04 May 2024

Bitte keine Störung?

Warum die repressiven Polizeieinsätze an US-Unis so gefährlich für die Demokratie sind

Innerhalb von weniger als zwei Wochen hat Minouche Shafik, Präsidentin der Columbia University, am 30. April zum zweiten Mal die Polizei auf den New Yorker Campus gerufen. Bewaffnete Einsatzkräfte lösten das gegen den Krieg in Gaza errichtete Protestcamp und die nicht einmal 24 Stunden währende Besetzung eines Institutsgebäudes auf und verhafteten im Auftrag der Uni-Leitung Dutzende der eigenen Studierenden. Nach dem ersten Polizeieinsatz war es zu Protestcamps an inzwischen über 100 US-amerikanischen Universitäten gekommen. Es ist zu erwarten, dass auch die neue Welle der Repression die vermutlich größte Studierendenbewegung seit den 1960er Jahren nur weiter anfeuern wird. An der Columbia soll die Polizei nun bis Mitte Mai zum Ende der Vorlesungszeit auf dem Campus bleiben, um ein Wiederaufflammen der Proteste zu verhindern und einen reibungslosen Ablauf der Graduierungsfeier zu garantieren. Aber zu welchem Preis?

Wie schon bei den brutal niedergeknüppelten Protesten gegen den Vietnamkrieg, in deren Zuge 1968 dasselbe Gebäude an der Columbia besetzt worden war, kommt es auch heute zu beispiellosen Szenen der Polizeigewalt: Landesweit sind bisher mehr als 2300 weitgehend friedlich protestierende Studierende verhaftet, viele weitere suspendiert und exmatrikuliert, und interne Regeln ad hoc geändert worden, um Proteste zu unterbinden. Auch Professor:innen, die sich schützend vor am Boden liegende Studierende gestellt hatten oder deeskalierend wirken wollten, wurden verhaftet und für ihre Teilnahme an den Protesten suspendiert.

Für diese Eskalation, den Einsatz schwer bewaffneter Polizei gegen Studierende im Namen von Ordnung und Sicherheit auf dem Campus, und die damit einhergehende zunehmende Polarisierung werden sich – wie auch in der Folge von 1968 – die Universitätsleitungen verantworten müssen. Von New York und Boston bis Los Angeles und Austin, Texas, haben sie dem politischen Druck vor allem von MAGA-Republikaner:innen (sowie mächtiger Kuratorien und in einigen Fällen einflussreicher Spender und Alumni) nachgegeben und die Krise eskalieren lassen. Dabei verliefen die Proteste bis zu den unverhältnismäßigen Polizeieinsätzen einer neuen Studie zufolge zu 99% friedlich. Dass eine „klare und unmittelbare Gefahr“ als zu Recht hohe Hürde für Polizeieinsätze an der Columbia University zunächst gar nicht bestand, betonen nicht nur der akademische Senat sowie zahlreiche Jura-Professor:innen der Universität, sondern sogar die Polizei (NYPD). Darüber, ob das auch für die Räumung des besetzten Gebäudes gilt, gehen die Meinungen auseinander.

Insbesondere mit Bezug auf die frühe Phase der Proteste drängt sich jedenfalls der Eindruck auf, dass nicht das Wie, sondern das Was der Proteste ausschlaggebend war für den politischen Druck von oben und das harte Durchgreifen – manche sprechen von einer „Palestine exception“, da Rede- und Versammlungsfreiheit nur so lange gelte, wie es nicht um Palästina-Solidarität gehe. Dass auch ein konstruktiverer Umgang mit den Protesten möglich ist, zeigen Universitäten wie Harvard, Northwestern oder MIT. Am MIT, wo es die letzten Jahre immer wieder zu Protesten gegen die Zusammenarbeit mit dem US-Verteidigungsministerium und der Rüstungsindustrie sowie den finanziellen Einfluss von Saudi Arabien und Großspendern wie dem Investmentbanker und verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein gekommen war, stellen die Protestierenden von einem Großteil der Studierendenschaft mitgetragene konkrete Forderungen nach einer Einstellung der Zusammenarbeit mit dem israelischen Verteidigungsministerium. Um das Protestlager herum wurden im Zuge von Gegenprotesten USA- und Israel-Flaggen sowie Bilder der von der Hamas verschleppten Geiseln aufgestellt, ohne dass es zu Zwischenfällen gekommen wäre. An der Brown University löste sich das Protestlager auf, nachdem die Uni-Leitung sich zu einer Diskussion und Abstimmung über die Forderungen der Studierenden bekannt hat. Ähnliches wird von der Rutgers University, der University of Minnesota und der UC Riverside berichtet. An keiner dieser Universitäten kam es zu übermäßigen Polizeieinsätzen.

