01 February 2025

Aus dem Abseits in die Mitte der Demokratie

Die Normalisierung der radikalen Rechten im Bundestag und ihre Konsequenzen

Nun ist es passiert. Initiiert von Friedrich Merz – dem Kanzlerkandidaten der Union – verabschiedet der Deutsche Bundestag am 29. Januar 2025 Anträge zur Migrationspolitik mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der AfD. Zwar scheitert am 31. Januar der Versuch knapp, das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz zu beschließen, aber diese Sitzungswoche bleibt eine Zäsur in der deutschen Politik. Zum ersten Mal ist ein Antrag im deutschen Bundestag nur durch die Unterstützung der AfD angenommen worden. Zum ersten Mal hat man es sehenden Auges in Kauf genommen, dass es eine Mehrheit für ein Gesetzesvorhaben nur dadurch gibt, dass die AfD diesem Vorhaben zustimmt. Es ist ein neues Kapitel, in dem die AfD aus der Ausgrenzung in die Mitte der politischen Gestaltung tritt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist klar, dass solche Prozesse radikal rechte Parteien wie die AfD stärken.

Blickt man ins europäische Ausland, so sieht man viele Beispiele dieser Prozesse. Zunächst gab es häufig einen Cordon sanitaire um radikal rechte Parteien – so bezeichnet man in der Politikwissenschaft in der Regel das, was in Deutschland gerne als die Brandmauer bezeichnet wird. Mittlerweile sind Kollaborationen mit radikal und extrem rechten Parteien deutlich häufiger geworden. Steht die Brandmauer nun noch? Bröckelt sie? Der Blick auf die empirische Realität zeigt auch, dass binär-verstandene Begriffe wie Cordon sanitaire oder Brandmauer der Vielfalt der Wirklichkeit nicht gerecht werden.

Um den Umgang mit radikal rechten Parteien und seine Auswirkungen zu verstehen, ist es daher sinnvoll, zwei graduelle Prozesse zu unterscheiden: programmatische Anpassung sowie Einbindung und Zusammenarbeit in legislativen und exekutiven Rollen wie beispielsweise in Koalitionen. Die Politikwissenschaft hat sich ausgiebig damit beschäftigt, wie sich diese Prozesse auf die Legitimierung und schließlich auf den Erfolg radikal rechter Parteien auswirken.

Programmatische Anpassung stärkt radikal rechte Parteien

Programmatische Anpassung an die radikale Rechte betrifft vor allem das Thema Migration. Es ist gut dokumentiert, dass etablierte Parteien (mitte-links und mitte-rechts) restriktivere Positionen zur Migration einnehmen, wenn radikal rechte Parteien erfolgreicher werden. Dies passiert strategisch mit dem Ziel, verloren geglaubte Wähler:innen von radikal rechten Parteien zurückzugewinnen. Politikwissenschaftliche Studien zeigen allerdings auch, dass diese Strategie nicht funktioniert. Wenn andere Parteien restriktivere Positionen zur Migration einnehmen, schwächt das radikal rechte Parteien nicht. Wenn überhaupt, stärkt es diese Parteien eher. Mittelfristig normalisiert und legitimiert es ihre Positionen.

Der Prozess der programmatischen Anpassung führt zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf, der letztlich der radikalen Rechten dient. Dieser Kreislauf lässt sich so auch in Deutschland beobachten. Als Reaktion auf ein Erstarken der AfD (und besonders im Zuge von Ereignissen wie dem Anschlag von Solingen 2024) werden immer drakonischere Maßnahmen zu Flucht und Asyl beschlossen. Medial und politisch wird Migration zum Hauptproblem erklärt. Aktionistische Maßnahmen wie Bezahlkarten oder Grenzkontrollen haben geringe oder gar keine migrationspolitischen Effekte, sie führen aber dazu, ein immer negativeres Bild von Migrant:innen und Geflüchteten zu zeichnen.

Diese Politik – mitgetragen von SPD, Union, Grünen und FDP – beeinflusst, wie Bürger:innen Flucht und Migration wahrnehmen. Das, was Parteien machen und sagen, hat einen starken Einfluss auf die Positionen und Prioritäten von Bürger:innen. Das heißt nicht, dass migrationspolitische Einstellungen nicht auch von realen Sorgen und politischen Ereignissen geprägt werden. Parteien und Medien spielen aber eine fundamentale Rolle bei der politischen Meinungsbildung. Für die Schweiz ist beispielweise sehr gut dokumentiert, wie stark die Positionierungen von Parteien das Abstimmungsverhalten in sachpolitischen Referenden prägen. Es kann also nicht verwundern, dass nach Jahren, in denen die etablierten Parteien nicht müde werden zu betonen, dass es weniger Migration geben muss, dass mehr abgeschoben und kontrolliert werden muss, Bürger:innen ihre Einstellung und Prioritäten dahingehend anpassen. Umfragen bilden diese veränderten Einstellungen dann ab. Politiker:innen gehen auf diese Einstellungen ein. Auch medial werden Umfrageergebnisse als bottom-up Betrachtung sachpolitischer Themen dargestellt. Es wird fast immer ignoriert, dass diese Einstellungen mindestens auch zu einem Teil die Konsequenz politischer und medialer Debatten sind.

