01 February 2025

Aus dem Abseits in die Mitte der Demokratie

Die Normalisierung der radikalen Rechten im Bundestag und ihre Konsequenzen

Nun ist es passiert. Initiiert von Friedrich Merz – dem Kanzlerkandidaten der Union – verabschiedet der Deutsche Bundestag am 29. Januar 2025 Anträge zur Migrationspolitik mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der AfD. Zwar scheitert am 31. Januar der Versuch knapp, das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz zu beschließen, aber diese Sitzungswoche bleibt eine Zäsur in der deutschen Politik. Zum ersten Mal ist ein Antrag im deutschen Bundestag nur durch die Unterstützung der AfD angenommen worden. Zum ersten Mal hat man es sehenden Auges in Kauf genommen, dass es eine Mehrheit für ein Gesetzesvorhaben nur dadurch gibt, dass die AfD diesem Vorhaben zustimmt. Es ist ein neues Kapitel, in dem die AfD aus der Ausgrenzung in die Mitte der politischen Gestaltung tritt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist klar, dass solche Prozesse radikal rechte Parteien wie die AfD stärken.

Blickt man ins europäische Ausland, so sieht man viele Beispiele dieser Prozesse. Zunächst gab es häufig einen Cordon sanitaire um radikal rechte Parteien – so bezeichnet man in der Politikwissenschaft in der Regel das, was in Deutschland gerne als die Brandmauer bezeichnet wird. Mittlerweile sind Kollaborationen mit radikal und extrem rechten Parteien deutlich häufiger geworden. Steht die Brandmauer nun noch? Bröckelt sie? Der Blick auf die empirische Realität zeigt auch, dass binär-verstandene Begriffe wie Cordon sanitaire oder Brandmauer der Vielfalt der Wirklichkeit nicht gerecht werden.

Um den Umgang mit radikal rechten Parteien und seine Auswirkungen zu verstehen, ist es daher sinnvoll, zwei graduelle Prozesse zu unterscheiden: programmatische Anpassung und Einbindung und Zusammenarbeit in legislativen und exekutiven Rollen wie beispielsweise in Koalitionen. Die Politikwissenschaft hat sich ausgiebig damit beschäftigt, wie sich diese Prozesse auf die Legitimierung und schließlich auf den Erfolg radikal rechter Parteien auswirken.

Programmatische Anpassung stärkt radikal rechte Parteien

Programmatische Anpassung an die radikale Rechte betrifft vor allem das Thema Migration. Es ist gut dokumentiert, dass etablierte Parteien (mitte-links und mitte-rechts) restriktivere Positionen zur Migration einnehmen, wenn radikal rechte Parteien erfolgreicher werden. Dies passiert strategisch mit dem Ziel, verloren geglaubte Wähler:innen von radikal rechten Parteien zurückzugewinnen. Politikwissenschaftliche Studien zeigen allerdings auch, dass diese Strategie nicht funktioniert. Wenn andere Parteien restriktivere Positionen zur Migration einnehmen, schwächt das radikal rechte Parteien nicht. Wenn überhaupt, stärkt es diese Parteien eher. Mittelfristig normalisiert und legitimiert es ihre Positionen.

Der Prozess der programmatischen Anpassung führt zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf, der letztlich der radikalen Rechten dient. Dieser Kreislauf lässt sich so auch in Deutschland beobachten. Als Reaktion auf ein Erstarken der AfD (und besonders im Zuge von Ereignissen wie dem Anschlag von Solingen 2024) werden immer drakonischere Maßnahmen zu Flucht und Asyl beschlossen. Medial und politisch wird Migration zum Hauptproblem erklärt. Aktionistische Maßnahmen wie Bezahlkarten oder Grenzkontrollen haben geringe oder gar keine migrationspolitischen Effekte, sie führen aber dazu, ein immer negativeres Bild von Migrant:innen und Geflüchteten zu zeichnen.

Diese Politik – mitgetragen von SPD, Union, Grünen und FDP – beeinflusst, wie Bürger:innen Flucht und Migration wahrnehmen. Das, was Parteien machen und sagen, hat einen starken Einfluss auf die Positionen und Prioritäten von Bürger:innen. Das heißt nicht, dass migrationspolitische Einstellungen nicht auch von realen Sorgen und politischen Ereignissen geprägt werden. Parteien und Medien spielen aber eine fundamentale Rolle bei der politischen Meinungsbildung. Für die Schweiz ist beispielweise sehr gut dokumentiert, wie stark die Positionierungen von Parteien das Abstimmungsverhalten in sachpolitischen Referenden prägen. Es kann also nicht verwundern, dass nach Jahren, in denen die etablierten Parteien nicht müde werden zu betonen, dass es weniger Migration geben muss, dass mehr abgeschoben und kontrolliert werden muss, Bürger:innen ihre Einstellung und Prioritäten dahingehend anpassen. Umfragen bilden diese veränderten Einstellungen dann ab. Politiker:innen gehen auf diese Einstellungen ein. Auch medial werden Umfrageergebnisse als bottom-up Betrachtung sachpolitischer Themen dargestellt. Es wird fast immer ignoriert, dass diese Einstellungen mindestens auch zu einem Teil die Konsequenz politischer und medialer Debatten sind.

Das Zustrombegrenzungsgesetz der Union stellt den Höhepunkt der programmatischen Anpassung der letzten Jahre dar. SPD und Grüne haben diesen letzten Schritt zwar nicht mitgemacht, sie haben mit ihrer Asyl- und Migrationspolitik der letzten Jahre aber dazu beigetragen, die AfD zu stärken und zu normalisieren.

