10 May 2024

An der Grenze ist der Krieg relativ nah

Ein Brief aus Słubfurt

Im letzten Jahr sind wir mit dem Center for Interdisciplinary Labour Law Studies umgezogen – vom Hauptgebäude der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 300 Meter weiter die Große Scharrnstraße hinunter. Dort sind jetzt mehrere Arbeitsplätze in einer Art Coworking-Space untergebracht, mit Sofa und kleiner Fachbibliothek, nebendran Teeküche und oben Dachterrasse. Von hier aus sind es gerade mal 500 Meter bis zur Brücke über die Oder; auf der anderen Seite ist Polen, und so fühlt sich der Krieg in der Ukraine näher an als in Berlin oder an anderen Orten.

Persönliche und fachliche Dimensionen sind dann auch nicht weit. Im vergangenen Jahr war unter anderem Ivan Yatskevych von der Kiyv-Mohyla-Academy hier. Seit dem Umbau unterscheidet sich ja meine Arbeitssituation im Home-Office deutlich von der Arbeitssituation an der Viadrina: Ich treffe tatsächlich Mitarbeiter:innen und Gastwissenschaftler:innen, sobald ich zur Arbeit komme. Ivan und ich haben uns so öfters ausgetauscht, und das Ergebnis ist, dass ich jetzt an einem Antrag für ein gemeinsames Projekt sitze, in dem über das ukrainische Arbeitsrecht nachgedacht und geschrieben werden soll.

Die Situation fühlt sich absurd an; wie plant man für die nächsten beiden Jahre in der Ukraine? Planen wir nächstes Jahr einen Workshop in Kiyv – oder 2026 eine Abschlusstagung in Lviv? Mit Catering und Übernachtung? Wir berechnen die Fahrtkosten für die Reise von Kiyv nach Frankfurt (Oder); also erstmal von Kiyv nach Budapest oder Bukarest? Ich bekomme einen Hauch von Ahnung davon, was es bedeuten muss, jetzt in der Ukraine zu leben und zu arbeiten, einem Land, in dem alles von der Entwicklung des russischen Kriegs abhängt, und eine persönliche Planung praktisch unmöglich ist. Viele Ukrainer:innen studieren oder arbeiten jetzt in Frankfurt und an der Viadrina. Die BWL-Studentin Olha Krahel von der Kyiv Mohyla Academy zum Beispiel ist für eine Austauschstudium hier; ihre Ausstellung “Unissued Diplomas“, die gerade an der Viadrina zu sehen ist, porträtiert 40 junge Menschen, die in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine gestorben sind, bevor sie ihr Studium abgeschlossen hatten.

Anfangs habe ich eine Weile gebraucht, um zu verstehen, warum Ivan immer vom „full-scale“ russischem Angriff spricht, wenn er die Invasion vor zwei Jahren meint. Denn der russische Angriff hatte ja schon 2014 begonnen, die Hölle war da schon ausgebrochen. Immerhin haben dies viele hier jetzt realisiert, und unsere Verortung an der Grenze war da hilfreich. Nach dem 24. Februar 2022 war die Stadtgesellschaft auf beiden Seiten der Oder jedenfalls wochenlang auf den Beinen und am Bahnhof, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen. Umso surrealer war die Situation, als wir Ivan mit Frau und Tochter letztes Jahr an einem Montag an der Uni begrüßten und im gleichen Moment die wöchentliche Fortsetzung der „Querdenker“-Parade vorbeilief – mit Russlandflaggen.

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Die Berliner Landestierschutzbeauftragte bei der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz sucht ab sofort

eine/n jur. Referent/in (m/w/d) als Regierungsrätin /-rat bzw. Tarifbeschäftigte/r.

Die Aufgaben umfassen u.a. die Erarbeitung juristischer Stellungnahmen und Gutachten zu Gesetzesvorhaben und konkreten Sachverhalten mit Bezug zum Tierschutz und angrenzenden Gebieten, Aufklärungsarbeit gegenüber der Öffentlichkeit und die Mitarbeit an Veranstaltungen und Fortbildungen. Die Landestierschutzbeauftragte ist beim Leitungsstab der Senatsverwaltung angesiedelt und berät das Land Berlin zu tierschutzrelevanten Fragen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene.

