Arbeitspflicht, Arbeitszwang und Arbeitendürfen
Warum die aktuelle Debatte zur „Arbeitspflicht“ für Asylsuchende neben der Sache liegt
Zurzeit wird dem Asylbewerberleistungsrecht eine bislang ungeahnte Aufmerksamkeit zuteil. Dabei ist das Sonderleistungsrecht für Asylsuchende und andere Gruppen von Ausländer*innen eigentlich eine politisch unliebsame Materie. So konnte sich der Gesetzgeber trotz Entscheidung des BVerfG (mehr dazu hier und hier) noch nicht dazu durchringen, die verfassungswidrige Sonderbedarfsstufe für Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften aus dem Asylbewerberleistungsgesetz zu tilgen. Stattdessen läuft die aktuelle Debatte darauf hinaus, Restriktionen vorzuschlagen, die in offenem Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben stehen (vgl. Merz mit BVerfG, Rn. 76), oder medienwirksam nach Gesetzesänderungen zu rufen, wenngleich die gewünschten Inhalte bereits gesetzlich normiert sind. Hier reiht sich der Vorschlag der Ministerpräsidentenkonferenz ein, Asylsuchende verstärkt zu gemeinnütziger Arbeit heranzuziehen.
Der vorliegende Beitrag hat das Anliegen, die aktuelle Debatte zu versachlichen – man könnte auch sagen von der anekdotischen Evidenz eines Zahnarztbesuchs zu lösen – und im Lichte der einschlägigen verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben zu führen. Vier Anmerkungen zur gegenwärtig diskutierten „Arbeitspflicht“ für Asylsuchende:
1. Die Idee einer „Arbeitspflicht“ findet sich bereits im Asylbewerberleistungsgesetz
Der Gedanke, Asylsuchende zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten, ist keineswegs neu. Eine entsprechende Vorschrift kennt das Asylbewerberleistungsgesetz bereits seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1993. So heißt es in § 5 Abs. 1 AsylbLG:
„(1) In Aufnahmeeinrichtungen […] und in vergleichbaren Einrichtungen sollen Arbeitsgelegenheiten insbesondere zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur Verfügung gestellt werden; [..].Im übrigen sollen soweit wie möglich Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, bei kommunalen und bei gemeinnützigen Trägern zur Verfügung gestellt werden, sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet werden würde.“
Nach der geltenden Rechtslage können Asylsuchenden sowohl Aufgaben innerhalb ihrer Unterkunft als auch Tätigkeiten bei staatlichen, kommunalen oder gemeinnützigen Trägern zugewiesen werden. Letzteres erinnert an die Arbeitsgelegenheiten im SGB II, die gemeinhin als „Ein-Euro-Jobs“ bekannt sind. In geradezu zynischer Weise setzt sich die restriktive Logik des Asylbewerberleistungsgesetzes auch bei der zu zahlenden Aufwandsentschädigung fort, welche nicht einmal mehr einen symbolischen Euro, sondern lediglich 80 Cent je Stunde beträgt.
Demgegenüber gibt es derzeit keine Rechtsgrundlage, um Asylsuchenden Tätigkeiten im privaten Sektor – etwa Aushilfsjobs in der Gastronomie – zuzuweisen. Für diesen Vorschlag wären die Arbeitsgelegenheiten nach § 5 AsylbLG ohnehin nicht geeignet. Zielführender wäre es, die für Asylsuchende nach § 61 AsylG bestehenden Beschränkungen des Arbeitsmarktzugangs abzubauen und die betreffenden Personen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu vermitteln.
Ähnlich wie bei den „Ein-Euro-Jobs“ ist auch im Rahmen der Arbeitsgelegenheiten nach § 5 AsylbLG sicherzustellen, dass Verzerrungen des Wettbewerbs und Verdrängungseffekte ausbleiben. Nur zusätzliche Aufgaben dürfen als gemeinnützige Arbeit zugewiesen werden („sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet werden würde“). Bildhaft gesprochen: Die Gemeinde darf nicht das für die Gräberpflege angestellte Friedhofspersonal oder die Vergabe von Aufträgen an Gartenbauunternehmen ersetzen, indem sie auf Bedürftige als kostengünstige Arbeitskräfte zurückgreift. Das macht es für die Verwaltung nicht gerade einfach, geeignete Arbeitsgelegenheiten zur Verfügung zu stellen. Die niedrige Praxisrelevanz der Regelung dürfte in erster Linie diesen Umsetzungsschwierigkeiten geschuldet sein, und nicht etwa – wie in der öffentlichen Debatte suggeriert – einer fehlenden Arbeitsbereitschaft der Leistungsberechtigten.
