit gegeben werden müsse, um selbst strafverfolgerisch tätig werden zu können. Im Einzelnen werden vier Argumente vorgebracht.
1. Im Rahmen der Komplementaritätsprüfung müsse berücksichtigt werden, ob der betreffende Staat ein Rechtsstaat sei und ein unabhängiges Justizsystem habe, welches Statutsverbrechen untersuche und aburteile:
“… the Court should take into account whether the State is committed to the rule of law, whether it has a robust and independent legal system and whether that system is actively examining, investigating and reviewing a wide range of issues and allegations relating to potential violations of international humanitarian law.” (para. 9).
2. Ferner sei ein Staat mit größerer Nachsicht zu behandeln, der sich gerade in einem bewaffneten Konflikt befinde:
“… where a State – such as Israel – is subject to an ongoing armed attack and faces serious threats from additional actors, this State should be given an appropriate and genuine opportunity to put its accountability mechanisms into action before the Prosecutor may request warrants for arrest under Article 58 of the Statute.“ (para. 10).
3. Bei Anwendung des Komplementaritätsprinzips müsse – im Sinne der vorrangigen Verfolgungs- und Aburteilungszuständigkeit des Territorialstaats – sichergestellt werden, dass dieser Staat eine angemessene und echte Gelegenheit erhalte, seine nationalen Ermittlungs- und Rechtschutzmechanismen zu präsentieren, und zwar insbesondere dann, wenn er, wie Israel, seine Bereitschaft zur Kooperation mit dem IStGH deutlich gemacht habe:
„In other words, where a State is willing to cooperate with the Prosecutor in a given situation – and it is our understanding that Israel had indicated willingness to do so in the situation at hand – Article 17 should be interpreted, based on the principle of good faith, as required under Article 31(1) of the Vienna Convention on the Law of Treaties, with a view to ensuring that this State receives an appropriate and genuine opportunity to present its domestic investigation and legal review mechanisms with regard to the allegations at hand.“ (para. 12)
4. Der den Komplementaritätmechanismus für Situationen, also einen raumzeitlich definierten makrokriminellen Kontext völkerrechtlicher Verbrechen (näher unten 4.), regelnde Art. 18 (im Gegensatz zu dem konkreten Fällen betreffenden Art. 19) müsse in einem materiellen Sinne („in a substantive sense“) dahingehend ausgelegt werden, dass ein Staat bei einer grundlegenden Änderung einer tatsächlichen Situation, die neue Ermittlungen („new investigation“) erforderlich machten (wie aufgrund des Hamas-Angriffs vom 7.10.2023), eine erneute bzw. zweite Gelegenheit erhalten müsse, den Komplementaritätseinwand geltend zu machen:
„When an initial investigation is subject to significant change over time due to a fundamental change in the factual situation – thus making it, in substance, a new investigation – the State concerned should anew be given an appropriate and genuine opportunity to inform the Court about its accountability mechanisms. With regard to the Situation in Palestine … Germany is of the view that the attack by Hamas brought about such a fundamental change in the situation that a new notification was required which would have given the State concerned the procedural opportunity to request that the Prosecutor defer to the State’s investigation.“ (para. 14)
Kritische Würdigung
Bevor auf die vier von Deutschland vorgebrachten Argumente eingegangen wird, sollte daran erinnert werden, dass eine Vorverfahrenskammer, wie bereits oben erwähnt, grundsätzlich berechtigt ist, Komplementaritätsfragen im Haftbefehlsverfahren von Amts wegen zu prüfen, sie verfügt insoweit jedoch nur über einen begrenzten Ermessensspielraum. Wie die Berufungskammer in der Situation Demokratische Republik Kongo (‘DRK‘) bereits 2006 festgestellt hat (para. 52):
“… the Pre-Trial Chamber should exercise its discretion only when it is appropriate in the circumstances of the case … Such circumstances may include instances where a case is based on the established jurisprudence of the Court, uncontested facts that render a case clearly inadmissible or an ostensible cause impelling the exercise of proprio motu review.”
Das deutsche Vorbringen stützt sich auf keinen der genannten Umstände („circumstances“).