Das Zustrombegrenzungsgesetz der Union stellt den Höhepunkt der programmatischen Anpassung der letzten Jahre dar. SPD und Grüne haben diesen letzten Schritt zwar nicht mitgemacht, sie haben mit ihrer Asyl- und Migrationspolitik der letzten Jahre aber dazu beigetragen, die AfD zu stärken und zu normalisieren.

Jede Form der Zusammenarbeit stärkt radikal rechte Parteien

Zusätzlich zur programmatischen Anpassung führten die Entscheidungen im Bundestag dazu, die AfD als relevanten und legitimen Akteur der Politikgestaltung zu etablieren. Kollaboration mit der radikalen Rechten kann viele Formen annehmen. Sie findet nicht erst dann statt, wenn formale Zusammenarbeit beschlossen wird oder wenn radikal rechte Parteien Regierungen beitreten oder unterstützen. Parteien können auf unterschiedlichen Ebenen sowohl legislativ als auch exekutiv mit der radikalen Rechten zusammenarbeiten. Jede Form der Zusammenarbeit führt zu einer stärkeren Normalisierung radikal rechter Parteien. Politikwissenschaftliche Forschung zeigt, dass wenn etablierte Parteien legitimierend mit radikal rechten Parteien umgehen, dann auch Bürger:innen diese Parteien als legitimer wahrnehmen. Signalisieren politische Parteien die Bereitschaft, mit radikal rechten Parteien zusammenzuarbeiten, stärkt das die radikale Rechte.

Zentral ist hierbei eine Verschiebung von Normen, die aus signalisierter Zusammenarbeit resultiert. Normen spielen für politisches Verhalten eine wichtige Rolle. Wie im Alltagsleben lernen wir auch politisch, dass bestimmte Umgangs- und Verhaltensformen legitim sind. Andere Dinge gehören sich schlicht nicht. In seinem vor kurzem erschienen Buch beschreibt der Politikwissenschaftler Vicente Valentim die Rolle von Normen im Aufstieg der radikalen Rechten. In den meisten Ländern gab es zunächst ein Stigma um die radikale Rechte, um ihre Positionen und Rhetorik. Es ging gegen soziale Normen, sich öffentlich zu diesen Parteien zu bekennen, sie zu unterstützen oder für sie politisch anzutreten. Diese Normen wurden aufgeweicht oder sind ganz verschwunden. Zunächst liegt das auch am Erfolg der Parteien selbst. Parteien, die in Parlamenten vertreten sind, werden als „normalere“ Parteien wahrgenommen. Aber auch der Umgang von Medien und anderen Parteien mit der radikalen Rechten hat sich verändert. Sie sind regelmäßige Gäste in verschiedensten medialen Formaten. Protest und Boykott bleiben heute zumeist aus. In vielen Ländern sind radikal rechte Parteien heute so bereits Normalität geworden. Gerade auch junge Menschen zeigen eine immer größere Affinität zu diesen Parteien. Das Stigma ist weg. Allein der Versuch, mit der AfD politische Mehrheiten im Bundestag herzustellen, trägt dazu bei, diese Partei zu normalisieren. Ist soziales Stigma erstmal abgebaut, lässt es sich so leicht nicht wieder herstellen.

Wenn die Brandmauer fällt

Die Konsequenzen von programmatischer Anpassung und Normalisierung der radikalen Rechten lassen sich in vielen europäischen Nachbarländern beobachten. Nach Jahren der programmatischen Annäherung, gab die Vorsitzende der rechtsliberalen VVD Dilan Yeşilgöz im Wahlkampf 2023 bekannt, dass sie eine Regierungszusammenarbeit mit der PVV von Geert Wilders nicht mehr ausschließt. Im Anschluss überholte die PVV die VVD in den Umfragen und wurde schließlich stärkste Partei bei den Parlamentswahlen. Die Ereignisse in den Niederlanden sind keine Ausnahme. In einer Vielzahl von Wahlen in Europa haben radikal rechte Parteien mittlerweile stärkere Ergebnisse erzielt als christdemokratische und konservative Parteien. Dazu zählen: Frankreich, Italien, Österreich und Schweden. In allen diesen Ländern haben sich Mitte-rechts-Parteien den Positionen der radikalen Rechten stark angenähert. In all diesen Ländern wurde der Cordon sanitaire aufgehoben. Im Ergebnis ist die radikale Rechte nun die stärkste Kraft rechts der Mitte. Ein Gegenbeispiel, in dem das Aufheben des Cordon sanitaire dazu geführt hat, die radikale Rechte langfristig zu schwächen, sucht man vergebens.