Jede Form der Zusammenarbeit stärkt radikal rechte Parteien

Zusätzlich zur programmatischen Anpassung führten die Entscheidungen im Bundestag dazu, die AfD als relevanten und legitimen Akteur der Politikgestaltung zu etablieren. Kollaboration mit der radikalen Rechten kann viele Formen annehmen. Sie findet nicht erst dann statt, wenn formale Zusammenarbeit beschlossen wird oder wenn radikal rechte Parteien Regierungen beitreten oder unterstützen. Parteien können auf unterschiedlichen Ebenen sowohl legislativ als auch exekutiv mit der radikalen Rechten zusammenarbeiten. Jede Form der Zusammenarbeit führt zu einer stärkeren Normalisierung radikal rechter Parteien. Politikwissenschaftliche Forschung zeigt, dass wenn etablierte Parteien legitimierend mit radikal rechten Parteien umgehen, dann auch Bürger:innen diese Parteien als legitimer wahrnehmen. Signalisieren politische Parteien die Bereitschaft, mit radikal rechten Parteien zusammenzuarbeiten, stärkt das die radikale Rechte.

Zentral ist hierbei eine Verschiebung von Normen, die aus signalisierter Zusammenarbeit resultiert. Normen spielen für politisches Verhalten eine wichtige Rolle. Wie im Alltagsleben lernen wir auch politisch, dass bestimmte Umgangs- und Verhaltensformen legitim sind. Andere Dinge gehören sich schlicht nicht. In seinem vor kurzem erschienen Buch beschreibt der Politikwissenschaftler Vicente Valentim die Rolle von Normen im Aufstieg der radikalen Rechten. In den meisten Ländern gab es zunächst ein Stigma um die radikale Rechte, um ihre Positionen und Rhetorik. Es ging gegen soziale Normen, sich öffentlich zu diesen Parteien zu bekennen, sie zu unterstützen oder für sie politisch anzutreten. Diese Normen wurden aufgeweicht oder sind ganz verschwunden. Zunächst liegt das auch am Erfolg der Parteien selbst. Parteien, die in Parlamenten vertreten sind, werden als „normalere“ Parteien wahrgenommen. Aber auch der Umgang von Medien und anderen Parteien mit der radikalen Rechten hat sich verändert. Sie sind regelmäßige Gäste in verschiedensten medialen Formaten. Protest und Boykott bleiben heute zumeist aus. In vielen Ländern sind radikal rechte Parteien heute so bereits Normalität geworden. Gerade auch junge Menschen zeigen eine immer größere Affinität zu diesen Parteien. Das Stigma ist weg. Allein der Versuch, mit der AfD politische Mehrheiten im Bundestag herzustellen, trägt dazu bei, diese Partei zu normalisieren. Ist soziales Stigma erstmal abgebaut, lässt es sich so leicht nicht wieder herstellen.

Wenn die Brandmauer fällt

Die Konsequenzen von programmatischer Anpassung und Normalisierung der radikalen Rechten lassen sich in vielen europäischen Nachbarländern beobachten. Nach Jahren der programmatischen Annäherung, gab die Vorsitzende der rechtsliberalen VVD Dilan Yeşilgöz im Wahlkampf 2023 bekannt, dass sie eine Regierungszusammenarbeit mit der PVV von Geert Wilders nicht mehr ausschließt. Im Anschluss überholte die PVV die VVD in den Umfragen und wurde schließlich stärkste Partei bei den Parlamentswahlen. Die Ereignisse in den Niederlanden sind keine Ausnahme. In einer Vielzahl von Wahlen in Europa haben radikal rechte Parteien mittlerweile stärkere Ergebnisse erzielt als christdemokratische und konservative Parteien. Dazu zählen: Frankreich, Italien, Österreich und Schweden. In allen diesen Ländern haben sich Mitte-rechts-Parteien den Positionen der radikalen Rechten stark angenähert. In all diesen Ländern wurde der Cordon sanitaire aufgehoben. Im Ergebnis ist die radikale Rechte nun die stärkste Kraft rechts der Mitte. Ein Gegenbeispiel, in dem das Aufheben des Cordon sanitaire dazu geführt hat, die radikale Rechte langfristig zu schwächen, sucht man vergebens.

Die Konsequenzen der Normalisierung und Legitimierung der radikalen Rechten gehen allerdings weit über die Parteienpolitik hinaus. Auch wenn die radikale Rechte noch nicht in Regierungsverantwortung ist wie in den USA, in Italien oder Ungarn, führt ihre Präsenz und Stärke, ihre größere Akzeptanz bereits zu einer Erosion basaler Prinzipien der liberalen Demokratie. Indirekt, weil andere Parteien zunehmend vor inklusiver Politik zurückschrecken, weil Grundrechte und rechtstaatliche Prinzipien in Frage gestellt werden, weil Bekenntnisse zur liberalen internationalen Ordnung ausbleiben. Direkt, weil sich Kräfte Rechtsaußen ermächtigt fühlen. Es folgen zunehmende Bedrohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Minderheiten und diejenigen, die sich für eine andere Politik einsetzen. All das ist diese Woche etwas mehr Teil deutscher Realität geworden. Dazu haben Friedrich Merz und Christian Lindner fundamental beigetragen.


SUGGESTED CITATION  Abou-Chadi, Tarik: Aus dem Abseits in die Mitte der Demokratie: Die Normalisierung der radikalen Rechten im Bundestag und ihre Konsequenzen, VerfBlog, 2025/2/01, https://verfassungsblog.de/aus-dem-abseits-in-die-mitte-der-demokratie/.

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