1. Das Rechtsstaatsargument
Deutschland bringt zu Recht nicht vor, dass dieses Argument eine Grundlage in Art. 17 hat. Denn der Komplementaritätsgrundsatz ist neutral gegenüber dem politischen System (demokratisch oder nicht) des jeweiligen Staates und dessen rechtsstaatlichen Qualitäten oder Defiziten. Es geht ausschließlich oder zumindest primär um die Pflicht und die Bereitschaft/Fähigkeit („willingness“/„ability“) der Staaten, die Verantwortlichen völkerrechtlicher Verbrechen durch Ermittlungen, Strafverfolgung und Aburteilung zur Rechenschaft zu ziehen (Art. 17 Abs. 1 lit. a-c)). Der Verweis auf „due process“ in Art. 17 Abs. 2 ist daher nicht als Erfordernis eines fairen Verfahrens im engeren Sinne zu verstehen, sondern als Ausdruck der Ernsthaftigkeit des jeweiligen Staates, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Während der Gerichtshof die Qualität eines nationalen Kriminaljustizsystems im Rahmen des Unwilligkeitstests (Art. 17 Abs. 2) unter Berücksichtigung menschenrechtlicher Standards (vgl. auch Art. 21 Abs. 3) zu beurteilen hat, ist ein möglicher Fairnessverstoß nicht ausschlaggebend für die Zulässigkeitsfrage im Rahmen der Komplementaritätsprüfung (Schabas/El Zeidy, in Ambos, ICC Commentary 2022, Art. 17 Rn. 75). Kurzum, im Rahmen von Art. 17 geht es primär um die Zulässigkeit eines IStGH-Verfahrens, nicht um die Fairness des (innerstaatlichen) Verfahrens (Ambos, Treatise ICL III 2016, 313).
Sicherlich kann ein (von Deutschland in Bezug genommenes) „robustes und unabhängiges Rechtssystem“ als Voraussetzung für wirksame strafrechtliche Ermittlungen angesehen werden, aber seine bloße Existenz reicht nicht aus, um den Verpflichtungen aus dem Komplementaritätsprinzip gerecht zu werden. Vielmehr muss der betreffende Staat nachweisen, worauf Deutschland zutreffend hinweist (para. 9), dass dieses „System ein breites Spektrum von Vorwürfen und Anschuldigungen im Zusammenhang mit möglichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts aktiv prüft, untersucht und überprüft.“ Eine generelle Bevorzugung rechtstaatlich entwickelter Rechtssysteme würde diese Systeme gegenüber weniger stabilen und/oder weniger demokratischen Systemen, die dennoch den Komplementaritätsanforderungen gerecht werden können, ungerechtfertigt privilegieren. Israel verfügt zwar grundsätzlich und trotz der Gegenreformbemühungen der aktuellen Regierung über ein unabhängiges Justizsystem (vgl. allgemein Israel Bar Association, para. 2, 4 ff.; spezifischer Centre for Israel and Jewish Affairs, para. 22; Cohen/Shany) und, was in diesem Zusammenhang vielleicht noch wichtiger ist, über ein solides Militärjustizsystem (vgl. NATO High Level Military Group [HLMG], para. 25 ff.)6), doch lautet die entscheidende Frage im Rahmen der Komplementarität, insbesondere in der fallbezogenen Phase des Haftbefehlsverfahrens, ob das betreffende Justizsystem das inkriminierte Verhalten konkret (personen- und tatbezogen) untersucht. Wir werden darauf unten zurückkommen (3.).
2. Das Argument des bewaffneten Konflikts
Dieses Argument wurde auch von der schon erwähnten HLMG7) und von der DRK8) vorgebracht. In anderen Situationen, in denen (nicht-internationale) bewaffnete Konflikte stattfinden (auch in der DRK!), kam es jedoch nicht zur Sprache. Die offensichtlichste Situation ist wohl der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, wo das Argument weder vom Angreifer- noch vom Opferstaat angeführt wurde. Auch Israel selbst argumentiert nicht, dass es im Hinblick auf seine kriegs- oder völker(straf)rechtlichen Verpflichtungen untätig bleibt. Im IGH-Verfahren Südafrika gegen Israel ist Israel aktiv beteiligt und hat mehrfach erklärt, dass es „Schritte unternimmt, um zu versuchen, mit der massiven Komplexität, die eine solche Situation [Gaza] darstellt, fertig zu werden.“ (siehe hier, para. 19)9). In Bezug auf das IStGH-Verfahren zeigte sich Israel sehr überrascht über den Haftbefehlsantrag, denn es kooperiere aktiv mit der Anklagebehörde (Cohen/Shany). Die israelische Anwaltskammer erwähnt in ihrer amicus curiae Stellungnahme (para. 26) ausdrücklich, dass „bedeutende Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen werden, während sich Israel weiterhin im Kriegszustand befindet“10) (ähnlich Rubinstein et al., para. 12; Touro Institute, para. 28).