Bemerkenswert ist die von oben verordnete Eskalation nicht nur, weil die Black Lives Matter Bewegung gerade erst ein stärkeres Bewusstsein für die massiven Risiken polizeilicher Repression für demokratische soziale Bewegungen im Allgemeinen und rassifizierte Minderheiten im Besonderen geschaffen hatte. Vor allem wird immer deutlicher, dass die unverhältnismäßigen Einschränkungen politischer Rechte von Studierenden und Lehrenden , die Normalisierung von Polizeieinsätzen auf dem Campus und die Angriffe auf die Autonomie der Hochschulen autoritäre Tendenzen verstärken, die insbesondere von ultrarechten politischen Kräften vorangetrieben werden, die die Zensur von Lehrplänen an Schulen und Unis forcieren und Diversitätspolitiken ebenso wie unliebsamen Disziplinen wie Gender Studies und Critical Race Theorie den Garaus machen wollen. Alles im Namen von Make America Great Again.

So erstaunt es nicht, dass der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu die Situation mit den 1930er Jahren an deutschen Universitäten vergleicht, der israelische UN-Botschafter behauptet, die Hamas verstecke sich eben nicht nur in Schulen in Gaza, sondern auch in Harvard und an der Columbia, und Mike Johnson, republikanischer Sprecher des US-Repräsentantenhauses, den Ball aufgreifend nach der Nationalgarde ruft, um wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Derselbe Johnson verbreitet übrigens wie andere Republikaner auch die antisemitische Verschwörungsphantasie, der jüdische Multimilliardär George Soros stecke hinter den Protesten. Präsident Biden weist immerhin die Forderung nach dem Einsatz des Militärs zurück und unterstreicht die Bedeutung des Rechts auf friedlichen Protest – legt aber zugleich restriktive Bedingungen fest, indem er Hausfriedensbruch (etwa durch Studierende auf dem Campus, die durch ihre Suspendierung zu Straftätern gemacht werden) und die traditionelle Protesttaktik von Besetzungen auf Uni-Gelände als nicht-friedlich definiert und kein Wort zur Polizeigewalt verliert, ohne die es zum jetzigen Chaos kaum gekommen wäre. Dissens ja, aber bitte ohne Störung der Ordnung?

Auch in Deutschland wird ein zum Teil haarsträubend einseitiges Bild der Proteste vermittelt – von der Springer-Presse („Übernimmt die Hamas die Macht an den US-Unis?“) bis zur taz („Judenhass in der Universität: Auf dem Weg in die Unfreiheit“) –, das dem Ruf nach Repression Plausibilität und Legitimität verleiht. Aus der Ferne wird in einer Arroganz über die vermeintliche Intoleranz, Verbohrtheit und Unbedarftheit der Proteste – und gleich auch noch über die Qualität der betroffenen Universitäten – geurteilt, die erschreckend ignorant und provinziell ist und Fragen nach journalistischen Mindeststandards aufwirft.

Die so verbreiteten Narrative gehen nicht nur an der deutlich komplexeren Realität der Protestbewegung vorbei und lenken von deren eigentlichem Anliegen ab – dem Einspruch gegen einen von den USA unterstützten und von vielen als genozidal betrachteten Krieg mit inzwischen über 34000 Toten, in dem auch das palästinensische Bildungssystem dermaßen zerstört worden ist, dass UN-Experten von einem „Scholastizid“ sprechen. Sie lenken auch ab von der gravierenden Gefahr, die von der Repression für Universitäten als Orte des kritischen Diskurses und dialogischen Lernens sowie für eine von vielfältigen Demokratiedefiziten gekennzeichnete Gesellschaft ausgeht, die auf auch disruptive Proteste angewiesenen bleibt.