Für den Fall, dass Betroffene die Aufnahme einer ihnen zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verweigern, trifft § 5 Abs. 4 AsylbLG die folgende Regelung:
„(4) Arbeitsfähige, nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind, sind zur Wahrnehmung einer zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verpflichtet. Bei unbegründeter Ablehnung einer solchen Tätigkeit besteht nur Anspruch auf Leistungen entsprechend § 1a Absatz 1.[…]“
Damit findet sich die geforderte „Arbeitspflicht“ für Asylsuchende bei näherem Hinsehen bereits im Gesetz. In einem technischen Sinne handelt es sich hierbei nicht um eine Pflicht, sondern um eine Obliegenheit. Es wird kein Versuch unternommen, die Aufnahme der Tätigkeit als solche mit den Mitteln des Verwaltungszwanges durchzusetzen. Die unbegründete Ablehnung einer Arbeitsgelegenheit führt lediglich zu leistungsrechtlichen Nachteilen, indem nur noch abgesenkte Leistungen nach § 1a AsylbLG gewährt werden, was einer Kürzung des Existenzminimums um etwa die Hälfte entspricht (mehr dazu hier).
2. Eine „Arbeitspflicht“ ist noch kein verfassungsrechtlich unzulässiger Arbeitszwang
Die Durchsetzung einer solchen „Arbeitspflicht“ ist nicht nur mit praktischen Schwierigkeiten, sondern auch mit verfassungsrechtlichen Fragen behaftet. Isabel Kienzle und Anuscheh Farahat haben in diesem Kontext bereits auf das Verbot des Arbeitszwanges und der Zwangsarbeit aus Art. 12 Abs. 2 und 3 GG hingewiesen.
Nach Art. 12 Abs. 2 GG darf niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. Art. 12 Abs. 3 GG besagt wiederum, dass Zwangsarbeit nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig ist. Die im Verfassungstext verwendeten Begriffe „zu einer bestimmten Arbeit gezwungen“ und „Zwangsarbeit“ sind in erster Linie vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Art. 12 Abs. 2 und 3 GG zu kontextualisieren.
So kam es dem Verfassungsgeber – wie es das BVerfG in einer älteren Entscheidung herausgearbeitet hat – darauf an, die im nationalsozialistischen System verbreiteten Formen der Zwangsarbeit mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit auszuschließen. Demgegenüber finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die im Fürsorgewesen praktizierten Arbeitsmaßnahmen (vgl. etwa § 19 RFV (1924)) grundlegend in Frage gestellt werden sollten. So wurde im Parlamentarischen Rat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Zwangsarbeit in der „Fürsorgeerziehung“ auf Grund gerichtlicher Entscheidung, welche die „Fürsorgeerziehung“ anordnet, möglich sei (Drucks. Nr. 370, 13.12.1948, Anm. 3 zu Art. 12 GG). Damals hatte man wohl die Unterbringung in Arbeitshäusern vor Augen. Derartige, aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbare Einrichtungen waren noch bis in die 1970er-Jahre hinein im Bundessozialhilfegesetz vorgesehen und wurden sogar durch das BVerfG – ohne Bezugnahme auf Art. 12 Abs. 2, 3 GG – als verfassungskonform gebilligt.
Mit einem solchen Verständnis von „Fürsorgeerziehung“ haben die Arbeitsgelegenheiten im heutigen Grundsicherungsrecht nicht viel gemein. Insbesondere sind die Maßnahmen nicht darauf gerichtet, die geforderte Arbeit als solche zu erzwingen. Mit dieser Argumentation hatten bereits das BVerwG (BVerwGE 11, 252.) – und weite Teile des Schrifttums1) – die sozialhilferechtliche Obliegenheit zu gemeinnütziger Arbeit im Hinblick auf Art. 12 Abs. 2 und 3 GG für unbedenklich erachtet. Dem wird mitunter entgegenhalten, dass der Entzug existenzsichernder Leistungen einen mittelbaren Arbeitszwang begründet.2) Hieran ist richtig, dass Leistungskürzungen im Bereich des Existenzminimums eine intensive Belastung darstellen und zugleich Druck auf die Betroffenen ausüben, die geforderte Mitwirkungshandlung zu erbringen.