Wie dem auch sei, während viel dafür spricht, den spezifischen Kontext einer bestimmten Situation zu berücksichtigen, gibt es schlicht keine Rechtsgrundlage für eine vollständige Suspendierung der staatlichen Ermittlungs-/Verfolgungspflicht und des Komplementaritätsverfahrens während eines bewaffneten Konflikts. Eine solche Ausnahme wäre auch grundsätzlich unvereinbar mit dem Gedanken der Präventivwirkung völkerstrafrechtlicher Ermittlungen. Es sei nur daran erinnert, dass das UN-Jugoslawientribunal während eines laufenden Konflikts in der Überzeugung gegründet wurde, dass seine Einrichtung „dazu beitragen wird, sicherzustellen, dass solchen Verletzungen [Kriegsverbrechen etc.] Einhalt geboten und wirksam Abhilfe geschaffen wird.“11) (S/RES 827 (1993), Präambel). Mit anderen Worten: Die Anerkennung der Tatsache, dass ein bewaffneter Konflikt die Arbeit der Strafjustiz (und vieler anderer staatlicher Dienste) vor besondere Herausforderungen stellt, bedeutet nicht, dass diese Dienste gänzlich ausgesetzt sind oder werden sollten.
3. Vorrangige Zuständigkeit des Territorialstaats bei grundsätzlicher Kooperationsbereitschaft
Dieses Argument besteht eigentlich aus zwei Unterargumenten. Das allgemeine Unterargument besagt, dass sich aus dem allgemeinen Vorrang der nationalen Gerichtsbarkeit im Rahmen des Komplementaritätsregimes ergebe, dass einem Staat, der „Bereitschaft“ zur Zusammenarbeit „bekundet“ („indicated willingness“, para. 12), eine gewisse Achtung entgegengebracht werden müsse, d.h. dass „dieser Staat eine angemessene und echte Gelegenheit erhält“ (para. 12), seine Ermittlungstätigkeit darzulegen. Diese These findet grundsätzlich Unterstützung in der neuen Politik der Anklagebehörde zur Komplementarität („Policy on Complementarity and Cooperation”), die die Rolle der Staaten bei der Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und die Bedeutung einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Anklagebehörde betont (für eine gute Diskussion jüngst Labuda). Als eine Art Mindeststandard eines solchen kooperativen Komplementaritätsmodells – das, nebenbei bemerkt, auf frühere Ideen von „Partnerschaft“ („partnership“), „Wachsamkeit“ („vigilance“) und „positiver Komplementarität“ zurückgeht (hier und Ambos, Treatise ICL III 2016, 327 ff.) – kann man tatsächlich eine Verpflichtung des Anklägers ableiten, den Staaten genügend Zeit zu geben, alle inländischen Ermittlungsoptionen zu prüfen und die spezifischen Umstände zu berücksichtigen, z. B. das Vorhandensein eines bewaffneten Konflikts (in diesem Sinne DRK, para. 16, insgesamt sechs „normes minimales“ zur Komplementarität angebend).
