07 November 2024

Wer darf jüdische Identität in Deutschland definieren?

Der Deutsche Bundestag hat heute eine Resolution verabschiedet, die öffentliche Gelder für Kultur und Wissenschaft an die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) knüpft. Die Resolution ist eine parteiübergreifende Initiative von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU, die auf den Hamas-Angriff auf Israel und den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland reagiert. Die zentrale Regelung sieht vor, dass Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden Kultur- und Wissenschaftsprojekte auf „antisemitische Narrative“ überprüfen, bevor sie Fördermittel freigeben. Kritiker:innen der IHRA-Definition warnen jedoch seit Jahren, dass diese Definition auch verschiedene Formen der Kritik am Staat Israel umfasse.

Wie die IHRA-Definition jüdische Identität reguliert

Der Ansatz der IHRA-Definition wirft grundlegende Probleme auf, die über die typischen Gefahren für Wissenschafts- und Kunstfreiheit hinausgehen. Matthias Goldmann weist auf die praktischen Schwierigkeiten hin, die präventive Kontrollmechanismen mit sich bringen: Wie lassen sich potenziell antisemitische Inhalte bewerten, bevor ein Projekt vollständig ausgearbeitet ist? Indem sie mittels Förderbeschränkungen präventiv kontrollieren wollen, welcher Diskurs über Israel und jüdische Identität akzeptabel ist, riskieren solche Maßnahmen, eine singuläre Vorstellung von jüdischem politischem Ausdruck in deutschen Kultur- und Wissenschaftsräumen durchzusetzen.

In den USA wurde die IHRA-Definition zunehmend gesetzlich anerkannt. Dabei haben mehrere Bundesstaaten die Definition angenommen und Kritik an Israel und/oder Zionismus als Antisemitismus eingestuft. Aus den US-amerikanischen Erfahrungen (die wir kürzlich untersucht haben) kann Deutschland lernen.

Weithin erforscht wurde das Potenzial der IHRA-Definition, die Meinungsfreiheit von Palästinenser:innen zu beschränken. Doch daneben verdienen auch andere Probleme Aufmerksamkeit: vor allem das Potenzial der Definition, jüdische politische Identität auf eine einzige Version zu reduzieren, die mit dem Staat Israel übereinstimmt. So ermächtigt die Resolution den Staat Israel, über eine Frage zu entscheiden, die in jüdischen Kreisen tatsächlich heiß diskutiert wird.

Der Fall Katz v. Katz aus dem Jahr 2013 ist besonders aufschlussreich dafür, wie solche Gesetze auf problematische Weise in interne jüdische Debatten eingreifen können. Der Fall betraf einen Sorgerechtsstreit in der Satmar-Gemeinde, einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft, die Zionismus aus religiösen Gründen ablehnt. Als ein Satmarer Vater sich aufgrund seiner antizionistischen religiösen Überzeugungen dagegen aussprach, dass sein Kind nach Israel reist, musste das Gericht diesen innerjüdischen Streit sorgfältig lösen. Es kam zu dem Schluss, dass die Entscheidung darüber, welche elterliche Position „authentischer“ jüdisch sei, gegen das verfassungsrechtliche Prinzip der Trennung von Kirche und Staat verstoßen würde.

Man stelle sich vor, wie ein solcher Fall heute auf Grundlage von Gesetzen entschieden würde, die von der IHRA beeinflusst sind. Laut der Definition ist das „Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ antisemitisch. Wäre die religiöse Überzeugung des Satmarer Vaters also als antisemitisch einzustufen? Würde es als diskriminierende Ideologie gelten, ein Kind nach dieser Überzeugung zu erziehen? Der Fall zeigt, wie rechtliche Definitionen, die Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzen, Gerichte dazu zwingen können, in religiöse Debatten über jüdische Identität und Sinnfragen einzugreifen. Gerichte können so über das eigentliche Ziel des Schutzes jüdischen Lebens hinausgehen und unangemessen in jüdisches Leben und die Vielfalt jüdischer Politik eingreifen.