Bewerbungsfrist: 28. Mai 2024

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An der Viadrina sind die Kontakte zu zahlreichen ukrainischen Universitäten schon sehr lange intensiv; das mag damit zu tun haben, dass durch die enge Kooperation mit polnischen Partner:innen der polnische (realistisch-kritische) Blick auf Russland präsent ist, der exemplarisch für die Diskurse in zahlreichen ostmitteleuropäischen Ländern ist. An der Grenze wird das schnell konkret, persönlich und institutionell: Auf der anderen Oderseite trifft man sofort auf das Collegium Polonicum (wo u.a. die European New School of Digital Studies verortet ist), eine gemeinsame Einrichtung von Viadrina und Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, und auch wer nur wenig über die deutsch-polnische Geschichte weiß, kann vielleicht ermessen, wie ungewöhnlich eine solche institutionelle Kooperation über mittlerweile 30 Jahre ist. Sie begann schon kurz nach Gründung der Viadrina, also lange vor dem EU-Beitritt Polens, und war von Anfang an mehr als nur ein Vertrag: Von Beginn an wurde eine gemeinsame wissenschaftliche Einrichtung mit einer gemeinsamen Leitung und gemeinsamen Studiengängen betrieben und weiterentwickelt.

Seit die Oder nicht mehr eine EU-Außengrenze, sondern eine Binnengrenze ist, sind die Wege noch einmal kürzer geworden. Der EU-Beitritt Polens vor fast genau zwanzig Jahren war ein entscheidender Entwicklungsschritt – bzw. genauer die vollständige Freizügigkeit, die ja erst 2011 kam, weil Deutschland die Pol:innen lieber weitere sieben Jahre draußen lassen wollte als ein Mindestlohngesetz einzuführen. Heute ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Frankfurt und Słubice, dem polnischen Ort auf der anderen Oderseite, der bis 1945 „Frankfurt Dammvorstadt“ hieß, mehr als ein Kunstprojekt, mehr als das imaginäre Słubfurt, die künstlerische Wirklichkeitskonstruktion, die Michael Kurzwelly initiiert hatte, mit Grundgesetz, Kommunalwahlen und allem drum und dran. Mittlerweile arbeiten die beiden Städte ganz real als deutsch-polnische Doppelstadt so eng zusammen, dass sogar die Energieversorgung über eine gemeinsame Fernwärmeleitung gemeinsam organisiert wird und eine Buslinie über die Grenze fährt; Jurist:innen dürften ahnen, was dafür allein an bürokratischen und rechtlichen Hindernissen immer wieder überwunden werden muss, ganz zu schweigen von den historischen und politischen Bürden. Die gemeinsame Buslinie wurde übrigens lange von den Studierenden gepusht und vom AStA finanziert, bis sie in das Netz integriert wurde.

Obwohl, manchmal fühlt sich die Grenze doch wieder an wie eine Außengrenze. Der Bundesgrenzschutz, der seine riesigen Installationen an der Grenzbrücke ohnehin nicht vor 2013 abbaute, kontrolliert seit letztem Jahr wieder regelmäßig an der Grenze. Umso passender, dass eine Installation von Joanna Rajkowska das Sterben und das Elend an den EU-Außengrenzen letztes Jahr direkt an die Grenzbrücke brachte. Auf der Promenade stand da eine drei Meter hohe, mit Glas bespickte Betonmauer (auf der Passant:innen mit Post-Its ihre Gedanken notierten); mit Abstand, von der Brücke herabschauend, sah man, dass sie ein lapidares SORRY formte. Eine Aufforderung, die Grenze anders zu denken und Flucht besser zu verstehen – kein einfaches Thema, gerade im deutsch-polnischen Dialog – wenn es nicht gerade um die Flucht von Ukrainer:innen nach der full scale invasion geht. Aber um immerhin die Bedeutung des russischen Angriffs auf die Krim schon 2014 besser zu verstehen, hätte uns allen der polnische Diskurs helfen können, wenn wir nur genauer hingehört hätten.