Diese These ist jedoch (zu) allgemein und setzt die Kooperationsbereitschaft des jeweiligen Staates voraus. Tatsächlich ist sie untrennbar mit dem zweiten spezifischeren Unterargument verbunden, nämlich dass „Israel Bereitschaft zur Zusammenarbeit gezeigt“ habe (para. 12). In diesem Sinne bestätigt die israelische Anwaltskammer, dass die israelischen Strafverfolgungsbehörden ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit nichtisraelischen Behörden gezeigt haben (para. 27). Da jede Zusammenarbeit in diesem Verfahrensstadium vertraulich ist, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, diese Behauptung zu überprüfen. Es gibt Gerüchte, dass die israelische Generalstaatsanwaltschaft in engem Kontakt mit der Anklagebehörde stand, um Informationen über die verschiedenen inländischen Ermittlungen auszutauschen, und dass für den Tag, an dem der Haftbefehlsantrag gestellt wurde, ein offizieller Besuch der Anklagebehörde geplant war (Touro Institute, para. 27). Darüber hinaus behaupten die USA (para. 9, 16), dass Israel ein formelles Schreiben mit der Bitte um Zurückstellung der Ermittlungen („deferral“) eingereicht habe, dass dieses jedoch von der Anklagebehörde ignoriert worden sei. Wenn ein solches formelles Ersuchen tatsächlich existiert (und wenn man das Argument einer neuen Situation, dazu sogleich unten 4., akzeptiert), wäre die Anklagebehörde verpflichtet gewesen, ihre Ermittlungen zugunsten der israelischen Ermittlungen zurückzustellen (“defer to the State’s investigation”) und eine Genehmigung der Vorverfahrenskammer zur Fortsetzung ihrer Ermittlungen einzuholen (Art. 18 Abs. 2; auch USA, para. 25). Der Autor hat das israelische Ersuchen nicht gesehen, aber Personen, die es gesehen haben, bezeichnen es als (zu) allgemeine Standardformulierung nach dem Motto: „Bitte stellen Sie ihre Ermittlungen zurück, weil wir eine funktionierende Justiz haben.“ Nach Aussage derselben Personen wird in dem Ersuchen weder Art. 18 zitiert noch werden bestimmten Ermittlungen oder konkrete Verdächtige erwähnt. Wenn das zutrifft, würde das Ersuchen nicht den Anforderungen von Art. 18 Abs. 2 entsprechen, denn dieser verlangt, dass der Staat den Gerichtshof ganz konkret und präzise darüber informiert, „dass er gegen seine Staatsangehörigen oder andere Personen unter seiner Hoheitsgewalt in Bezug auf Straftaten ermittelt oder ermittelt hat, die möglicherweise den Tatbestand der in Art. 5 bezeichneten Verbrechen erfüllen und die mit den Informationen in Zusammenhang stehen, welche in der an die Staaten gerichteten Benachrichtigung enthalten sind.“
Dies bringt uns zur Pflicht des den Komplementaritätseinwand geltend machenden Staates, konkrete Informationen zu den in einer bestimmten Situation durchgeführten Ermittlungen zu liefern (im Allgemeinen zur staatlichen Beweislast Kenya Appeal Judgment, para. 62); diese Pflicht darf nicht (wie offenbar von Deutschland) mit der allgemeinen Kooperationsbereitschaft eines Staates und/oder unspezifischen Versprechen zur Ermittlung/Strafverfolgung verwechselt werden. Im Einklang mit der zweistufigen Prüfung des IStGH (hier para. 147 ff., Ambos, Treatise ICL III 2016, 296) muss die Anklagebehörde nur dann ihre Ermittlungen zugunsten nationaler Ermittlungen zurückstellen (zweite Stufe), wenn (erste Stufe) überhaupt eine Ermittlungstätigkeit seitens des jeweiligen Staates vorliegt (entsprechend Art. 17 Abs. 1 lit. (a)-(c)), es sei denn, die Ausnahme der mangelnden Bereitschaft/Unfähigkeit (Art. 17 Abs. 2, 3) greift ein (Teil der zweiten Stufe). Sobald die Ermittlungen vom Stadium der Situation („situation“) zu einem konkreten Fall („case“) fortgeschritten sind – wie insbesondere im Rahmen eines Haftbefehlsverfahrens –, gilt das Kriterium „derselben Person/desselben Verhalten“ („same person“/“same conduct“), d. h. „die nationalen Ermittlungen müssen dieselben Person und im Wesentlichen dasselbe Verhalten wie vor dem IStGH umfassen“12) (Kenya Appeal Judgment, para. 40; kritisch DRK, para. 17 ff.). Während das Kriterium „derselben Person“ relativ klar ist, erweist sich das „desselben Verhaltens“ als komplexer, wird dabei doch auf konkrete Vorfälle abgestellt, die die von der Anklagebehörde untersuchten Vorfälle „hinreichend widerspiegeln“ („sufficiently mirror“) oder sich mit ihnen „überschneiden“ („overlap“) müssen (Gaddafi Appeal Judgment, para. 72, 73; Bestätigung des „mirroring“-Tests jüngst in Venezuela I Appeal Judgment, para. 10, 255 und passim). Mit anderen Worten müsste Israel nachweisen, dass es gegen Premierminister Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant (dieselben Personen) wegen der in den Haftbefehlsanträgen dargelegten Vorwürfe (dasselbe Verhalten) ermittelt, d.h. insbesondere wegen des Kriegsverbrechens des Aushungerns einer Zivilbevölkerung (Art. 8 Abs. 2 lit. b (xxv)).