Wie die IHRA-Definition jüdische Stimmen zum Schweigen bringt

Diese Dynamik ist besonders relevant für den deutschen Kontext. Auch hier ermächtigt die verabschiedete Resolution staatliche Akteure, legitime von illegitimen Ausdrucksformen jüdischer Identität zu unterscheiden. Die Resolution geht über offensichtliche Fälle antisemitischen Hasses hinaus und schränkt die Förderung von jenen Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Kulturschaffenden ein, die wegen ihrer jüdischen Identität israelische Politik kritisieren oder Zionismus ablehnen.

Dabei handelt es sich keineswegs um ein nur theoretisches Szenario. In den letzten Jahren wurden jüdisch-israelische Wissenschaftler:innen und Künstler:innen von deutschen Institutionen „gecancelt“, teilweise ohne eine Begründung. Solche Entscheidungen haben nicht nur die Meinungsfreiheit von Jüd:innen in Deutschland eingeschränkt. Sie haben auch in den Diskurs um jüdische Identität unangemessen eingegriffen, und die Möglichkeit jüdisch-palästinensischer Solidarität auf deutschem Boden verengt.

Der Fall des israelischen Journalisten Yuval Abraham und des palästinensischen Journalisten Basel Adra zeigt, wie solche definitorischen Maßnahmen schon jetzt sowohl jüdische als auch palästinensische Stimmen zum Schweigen bringen. Nachdem ihr Dokumentarfilm No Other Land beim Berlinale-Filmfestival 2024 zwei Auszeichnungen gewonnen hatte, sahen sich beide Filmemacher mit schweren Vorwürfen konfrontiert, weil sie in ihren Dankesreden die israelische Politik kritisierten. Während Adra Deutschlands Rolle bei der Unterstützung des israelischen Krieges in Gaza betonte, beschrieb Abraham das Apartheid-System, das ungleiche Bedingungen für Israelis und Palästinenser:innen schafft.

Die Reaktion war bezeichnend: Deutsche Politiker:innen erhoben Antisemitismusvorwürfe, und die Kulturministerin betonte ausdrücklich, dass sie nur dem „jüdisch-israelischen Journalisten“ applaudierte – womit sie die Stimme Adras vollständig delegitimierte. Dieser Vorfall zeigt, wie die IHRA-Definition instrumentalisiert werden kann, um selbst jüdische Israelis zu delegitimieren, die die staatliche Politik kritisieren, während palästinensische Perspektiven völlig unsichtbar gemacht werden. Genau darin besteht der Silencing-Effekt, von dem Kritiker:innen befürchten, dass er durch die Förderbeschränkungen der Bundestagsresolution institutionalisiert wird.

Auf beiden Seiten des Atlantiks geht es um viel. In den USA bleibt abzuwarten, wie sich die studentische Protestbewegung entwickelt und welchen Schutz das US-amerikanische Recht jüdischen Studierenden gewährt oder verweigert, die sich aus jüdischen Werten heraus mit Palästinenser:innen solidarisieren. In Deutschland haben zivilgesellschaftliche Organisationen (u.a. Amnesty International) davor gewarnt, dass die Resolution „die Pluralität der von in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen vertretenen Positionen außer Acht“ und erhebliche Rechtsunsicherheit befürchten lasse, die zu einem chilling effect führen werde.

Im Namen gemeinschaftlicher Vielfalt

Im Zentrum sowohl der deutschen als auch der US-amerikanischen Debatte steht eine entscheidende Frage: Wer darf jüdische Identität und ihre Beziehung zu Israel definieren? Die jüdischen politischen Traditionen haben sich seit jeher liberalen Kategorien entzogen, die Religion und Politik voneinander unterscheiden. Von biblischen Zeiten über die Diaspora bis in die Moderne haben jüdische Gemeinschaften immer neue Wege gefunden, das Verhältnis zwischen religiöser Pflicht und politischem Handeln auszulegen. Dies ist kein Makel, sondern Merkmal jüdischer Erfahrung. Die Herausforderung für politische Entscheidungsträger:innen in Deutschland und den USA besteht nicht darin, eine bestimmte Vision jüdischen politischen Ausdrucks durchzusetzen – sondern darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die mehreren, teils konkurrierenden Interpretationen jüdischer Identität und politischen Lebens gerecht werden können.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist dringend und notwendig. Aber er muss auf eine Weise geführt werden, die die jüdische Pluralität stärkt und nicht schwächt. Die amerikanische Erfahrung zeigt, dass wir Gefahr laufen, Antisemitismus zu reproduzieren, wenn wir rechtliche Antisemitismusdefinitionen zulassen, die legitime politische und religiöse Ausdrucksformen einschränken. Der Antisemitismus selbst wollte Jüd:innen oft vorschreiben, wie sie zu sein haben – statt dies den jüdischen Gemeinschaften selbst zu überlassen.