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In einer Kooperationsveranstaltung mit der GEW Thüringen gehen wir Szenarien und Strategien für den autoritär-populistischen Ernstfall in Schulen auf den Grund. In dem Workshop werden die Ergebnisse der Recherche des Thüringen-Projekts präsentiert und gemeinsam mit der Seminargruppe Möglichkeiten erarbeitet, Schulen und Lehrkräfte für politische Vereinnahmungsstrategien zu sensibilisieren und Resilienz aufzubauen. Hier geht es zur Anmeldung für die Termine im Juni 2024.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

In den USA lässt sich momentan in Echtzeit beobachten, wie Universitäten zu Brennpunkten einer politischen Auseinandersetzung werden. Landesweit demonstrieren Student:innen gegen den Krieg in Gaza und fordern einen Stopp US-amerikanischer Waffenlieferungen nach Israel. Dass es bei diesen Protesten auch um grundlegende Fragen des demokratischen Zusammenlebens, des Umgangs mit politischen Konflikten und der Notwendigkeit unabhängiger Bildungsinstitutionen und kritischer Wissenschaft geht, zeigt ROBIN CELIKATES.

Mit der Verabschiedung des äußerst umstrittenen Safety of Rwanda Act könnte das Vereinigte Königreich seinen Marbury v. Madison-Moment erleben, da die Gerichte die Anwendung einiger Bestimmungen des Gesetzes ablehnen könnten. KACPER MAJEWSKI mit einem Vorschlag, wie die Gerichte die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes anerkennen und gleichzeitig seine Rechtsgültigkeit aufrechterhalten könnten.

Als Reaktion auf die russische Schleusung von Migranten an der finnischen Ostgrenze hat die Regierung nun die Grenze auf unbestimmte Zeit geschlossen und einen Gesetzesentwurf vorgeschlagen, der offen zugibt, dass er gegen Finnlands eigene Verfassung, Menschenrechtsverpflichtungen und EU-Recht verstößt. MILKA SORMUNEN erläutert, warum die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht nur beispiellos sind, sondern auch nicht wirksam gegen Russlands Verhalten sein werden.

In Indien hat der Supreme Court erstmals ein verfassungsmäßiges Recht anerkannt, um vor den Folgen des Klimawandels geschützt zu werden. Ein großer Fortschritt, mein ARPITHA KODVIVERI. Doch für echten Klimaschutz brauche es einen holistischen Ansatz, der die Klimakrise mit anderen Umweltkrisen zusammen denkt.

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Zum Thema Klima und nach Deutschland: nach langen Verhandlungen innerhalb der Ampel-Koalition hat der Bundestag am 26. April 2024 eine Novelle des Bundes-Klimaschutzgesetzes beschlossen. Insbesondere die Abschaffung der jahresscharfen Sektorziele als Grundlage für die gesetzliche Pflicht zur Vorlage von Sofortprogrammen hat zum Teil heftige Kritik von Umweltverbänden und Expert:innen entzündet. CHRISTIAN FLACHSLAND, JACOB EDENHOFER und CLAUDIA ZWAR bewerten die Novelle und zeigen, warum es eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen institutioneller Regelungen zur Durchsetzung ambitionierter Klimapolitik braucht.

Der Haftbefehl gegen Jian G., Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah, hat wenige Wochen vor der Europawahl politisch hohe Wellen geschlagen. Aber kann Maximilan Krah auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden? MILAN KUHLI und JULIUS BAYÒN meinen, das geht.

Vor den Landtagswahlen im September stehen aber erst einmal Kommunalwahlen an. Im thüringischen Hildburghausen wurde gerade der bekannte Rechtsextremist Tommy Frenck zur Wahl zugelassen. ALI IGHREIZ und JOSCHKA SELINGER zeigen, wie Wahlberechtigte die Wahlanfechtung als Quasi-Popularklage nutzen können – und warum das ein Akt demokratischer Verfassungsmobilisierung ist.

Vor demselben Hintergrund machen sich KLAAS MÜLLER und VIVAN KUBE Gedanken, wie die Zivilgesellschaft vor autoritärer Kommunalpolitik geschützt werden kann. Entscheidend ist, dass der Bereich der Demokratieförderung in seiner Tiefe und anhand der Strukturentscheidungen des Grundgesetzes ausgeschöpft wird. Denn der Kampf um die Deutungshoheit über die Demokratie hat bereits begonnen.