Um der Ermittlungspflicht nachzukommen, reicht die bloße Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens nicht aus, sondern es müssen konkrete Schritte unternommen werden, um die Ermittlungen voranzutreiben (Kenya Appeal Judgment, para. 4013); s. auch Heller)14). Die Kernfrage ist also, ob es vorstellbar ist, dass Israel Ermittlungen wegen einer von seiner Führung ausgehenden Politik des Aushungerns in Gaza einleitet? Zwar könnte es zu solchen Ermittlungen kommen (siehe z. B. DRK, para. 21), doch ist dies angesichts der schlechten Erfolgsbilanz Israels bei der Ermittlung und Verfolgung von Verbrechen an Palästinensern (krit. hier, hier und hier; auch Chile/Mexiko, para. 34)15) und der derzeitigen Durchsetzungsprobleme im Hinblick auf Ermittlungen wegen mutmaßlicher Folter palästinensischer Gefangener sehr unwahrscheinlich. Nur nebenbei sei bemerkt, dass dies Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit („ability“) Israels im Sinne von Art. 17 Abs. 3 aufwirft: Wenn Israel aufgrund rechtsgerichteter Proteste nicht in der Lage ist, Foltervorwürfe angemessen zu untersuchen, könnte dies einem „Zusammenbruch oder der Nichtverfügbarkeit seines nationalen Justizsystems“ (“collapse or unavailability of its national justice system”) gleichkommen (vgl. Ambos, Treatise ICL III 2016, 317 ff.; die Fähigkeit aus militärischer Sicht jedoch bejahend HLMG, para. 28)16).
Möglicherweise kann Israel alternative Ermittlungsmechanismen einsetzen, die hinter strafrechtlichen Ermittlungen im engeren Sinne zurückbleiben, z.B. eine Untersuchungskommission („commission of inquiry“),17) aber dann stellt sich die Frage, ob solche Mechanismen die Anforderungen des Art. 17 Abs. 1 erfüllen. Dies ist nicht gänzlich unvertretbar (dafür Cohen/Shany), solche alternativen Mechanismen müssen aber jedenfalls immer auf die Ermöglichung bzw. Vorbereitung einer echten Strafverfolgung gerichtet sein (s. Ambos, Treatise ICL III 2016, 303-4; ebenso Cohen/Shany)18). Aus diesem Grund erfüllen auch reine verwaltungs- oder verfassungsgerichtliche Verfahren, wie die an den Obersten Gerichtshof gerichtete Beschwerde zivilgesellschaftlicher Organisationen wegen der humanitären Lage in Gaza (Israel Bar Association, para. 29 ff.), nicht die Komplementaritätsanforderungen.
4. Grundlegende Änderung der ursprünglichen „Situation“ im Rahmen von Artikel 18
Wie oben dargelegt argumentiert Deutschland, dass eine grundlegende Änderung der ursprünglichen Situation, wie sie durch den Angriff des 7. Oktober herbeigeführt worden sei, eine erneute förmliche Benachrichtigung des Anklägers an die zuständigen Staaten erforderlich mache. Bisher hat die Rechtsprechung und Praxis des IStGH den Begriff „Situation“ in Art. 18 allerdings weit ausgelegt. Der Begriff wird ursprünglich in Art. 14 erwähnt, aber nirgends im Statut definiert. Er bezieht sich auf „eine Beschreibung von Tatsachen, raumzeitlich definiert, die die zum jeweiligen Zeitpunkt vorherrschenden Umstände umschreiben (‚Konfliktszenario‘) …“19) (Chaitidou, in Ambos, ICC Commentary 2022, Art. 14 Rn. 29). Der Gerichtshof definierte den Begriff unter Bezugnahme auf die „territorialen, zeitlichen und möglicherweise persönlichen Parameter“ (ebd. Rn. 31 mit Nachweisen in Fn. 119). Die Rechtsprechung zur „situativen Verknüpfung“ („situational linkage“), die auf die behauptete Verknüpfung neuer Verbrechen mit einer „Krisensituation“ („situation of crisis“) abstellt (ebd. Rn. 37 f.), hat den Situationsbegriff sogar noch erweitert. Infolgedessen hat die Anklagebehörde nur ausnahmsweise neue Situationen eröffnet, wenn bereits eine Situation bezüglich des betreffenden Gebiets existierte. Selbst die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 hat nicht zur Eröffnung einer neuen Situation geführt, sondern die Anklagebehörde hat ihre (neuen) Ermittlungen vom März 2022 auf die ursprüngliche Situation vom 21.11.2013 zurückgeführt (hier). Bisher hat die Anklagebehörde nur in zwei Situationen eine neue, zweite Situation eröffnet, nämlich in Bezug auf die Zentralafrikanische Republik (CAR II) und Venezuela (Venezuela II). Im ersten Fall sah die damalige Anklägerin Fatouh Bensouda einen relevanten Unterschied zu CAR I „sowohl im Hinblick auf die beteiligten bewaffneten Gruppen als auch auf den politischen Kontext der Ereignisse“20) (hier, para. 9). In Bezug auf Venezuela ist der Unterschied zwischen den beiden Situationen insofern grundlegend, als sich Venezuela I auf mutmaßliche Verbrechen der Maduro-Regierung bezieht, während Venezuela II sich auf mutmaßliche Verbrechen der USA gegen diese Regierung bezieht.