Die Debatte über die deutsche Antisemitismus-Resolution Deutschland ist aber auch aufschlussreich für eine theoretische Herausforderung, der liberale Demokratien im Zeitalter eines wiedererstarkenden religiösen Nationalismus gegenüberstehen. Sowohl die deutsche Resolution als auch ähnliche US-Maßnahmen sind Versuche, die Spannung zwischen religiöser und politischer Identität auflösen zu wollen, indem man eine bestimmte Art der Auflösung vorschreibt – ein Ansatz, der der allgemeinen autoritären Tendenz des modernen religiösen Nationalismus entspricht, homogene Interpretationen von Tradition zu erzwingen. Doch Daniel Boyarin und Noah Feldman haben in ihren neusten Büchern (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise) gezeigt, dass jüdische politische Denkschulen eine überzeugende Alternative anbieten: Diese Alternative erkennt an, dass Religion und Politik unauflösbar verflochten sind, besteht dabei aber auf plurale Verflechtungsweisen.

Statt entweder eine strikte Trennung von Kirche und Staat zu erzwingen (wie der klassische Liberalismus) oder eine einzige legitime Form der religiös-politischen Verflechtung vorzuschreiben (wie der religiöse Nationalismus), schlagen wir vor, die Autonomie jüdischer Gemeinschaften darüber zu schützen, selbst zu bestimmen, wie sich religiöse und politische Verpflichtungen zueinander verhalten. Diese Erkenntnis weist weit über die jüdisch-israelische Politik hinaus – sie deutet darauf hin, wie der liberale Konstitutionalismus verschiedene Formen religiös-politischer Identität besser berücksichtigen und gleichzeitig den anti-pluralistischen und zunehmend totalisierenden Impulsen weltweiter religiöser nationalistischer Bewegungen aktiv widerstehen könnte.

Ein alternativer Weg

Der Bundestag hat sich nun gegen einen alternativen Weg entschieden – einen Weg, der jüdisches Leben geschützt hätte, indem er seine Vielfalt bewahrt und nicht einschränkt. Dazu hätte der Gesetzgeber anerkennen müssen, dass antizionistisches Judentum eine legitime Form des Judentums ist – und zwar seit Generationen.

Eine alternative Resolution hätte sich an der Jerusalem Declaration on Antisemitism orientieren können, die stärker differenziert und damit sowohl Antisemitismus bekämpft als auch pluralistischen Diskurs schützt. Im Gegensatz zur IHRA-Definition unterscheidet die Jerusalem Declaration ausdrücklich zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israel und bietet klare Richtlinien, um antisemitische Äußerungen zu identifizieren. Eine alternative „Resolution zum Schutz des jüdischen Lebens“, die eine Gruppe von Wissenschaftler:innen in diesem Sinne formulierte (siehe insbesondere Artikel 7), blieb leider erfolglos.

Deutschland ist verpflichtet, Antisemitismus zu bekämpfen und die grundrechtlichen Freiheiten zu schützen – dazu gehört auch das Recht jüdischer Gemeinschaften, ihre Beziehung zu Israel selbst zu definieren. Dieser doppelten Verpflichtung kann Deutschland mit der verabschiedeten Resolution kaum gerecht werden.

Diese Analyse beruht auf unserem Artikel “Defending Jews from the Definition of Antisemitism” (UCLA Law Review, i.E.). Wir haben eine frühere Version an der Hertie School in Berlin vorgestellt, wo uns Gespräche – vor allem mit Silvia Steiniger – dabei halfen, den Rechtsvergleich mit Deutschland auszuarbeiten.