19 August 2024

Staatsräson vor Völker(straf)recht?

Komplementarität und die deutsche Stellungnahme im IStGH-Haftbefehlsverfahren Palästina/Israel

Am 20.5.2024 hat Karim A.A. Khan, der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant sowie drei Hamas-Führungsfiguren1) in der Palästina-Situation („Situation in the State of Palestine“) beantragt (dazu Bock). Zahlreiche Staaten, Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen beteiligen sich an dem nun bei der Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber, ‘PTC‘) I anhängigen Haftbefehlsverfahren durch amicus curiae Stellungnahmen (s. hier). In der deutschen Stellungnahme, die am 9.8.2024 veröffentlicht wurde, werden ausschließlich Komplementaritätseinwände geltend gemacht. Der sog. Komplementaritätsgrundsatz regelt in Art. 17-19 IStGH-Statut (‘IStGHS‘)2) das Verhältnis des IStGH zu nationalen Kriminaljustizsystemen, wobei diesen grundsätzlich Vorrang vor dem IStGH eingeräumt wird (näher Ambos, Treatise International Criminal Law [ICL] III 2016, S. 266 ff.; ders. Internationales Strafrecht 2018, S. 335 ff.).

Im Folgenden werde ich zunächst mit der mangelnden Transparenz des amicus curiae Verfahrens beginnen. Danach werde ich einige verfahrensrechtliche Überlegungen anstellen, bevor ich auf die von Deutschland vorgebrachten Komplementaritätseinwände eingehe. Nach einer Zusammenfassung des deutschen Standpunkts werde ich diesen einer kritischen Bewertung unter Berücksichtigung anderer relevanter Stellungnahmen unterziehen. Insgesamt lässt sich sagen, dass Deutschland zwar einige interessante und bedenkenswerte Argumente vorbringt, die deutsche Stellungnahme sich auf grundsätzlicher Ebene aber auf der Linie der im Zusammenhang mit Israel allenthalben angeführten Staatsräson3) bewegt. So zeigt sich auch hier eine starke, fast bedingungslose Unterstützung Israels, die einem Primat der Politik über das Recht nahekommt und eine Israel meistbegünstigende Auslegung des Völker(straf)rechts zur Folge hat.

Mangelnde Transparenz

Die gängige Praxis beim IStGH ist es, amicus curiae Stellungnahmen – wie grundsätzlich alle Einlassungen im Sinne des Öffentlichkeitsgrundsatzes – sofort auf der Gerichtswebsite zu veröffentlichen, insbesondere wenn sie, wie hier, nur Rechtsfragen behandeln. Ungeachtet dessen hat PTC I zunächst alle Stellungahmen („filings“) in diesem Verfahren als geheim eingestuft (siehe UK Request for Leave, para. 29), was das Vereinigte Königreich zu Recht als unnötig kritisiert und deshalb eine Umklassifizierung als öffentlich beantragt hat (ebd.). PTC I hat diesem Antrag stattgegeben (hier, para. 7) und später entschieden, dass die eigentlichen amicus curiae Stellungnahmen („observations“) öffentlich eingereicht werden müssen (hier, Verfügung). Damit hat die Vorverfahrenskammer zunächst zwischen den Anträgen auf Zulassung („requests for leave“), die es als geheim eingestuft hat, und den eigentlichen amicus curiae Stellungnahmen, die von Anfang an öffentlich eingereicht werden mussten, unterschieden. Dieser Mangel an Transparenz und Inkonsistenz erscheint seltsam und bedarf einer Erklärung. Es ist zu hoffen, dass die Kammer alle Zulassungsanträge so bald wie möglich als öffentlich einstuft.

Deutschland hat seine ursprüngliche amicus curiae Stellungnahme, wie aus dem Titel hervorgeht, als „öffentlich“ mit Datum vom 6.8.2024 eingereicht, sie ist am nächsten Tag beim Gerichtshof eingegangen (siehe oben rechts auf jeder Seite der Stellungnahme) und war dann am 9.8. auf der Website abrufbar. Spekulationen über den Inhalt der Stellungnahme waren seit Mitte Juli im Umlauf (siehe hier und Talmon), aber das Auswärtige Amt hat die interessierte Öffentlichkeit nicht über das beschriebene Verfahren informiert. Es ist auch seltsam, dass die Stellungnahme ohne Angabe der Quelle in den „Court Records“ erscheint – lediglich als „Observations pursuant to Rule 103(1) of the Rules of Procedure and Evidence“; erst durch das Herunterladen der eigentlichen Stellungnahme wird klar, dass es sich um die deutsche handelt. Bei anderen Stellungnahmen erscheint die Quelle normalerweise bereits in der Liste der „Court Records“ (siehe beispielsweise die Stellungnahmen der USA, der Israel Bar Association oder von Adil Ahmad Haque). Schließlich verwundert es auch, dass Deutschland auf der Titelseite von der „Situation in Palestine“ statt (wie noch in der Stellungnahme von 2020) von „Situation in the State of Palestine“ spricht. Soll damit die Nichtanerkennung eines palästinensischen Staates zum Ausdruck gebracht werden?