Was folgt daraus nun für die Palästina Situation und die (förmlichen) Ermittlungen?21) Diese wurden im März 2021 eingeleitet und die betreffenden Staaten benachrichtigt (hier). Die einmonatige Frist (Art. 18 Abs. 2) verstrich, ohne dass Israel oder ein anderer Staat einen Komplementaritätseinwand erhoben hätte. Ist es nun möglich, den Hamas-Angriff vom 7. Oktober als neue Palästina-Situation zu klassifizieren? Stellt er „eine grundlegende Änderung der tatsächlichen Situation“ (“a fundamental change in the factual situation”) dar, wie von Deutschland vorgebracht (para. 14), und würde dies die Eröffnung einer neuen Situation rechtfertigen oder sogar erfordern? Die ursprünglichen (Vor-)Ermittlungen umfassten mutmaßlich seit dem 13.6.2014 in Palästina, d.h. im Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem) und im Gazastreifen, begangene Statutsverbrechen. Am 20.12.2019 kam die damalige Anklägerin Bensouda auf der Grundlage ihrer Vorermittlungen („preliminary examination“) zu dem Schluss, dass es einen vernünftigen Grund für die Annahme gebe, dass in Palästina Kriegsverbrechen begangen wurden (s. hier). Bensouda bezog sich insbesondere auf mögliche Kriegsverbrechen der Israelischen Streitkräfte („Israel Defence Forces“, ‘IDF‘) im Zusammenhang mit den Feindseligkeiten im Gazastreifen 2014, den Demonstrationen am Grenzzaun des Gazastreifens 2018 und der Besatzung des Westjordanlands (para. 2, 4, 5). Sie bezog sich auch auf Kriegsverbrechen, die von der Hamas und anderen palästinensischen bewaffneten Gruppen begangen wurden (para. 3). Sie betonte, dass die aufgeführten Taten „nur illustrativer Natur“ (“illustrative only”) seien (para. 9).
Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum vertretbar, dass das Attentat vom 7. Oktober eine so grundlegende Änderung bewirkt hat, dass eine neue Situation im Sinne von Art. 18 eröffnet werden musste. Die Ermittlungen nach dem 7. Oktober betreffen immer noch dieselben Parteien, nämlich die Hamas/andere bewaffnete Gruppen und die IDF. Auch wenn die Art des Hamas-Angriffs in Bezug auf Umfang und Auswirkungen sicherlich anders war als frühere Angriffe, handelte es sich immer noch um einen Angriff, der sich gegen denselben Gegner (israelische Zivilisten und Kombattanten), dieselben Objekte (zivile und militärische) und dasselbe Gebiet (israelisches Kerngebiet) richtete; ebenso entspricht die israelische Reaktion strukturell, auch wenn sie viel länger und intensiver ausfällt, früheren Reaktionen auf Hamas-Raketenbeschuss. So gesehen hat sich die ursprüngliche „Situation Palästina“ nicht verändert, zumindest nicht in Bezug auf die relevante „Krisensituation“, die zu möglichen Statutsverbrechen führt (für eine andere, möglicherweise die deutsche Position inspirierende Sichtweise, Shany/Cohen hier und hier, para. 2422); ähnlich USA, para. 16 ff.23); Rubinstein et al., para. 11 ff.; The Hague Initiative for International Cooperation, para. 30 ff.; ähnlich DRK, para. 16, 20 ff., 33; nachdrücklicher noch Touro Institute, para. 26 ff.24) und Centre for Israel and Jewish Affairs25), para. 14 ff.). Nur nebenbei sei noch Folgendes angemerkt: Würde die Vorverfahrenskammer das Argument der „grundlegenden Änderung“ akzeptieren und deshalb die Eröffnung einer neuen „Situation“ für erforderlich halten, müsste wohl auch die „Situation Ukraine“ neu bewertet werden. Denn wenn ein Angriff eines nichtstaatlichen Akteurs wie der vom 7. Oktober eine neue Situation herbeiführt, dann erst recht eine vollwertige militärische Invasion durch einen Staat.