Alle reden über Thüringen – aber wie steht es eigentlich um die Brandenburger Justiz? Schließlich droht auch dort im September ein AfD-Wahlerfolg. Infolge ihrer Schwachstellenanalyse sehen ULRICH KARPENSTEIN und STEPHAN KIRSCHNICK dringenden Handlungsbedarf, die Brandenburger Justiz resilienter zu machen.

Aus dem Gerichtssaal: Bevor es diese Woche am Montag weiter ging, haben FELIX OLDENBURG und CARLOTTA MUSIOL nach dem fünften Tag im Prozess zur Verdachtsfalleinstufung der AfD vor dem OVG Münster einen Zwischenstand gegeben. Neben den Äußerungen von Funktions- und Mandatsträger:innen der Partei ging es vor allem um den Volksbegriff, ein Südtiroler Modell und behördliches Ermessen.

Darauf, das Bundesverfassungsgericht besser zu schützen, konnte man sich mittlerweile einigen, auf die Details aber noch nicht. JOHANNES FORCK plädiert für die intensivierte Einbindung des Bundesrats als minimalinvasive und effektive Lösung, um die Risiken Sperrminorität und einfachgesetzliche Attacken auf das Gericht zu minimieren.

Wie drei aktuelle Beiträge von Joseph H.H. Weiler, Merijn Chamon und Lorin-Johannes Wagner im Verfassungsblog zeigen, ist der Verkauf der nationalen Staatsbürgerschaft und der Unionsbürgerschaft nach wie vor sehr umstritten. Es erscheine willkürlich, wenn nicht gar verwerflich, die Staatsangehörigkeit im Tausch gegen Geld zu gewähren, während die meisten Menschen jahrelang warten und erhebliche Hürden überwinden müssten, um eingebürgert zu werden. MARTIJN VAN DEN BRINK nimmt an der Diskussion teil und stellt 3½ Mythen über das EU-Recht zur käuflichen Staatsbürgerschaft vor.

Die Immunität von Amtsträgern vor ausländischer Strafgerichtsbarkeit ist ein viel diskutiertes Thema. TAL MIMRAN hat versucht, eine gemeinsame Grundlage zu dieser Frage zu skizzieren und sich dabei auf den Umfang der Immunität und ihre Ausnahmen konzentriert.

ALBERTO ALEMANNO analysiert die Schaffung eines spezialisierten EU-Gremiums für ethische Standards. Die neue Institution hat das Potenzial, ein echter Fortschritt gegenüber dem bisherigen Flickenteppich der EU-Ethikregulierung zu sein.

Die Europäische Kommission hat dem Rat einen Vorschlag für den Abschluss des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union, Andorra und San Marino unterbreitet. Im Rahmen dieses Abkommens werden die Aufsicht und die Zuständigkeit der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in beispielloser Weise eingeführt. JARNE DE GEYTER vertritt die Auffassung, dass die Union ihre Assoziierungskompetenz hinsichtlich der Integrationstiefe, die sie Drittländern anbieten kann, vollständig ausgeschöpft hat.

Im April 2024 haben das Europäische Parlament und der Rat die drei Legislativvorschläge zur Reform der europäischen Wirtschaftsregierung angenommen. Diese Maßnahmen stärken die wirtschaftliche Sicherheit Europas, indem sie die Nachhaltigkeit der Schulden der Union schützen. Ohne auf die Einzelheiten der Gesetzgebung einzugehen, zeigt MARCO BEVILACQUA eine Tendenz innerhalb der wirtschaftspolitischen Steuerung zu einem Neo-Protektionismus der finanziellen Interessen der EU auf.

Das wär’s für diese Woche! Ihnen alles Gute,

Ihr

Verfassungsblog-Editorial-Team

 

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SUGGESTED CITATION  Kocher, Eva: An der Grenze ist der Krieg relativ nah: Ein Brief aus Słubfurt , VerfBlog, 2024/5/10, https://verfassungsblog.de/an-der-grenze-ist-der-krieg-relativ-nah/, DOI: 10.59704/8aff63b9a161ec4e.

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