In den USA lässt sich momentan in Echtzeit beobachten, wie Universitäten zu Brennpunkten einer politischen Auseinandersetzung werden, in der es um grundlegende Fragen des demokratischen Zusammenlebens, des Umgangs mit politischen Konflikten und der Notwendigkeit unabhängiger Bildungsinstitutionen und kritischer Wissenschaft geht. Daher ist es ein Gebot intellektueller Aufrichtigkeit und politischer Verantwortung genauer hinzusehen – ein Gebot, dem sich deutsche Medien scheinbar immer weniger verpflichtet fühlen, wenn sie die ideologisch extreme Position reproduzieren, dass propalästinensische Proteste an sich bereits als Bedrohung anzusehen sind und die Repression daher gerechtfertigt sei.

Genauer hinzusehen, würde auch bedeuten, den Stimmen aus Zivilgesellschaft und Universitäten vor Ort mehr Gewicht zu geben statt nachweislich einseitige politische Talking Points zu wiederholen: Sowohl die American Civil Liberties Union (ACLU) als auch die American Association of University Professors (AAUP) haben eindringlich zur Verteidigung des Rechts auf politische Meinungsäußerung und friedlichen Protest aufgerufen und vor den Folgen politisch motivierter Repression gewarnt. Hunderte renommierter Professor:innen an den Universitäten Yale, Princeton, Vanderbilt, UT Austin und zahlreichen anderen Hochschulen erheben Einspruch gegen die ihres Erachtens mit dem Selbstverständnis der Universität in einer demokratischen Gesellschaft unvereinbare polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung von Studierenden und fordern ihre Uni-Leitungen zu Dialog und Verhandlungen auf oder entziehen ihnen gleich ganz das Vertrauen – all das unabhängig von den sicherlich gravierenden politischen Differenzen untereinander und mit den Protestierenden.

Prominente jüdische Akademiker:innen wie der Literaturwissenschaftler Bruce Robbins, die Gedächtnisforscherin Marianne Hirsch, der Holocaust-Experte Omer Bartov und der Faschismustheoretiker Jason Stanley wenden sich gegen die Diffamierung der Proteste als antisemitisch. Sie verweisen auf die prominente Rolle jüdischer Studierender und die Pluralität jüdischer (zionistischer ebenso wie nicht-, post- und antizionistischer) Positionen und Erfahrungen auf dem Campus, zu denen auch gemeinsame Seder-Mahlzeiten und Torah-Lesungen in den Protestcamps gehören. Und sie insistieren, dass gerade im Interesse des Kampfes gegen Antisemitismus klar unterschieden werden muss zwischen Antisemitismus und Kritik an Israels Vorgehen in Gaza, selbst wenn letztere auf sehr weitgehende und polemische Weise formuliert wird. Zu beobachten sei eine besorgniserregende terminologische Ausweitung und politische Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs mit dem Ziel, israelkritische und propalästinensische Stimmen auf dem Campus, die sich gegen die Politik der US-Regierung richten, zu marginalisieren und einzuschüchtern.

Die Frage, wo genau die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus sowie zwischen rechtlich geschützter Redefreiheit und Aufrufen zur Gewalt verläuft, wird sicherlich umstritten bleiben. Das zeigt sich etwa am auch für die deutsche Diskussion zentralen Beispiel des Slogans „From the river to the sea“. Und dass Vorwürfe instrumentalisiert werden, heißt nicht, dass sie in konkreten Fällen nicht auch zutreffen. So kam es im Zuge der Proteste fraglos auch zu einer ganzen Reihe inakzeptabler gewaltverherrlichender und antisemitischer Zwischenfälle, denen entschlossen entgegengetreten werden sollte. Keine der oben zitierten Stimmen kann man guten Gewissens bezichtigen, das anders zu sehen. Und tatsächlich reagiert die Protestbewegung selbst Berichten zufolge inzwischen entschiedener auf antisemitische Hetze. Auch wenn man hier mehr Nachdruck fordern kann, spricht doch viel dafür, dass die in solidarisch organisierten sozialen Bewegungen selbst geleistete Aufklärung weitaus transformativer und effektiver wirkt als blanke Repression.

Ebenfalls wichtig wäre es, die realen Ängste und die Verunsicherung von den Protesten skeptisch gegenüberstehenden jüdischen Studierenden ernst zu nehmen, ohne das in