Während das Argument der „grundlegenden Änderung“ materieller Natur ist, ist die Bezugnahme auf die (kollektiven) Staatenüberweisungen (Art. 13 lit. a, 14) vom 17.11.2023 und 18.1.2024 zur Begründung einer erneuten förmlichen Benachrichtigung durch den Ankläger (so USA, para. 22 und DRK, para. 28 ff.) eher formaler oder verfahrensrechtlicher Art. Auf den ersten Blick scheint Art. 18 Abs. 1 diese Ansicht zu stützen, da er den Ankläger verpflichtet, „alle Vertragsstaaten und diejenigen Staaten, die … im Regelfall die Gerichtsbarkeit über die betreffenden Verbrechen ausüben würden“, zu benachrichtigen, wenn eine Situation von einem oder mehreren Vertragsstaaten an den Ankläger überwiesen wurde. Es ist jedoch fraglich, ob jede Überweisung durch einen Staat die Benachrichtigungspflicht auslöst – im Sinne eines „Artikel 18-Dialogs durch eine förmliche und hinreichend detaillierte Mitteilung an die betroffenen Staaten“ mit Blick auf die einmonatige Antwortfrist nach Art. 18 Abs. 2 (so USA, para. 22) – oder ob eine solche Benachrichtigungspflicht nur dann entsteht, wenn ein Staat eine völlig neue Situation oder zumindest eine Situation überweist, die eine grundlegende Änderung einer bereits bestehenden Situation herbeiführt. Das Beispiel der (zweiten) DRK-Selbstüberweisung vom Mai 2023 spricht – entgegen der Einlassung der DRK (para. 30) – eher für letztere Auffassung, da der Ankläger damals gerade nicht die Staaten, sondern nur den IStGH-Präsidenten benachrichtigt hat. Auch die bisher historisch einmaligen kollektiven Staatsüberweisungen ab dem 1.3.2022 in der „Situation Ukraine“ haben am Fortbestehen der (ursprünglichen) Situation nichts geändert.
Eine letzte Überlegung zum Verhältnis zwischen Art. 18 und 19. Unabhängig von einer möglichen „zweiten Chance“ im Rahmen von Art. 18 Abs. 2 befinden wir uns im Haftbefehlsverfahren im (fortgeschrittenen) Verfahrensstadium eines oder mehrerer Fälle („case/s“) gegen einen oder mehrere Verdächtige, so dass Art. 19 Anwendung findet. Die Zulässigkeit des Verfahrens vor dem IStGH kann dann immer noch angefochten werden, entweder durch den Verdächtigen/Beschuldigten (Art. 19 Abs. 2 lit. a) oder durch einen betroffenen Staat (Art. 19 Abs. 2 lit. b und c). Die hier grundsätzlich befürwortete restriktive Auslegung von Art. 18 (Abs. 2) schränkt also keineswegs das Recht des Verdächtigen/Staates ein, die Zulässigkeit im späteren Verfahrensstadium des konkreten Falles anzufechten, und dieses Recht besteht mindestens bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens (Art. 19 Abs. 4).
Dieser Beitrag erschien im englischen Original (ohne Fußnoten) auf EJIL:Talk!. Ich danke zahlreichen Kollegen für wertvolle Hinweise.