Verfahrensrechtliche Aspekte

Prozedural „kann“ („may“) eine Kammer eine solche Stellungnahme „in jedem Verfahrensstadium“ (“at any stage of the proceedings”) zulassen, wenn sie dies für „wünschenswert“ („desirable“) zur ordnungsgemäßen Entscheidung des betreffenden Falls („for the proper determination of the case“) hält (Regel 103 Abs. 1 der Verfahrens- und Beweisregeln [Rules of Procedure and Evidence, ‘RPE‘] des IStGH). In unserem Zusammenhang müssen jedoch zwei Einschränkungen berücksichtigt werden. Erstens können Komplementaritätseinwände nach Art. 18 und 19 IStGH-Statut nur von einem Staat erhoben werden, der „normalerweise die Gerichtsbarkeit [„jurisdiction“] ausüben würde“ oder „die Gerichtsbarkeit hat“ (Art. 18 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2 lit. b). Streng genommen hat also nur ein solcher Staat das Recht, auf der Grundlage von Komplementaritätsargumenten zu intervenieren, zumindest wenn er beabsichtigt, die Zulässigkeit des Verfahrens anzufechten (dagegen ließe sich allerdings anführen, dass ein Staat, der eine amicus curiae Stellungnahme einreicht, nicht die Zulässigkeit anfechten, sondern lediglich seine Rechtsansicht darlegen will). Zweitens können Komplementaritätseinwände im Rahmen eines Haftbefehlsverfahrens nur ausnahmsweise geltend gemacht werden. Art. 58 Abs. 1 verlangt, dass „begründeter Verdacht besteht, dass die Person ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen hat“ und dass die Festnahme „notwendig erscheint“.4) Die Komplementarität kommt hier grundsätzlich nicht zum Tragen, kann aber von einer Vorverfahrenskammer von Amts wegen (proprio motu) behandelt werden (für eine gute frühere Diskussion siehe El-Zeidy). Wir werden auf den begrenzten Ermessensspielraum der Vorverfahrenskammer in dieser Hinsicht weiter unten zurückkommen, wenn wir die deutschen Komplementaritätseinwände würdigen.

Vorliegend hat ursprünglich das Vereinigte Königreich (noch unter konservativer Regierung) einen solchen Antrag am 10.6.2024 geheim (!) gestellt (hier die am 27.6.2024 per Kammeranordnung öffentlich gemachte Fassung) und PTC I hat dem Antrag am 27.6.2024 mit Einreichungsfrist zum 12.7.2024 stattgegeben (hier). Damit wurde eine Flut von Stellungnahmen ausgelöst (s. Court Records), wobei sich das Vereinigte Königreich (nun unter einer Labour Regierung) allerdings zwischenzeitlich vom Verfahren zurückgezogen hatte (hier). Da die Kammer den Gegenstand der Stellungnahmen nicht auf die – ursprünglich vom Vereinigten Königreich aufgeworfene – Frage der Gerichtsbarkeit (im Zusammenhang mit den Osloer Friedensverträgen) beschränkt hat, gingen zahlreiche Stellungnahmen darüber hinaus. Auch Deutschland, das seine Zulassung am letzten Tag (!) der o.g. Frist (12.7.2024) beantragte, befasste sich mit der Frage der Zuständigkeit überhaupt nicht (anders als in der schon erwähnten Stellungnahme aus 2020; kritisch Schabas, para. 12 ff.). Die Kammer hat dem deutschen Antrag am 22.7.2024 mit Einreichungsfrist bis zum 6.8.2024 stattgegeben (vgl. Stellungnahme, para. 2 f.). Deutschland hat dann am letzten Tag der Frist (6.8.2024) eingereicht.

Nach der bisherigen Praxis des Gerichtshofs waren im Rahmen eines Haftbefehlsverfahrens keine externen (amicus curiae) Stellungnahmen zulässig (siehe Vasiliev mit Nachweisen; siehe auch hier, para. 6 zur fehlenden Aktivlegitimation [„standing“] des Verdächtigen). Ein wesentlicher Grund dafür ist der ex parte Charakter dieses Verfahrens (siehe z.B. hier, para. 6, 18 und hier, para. 9) und wohl die durch solche Stellungnahmen verursachte Verfahrensverzögerung. Im vorliegenden Fall (kritisch auch Roth und Vasiliev) musste die Kammer nicht nur die Einreichungsfristen für die späteren Zulassungsanträge verlängern (und die meisten Beteiligten haben, wie Deutschland, die gewährte Frist auch ausgeschöpft), sondern auch der Anklagebehörde und Verteidigung Gelegenheit zur Erwiderung geben (Regel 103(2) RPE); dies ist per Anordnung vom 9.8.2024 (para. 7 f.) geschehen und zwar bezüglich der Anklagebehörde mit Frist zum 26.8. (max. 53 Seiten) und bezüglich des IStGH-Verteidigerbüros (Office of the Public Counsel for Defence, OPCD) bis zum 16.8 (max. 10 Seiten). Die Kammer wird damit nun Hunderte Seiten von (weiteren) Stellungnahmen zu verarbeiten haben, was eine weitere Verzögerung bedeutet. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der übliche Zeitraum zwischen dem Antrag und dem Erlass eines Haftbefehls in der Regel mehrere Wochen beträgt, zum Beispiel im Fall von Al-Werfalli etwa zwei Wochen (siehe hier), im Fall von Saif Al-Islam Gaddafi knapp sechs Wochen (hier), im Fall des Rebellenführers Joseph Kony etwa acht Wochen (hier) und im Fall des russischen Präsidenten Putin nur drei Wochen (hier).5)