3. Eine verfassungskonform ausgestaltete „Arbeitspflicht“ erfordert Zugang zum Arbeitsmarkt
Dahinter steht die Frage: Inwieweit darf die Solidargemeinschaft die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz von Selbsthilfeanstrengungen des Individuums abhängig machen? Hierauf hat das BVerfG in seiner Entscheidung zu den Sanktionen im SGB II bereits eine Antwort gegeben. Dabei ist es gar nicht erst – wie vom vorlegenden Sozialgericht aufgeworfen – auf Art. 12 Abs. 2, 3 GG eingegangen, sondern hat seine Ausführungen allein am Maßstab des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG entwickelt. Demnach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, von Hilfesuchenden zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen (Rn. 126). Unzulässig sind demgegenüber Mitwirkungsanforderungen, die auf eine staatliche Bevormundung oder Versuche der „Besserung“ gerichtet sind (Rn. 127).
Auch im Rahmen des Asylbewerberleistungsrechts kann von Hilfesuchenden verlangt werden, ihre Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt voranzubringen und hierdurch ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Dies setzt voraus, dass Betroffene arbeiten dürfen und die Perspektive haben, sich durch die Arbeitsgelegenheit für eine reguläre Beschäftigung zu qualifizieren. Diesbezüglich haben Isabel Kienzle und Anuscheh Farahat herausgearbeitet, welchen rechtlichen Hürden Asylsuchende beim Arbeitsmarktzugang (weiterhin) unterliegen. Eine „Arbeitspflicht“ ohne Zugang zum regulären Arbeitsmarkt ist nicht nur paradox, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich. Sie gleicht einer bloßen „Beschäftigungstherapie“ mit erzieherischem Charakter. Solche erzieherischen Versuche einer „Besserung“ der Hilfesuchenden vermögen allerdings – wie das BVerfG ausgeführt hat – eine Beschränkung des von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gewährleisteten Existenzminimums nicht zu rechtfertigen.
Anders gewendet: Eine leistungsrechtliche Obliegenheit zur Arbeitsaufnahme ist verfassungskonform, soweit die Betroffenen die Chance haben, auf dem regulären Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und hierdurch ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Die geforderte Mitwirkung ist allerdings in verhältnismäßiger Weise durchzusetzen. Diesbezüglich wirft die in § 1a AsylbLG als Rechtsfolge vorgesehene Leistungskürzung weitere verfassungsrechtliche Probleme auf (mehr dazu hier).
4. Das Unionsrecht erlaubt es gegenwärtig nicht, eine „Arbeitspflicht“ für Asylsuchende mittels Kürzung der Existenzsicherung durchzusetzen
Weiterhin sind die Vorgaben der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) zu beachten, soweit eine Kürzung existenzsichernder Leistungen für Personen in Rede steht, die internationalen Schutz beantragt haben. Art. 20 der Richtlinie bestimmt abschließend, in welchen Fällen die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen dürfen. Verstöße gegen „Arbeitspflichten“ sind hier schlichtweg nicht aufgeführt. Allenfalls bei Arbeitsgelegenheiten innerhalb der Unterkunft kommt Art. 20 Abs. 4 RL 2013/33/EU („Sanktionen für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren“) als Rechtsgrundlage für Leistungskürzungen in Betracht. Zwar beabsichtigen Reformvorschläge auf europäischer Ebene den Katalog der Sanktionstatbestände um den Fall fehlender Integrationsbemühungen zu ergänzen. Dies hilft nicht darüber hinweg, dass eine „Arbeitspflicht“ für Asylsuchende nach dem derzeit geltenden Sekundärrecht nicht mit der Kürzung existenzsichernder Leistungen durchgesetzt werden kann.
Resümee einer verfehlten Debatte
Damit liegt die aktuelle Debatte zur „Arbeitspflicht“ für Asylsuchende in mehrfacher Hinsicht neben der Sache. Bereits nach geltendem Recht besteht die Möglichkeit, Asylsuchenden gemeinnützige Arbeit nach § 5 AsylbLG zuzuweisen. In der Praxis bestehende Umsetzungsschwierigkeiten, geeignete Arbeitsgelegenheiten zur Verfügung zu stellen, lassen sich nicht auf legislatorischer Ebene kompensieren. Zugleich begrenzen verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Vorgaben den Handlungsspielraum des Gesetzgebers. Insbesondere setzt eine „Arbeitspflicht“, die mittels Kürzungen der Existenzsicherung durchgesetzt werden soll, den Zugang der Betroffenen zum Arbeitsmarkt voraus. Eine „Arbeitspflicht“ für diejenigen zu fordern, die nicht arbeiten dürfen – derartige Widersprüchlichkeiten sind geradezu sinnbildlich für die aktuelle migrationspolitische Diskussion.