References
↑1 | Und zwar gegen Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyeh, wobei die letzten beiden inzwischen tot sind, weshalb der erste – als Nachfolger von Haniyeh – zum Vorsitzenden des Politbüros der Hamas wurde. |
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↑2 | Nicht benannte Vorschriften sind solche des IStGH-Statuts. |
↑3 | Die Beiträge dazu sind Legion, s. nur Wiener und Neumann auf diesem Blog. |
↑4 | Ich zitiere die amtliche deutsche Fassung des IStGHS (BGBl. II 2000, 1393), die allerdings keine authentische Fassung darstellt; für die authentischen Sprachfassungen s. hier. |
↑5 | Der Fall des ehem. sudanesischen Präsidenten Omar Al-Bashir, bei dem der Zeitraum acht Monate betrug (zum Haftbefehlsantrag hier, zum Erlass hier), stellt insoweit die Ausnahme von der Regel dar. |
↑6 | Zusammenfassend para. 25: „… IDF military justice and accountability mechanism … consistent with the highest standards of our own armed forces.“ |
↑7 | HLMG, para. 24: “unrealistic to expect such action during the midst of a military campaign of this magnitude …”. |
↑8 | DRK, para. 22: unter Berufung auf, ähnlich wie Deutschland, eine „considération substantielle“, insbesondere im Hinblick auf einen „état d’hostilités“ (Feindseligkeiten). |
↑9 | Original, para. 19: “is taking steps to try and contend with the massive complexity that such a situation presents.” |
↑10 | Original: “significant law enforcement actions are taken while Israel remains in a state of war.” |
↑11 | Original: “will contribute to ensuring that such violations are halted and effectively redressed.” |
↑12 | Original, para. 40: “the national investigation must cover the same individual and substantially the same conduct as alleged in the proceedings before the Court.” |
↑13 | Kenya Appeal Judgment, para. 40: „tatsächlich durchgeführte Ermittlungen“ (“investigative steps … actually taken”). |
↑14 | Heller: „‘greifbare, konkrete und fortschreitende‘ Ermittlungsschritte, die auf eine eventuelle Strafverfolgung abzielen“ (“‘tangible, concrete and progressive’ investigative steps aimed at eventual prosecution”). |
↑15 | Chile/Mexiko, para. 34: „Keine Informationen, dass … Israel eine Strafverfolgung eingeleitet hat …“ (“no information that … Israel has started any prosecution …”). |
↑16 | HLMG, para. 28: „Wir glauben nicht, dass es eine glaubwürdige Grundlage für die Schlussfolgerung gibt, dass Israel die Fähigkeit oder der Wille fehlt, nationale Ermittlungs- und Gerichtsverfahren durchzuführen, die mit denen anderer Länder und ihrer Militärs vergleichbar sind.“ (“We do not believe there is a credible basis to conclude Israel lacks the ability or will to implement national investigatory and judicial processes that are comparable to other countries and their militaries.”). |
↑17 | Zur Aktivierung der „International Fact-Finding Commission“ gemäß Art. 90 Erstes Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen hinsichtlich des israelischen Angriffs auf ein Fahrzeug der humanitären Organisation „World Central Kitchen“ am 1.4.2024 s. Schmadl. |
↑18 | Cohen/Shany: Untersuchungskommission „sollte ausdrücklich befugt sein …, der staatlichen Anklagebehörde Empfehlungen zu den erforderlichen Folgemaßnahmen zu geben, um die potenzielle strafrechtliche Verantwortung bestimmter Verdächtiger festzustellen.“ (Commission of Inquiry „should be explicitly authorized … to make recommendations to the state prosecution regarding follow-up action required in order to establish the potential criminal responsibility of specific suspects.”). |
↑19 | Original: “a description of facts, defined by space and time, which circumscribe the prevailing circumstances at the time (‘conflict scenario’) …”. |
↑20 | Original: “both with regard to the armed groups involved, and the political context of the events.” |
↑21 | Zur Abgrenzung zwischen den Vorermittlungen („preliminary examination“) und den förmlichen Ermittlungen („investigation“) s. Ambos, Treatise ICL III 2016, 335 ff. sowie Ambos, Internationales Strafrecht 2018, S. 343 ff. |
↑22 | Shany/Cohen, para. 24: „major differences between the factual patterns and categories of suspects“. |
↑23 | USA, z.B. para. 19: “entirely new focus”. |
↑24 | Touro Institute, para. 26 ff. (Überschrift): „violates the principle of complementarity“. |
↑25 | Centre for Israel and Jewish Affairs, para. 14 ff.: „pre-emptive, preclusive, and prejudicial nature of the process“ (para. 14), „entirely new set of allegations“ (para. 27). Neue Tatvorwürfe reichen aber sicherlich nicht aus, sie bleiben ja noch hinter dem Erfordernis einer „grundlegenden Änderung der tatsächlichen Situation“ zurück. |