Die deutschen Komplementaritätseinwände

Im Kern argumentiert die Bundesregierung – unter Berufung auf den das Verhältnis zwischen dem IStGH und nationalen Strafjustizsystemen regelnden Komplementaritätsgrundsatz (Art. 17-19) –, dass Israel die echte Möglichkeit und mehr Zeit gegeben werden müsse, um selbst strafverfolgerisch tätig werden zu können. Im Einzelnen werden vier Argumente vorgebracht.

1. Im Rahmen der Komplementaritätsprüfung müsse berücksichtigt werden, ob der betreffende Staat ein Rechtsstaat sei und ein unabhängiges Justizsystem habe, welches Statutsverbrechen untersuche und aburteile:

“… the Court should take into account whether the State is committed to the rule of law, whether it has a robust and independent legal system and whether that system is actively examining, investigating and reviewing a wide range of issues and allegations relating to potential violations of international humanitarian law.” (para. 9).

2. Ferner sei ein Staat mit größerer Nachsicht zu behandeln, der sich gerade in einem bewaffneten Konflikt befinde:

“… where a State – such as Israel – is subject to an ongoing armed attack and faces serious threats from additional actors, this State should be given an appropriate and genuine opportunity to put its accountability mechanisms into action before the Prosecutor may request warrants for arrest under Article 58 of the Statute.“ (para. 10).

3. Bei Anwendung des Komplementaritätsprinzips müsse – im Sinne der vorrangigen Verfolgungs- und Aburteilungszuständigkeit des Territorialstaats – sichergestellt werden, dass dieser Staat eine angemessene und echte Gelegenheit erhalte, seine nationalen Ermittlungs- und Rechtschutzmechanismen zu präsentieren, und zwar insbesondere dann, wenn er, wie Israel, seine Bereitschaft zur Kooperation mit dem IStGH deutlich gemacht habe:

„In other words, where a State is willing to cooperate with the Prosecutor in a given situation – and it is our understanding that Israel had indicated willingness to do so in the situation at hand – Article 17 should be interpreted, based on the principle of good faith, as required under Article 31(1) of the Vienna Convention on the Law of Treaties, with a view to ensuring that this State receives an appropriate and genuine opportunity to present its domestic investigation and legal review mechanisms with regard to the allegations at hand.“ (para. 12)

4. Der den Komplementaritätmechanismus für Situationen, also einen raumzeitlich definierten makrokriminellen Kontext völkerrechtlicher Verbrechen (näher unten 4.), regelnde Art. 18 (im Gegensatz zu dem konkreten Fällen betreffenden Art. 19) müsse in einem materiellen Sinne („in a substantive sense“) dahingehend ausgelegt werden, dass ein Staat bei einer grundlegenden Änderung einer tatsächlichen Situation, die neue Ermittlungen („new investigation“) erforderlich machten (wie aufgrund des Hamas-Angriffs vom 7.10.2023), eine erneute bzw. zweite Gelegenheit erhalten müsse, den Komplementaritätseinwand geltend zu machen:

„When an initial investigation is subject to significant change over time due to a fundamental change in the factual situation – thus making it, in substance, a new investigation – the State concerned should anew be given an appropriate and genuine opportunity to inform the Court about its accountability mechanisms. With regard to the Situation in Palestine … Germany is of the view that the attack by Hamas brought about such a fundamental change in the situation that a new notification was required which would have given the State concerned the procedural opportunity to request that the Prosecutor defer to the State’s investigation.“ (para. 14)

Kritische Würdigung

Bevor auf die vier von Deutschland vorgebrachten Argumente eingegangen wird, sollte daran erinnert werden, dass eine Vorverfahrenskammer, wie bereits oben erwähnt, grundsätzlich berechtigt ist, Komplementaritätsfragen im Haftbefehlsverfahren von Amts wegen zu prüfen, sie verfügt insoweit jedoch nur über einen begrenzten Ermessensspielraum. Wie die Berufungskammer in der Situation Demokratische Republik Kongo (‘DRK‘) bereits 2006 festgestellt hat (