Die Konsequenzen der Normalisierung und Legitimierung der radikalen Rechten gehen allerdings weit über die Parteienpolitik hinaus. Auch wenn die radikale Rechte noch nicht in Regierungsverantwortung ist wie in den USA, in Italien oder Ungarn, führt ihre Präsenz und Stärke, ihre größere Akzeptanz bereits zu einer Erosion basaler Prinzipien der liberalen Demokratie. Indirekt, weil andere Parteien zunehmend vor inklusiver Politik zurückschrecken, weil Grundrechte und rechtstaatliche Prinzipien in Frage gestellt werden, weil Bekenntnisse zur liberalen internationalen Ordnung ausbleiben. Direkt, weil sich Kräfte Rechtsaußen ermächtigt fühlen. Es folgen zunehmende Bedrohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Minderheiten und diejenigen, die sich für eine andere Politik einsetzen. All das ist diese Woche etwas mehr Teil deutscher Realität geworden. Dazu haben Friedrich Merz und Christian Lindner fundamental beigetragen.


SUGGESTED CITATION  Abou-Chadi, Tarik: Aus dem Abseits in die Mitte der Demokratie: Die Normalisierung der radikalen Rechten im Bundestag und ihre Konsequenzen, VerfBlog, 2025/2/01, https://verfassungsblog.de/aus-dem-abseits-in-die-mitte-der-demokratie/, DOI: 10.59704/443bf09fa9ac2c31.

13 Comments

  1. Erfolgswertgleichheit Mon 3 Feb 2025 at 01:35 - Reply

    1. Warum soll es ein Aufheben des cordon sanitaire sein, wenn die Union politische Vorschläge zur Korrektur der Migrationspolitik Angela Merkels bei gleichzeitig scharfer Abgrenzung zur AfD einbringt, die eine große Mehrheit in der Bevölkerung und die Wähler aller Parteien bis auf Grüne und Linke mehrheitlich in der Sache für richtig halten?

    2. Wie erklärt sich der Autor, dass infolge der migrationspolititischen Wende der dänischen Sozialdemokratie bei gleichzeitig deutlich linkerer Wirtschaftspolitik unter Mette Frederiksen seit 2015 die rechtspopulistische Dansk Folkeparti von gut 20 % auf heute 2 % zurechtgestutzt wurde und die dänischen Sozialdemokraten zwischenzeitlich sogar allein regieren konnten?

    3. Müsste ein Artikel zu diesem Thema sich damit nicht zumindest auseinandersetzen, um sich vor dem Hintergrund von apodiktischen Formulierungen wie

    “Ein Gegenbeispiel, in dem das Aufheben des Cordon sanitaire dazu geführt hat, die radikale Rechte langfristig zu schwächen, sucht man vergebens.”

    nicht den Vorwurf der mangelnder Seriosität einzuhandeln?

    4. Und warum hat keiner aus dem verfassungsblog-team dazu kritisch nachgefragt?

    • Manuel Müller Tue 4 Feb 2025 at 10:46 - Reply

      Zu dem immer wieder angeführten Beispiel Dänemarks: Der Niedergang der Dansk Folkeparti ist vor allem die Folge einer Umstrukturierung *innerhalb* des Rechtsaußen-Lagers durch das Hinzukommen neuer Parteien. Das sind vor allem die Danmarksdemokraterne, die nach ihrer Gründung bei der Wahl 2022 aus dem Stand auf über 8 Prozent kamen und heute in Umfragen bei 11-12 Prozent stehen. Nimmt man die DF (2022: etwas über 2,5%, heute 4-5%), die Nye Borgerlige (2022: 3,5%, heute weitgehend irrelevant) und die Borgernes Parti (2022 noch nicht gegründet, heute ca. 1,5%) hinzu, so ist das Rechtsaußen-Lager als Ganzes in Dänemark heute nur geringfügig schwächer als 2015.

      Gleichzeitig hat übrigens auch die dänische Socialdemokratiet durch ihren Rechtsruck nicht nennenswert Wählerstimmen dazugewonnen. Sie stand 2015 bei knapp 26,5 Prozent, erreichte bei der Wahl 2022 27,5% und steht in Umfragen heute bei rund 20%.

      Die größten Zugewinne machte in den letzten Jahren hingegen die links-grüne SF, die unter den großen dänischen Parteien den migrationspolitischen Rechtsruck am wenigsten weit mitgegangen ist. Sie stand 2015 bei etwas über 4 Prozent, erreichte 2022 knapp 8,5 Prozent und steht heute in den Umfragen bei über 15 Prozent.

      • Erfolgswertgleichheit Tue 4 Feb 2025 at 23:43 - Reply

        1. Sie erwähnen (bewusst?) nicht die erste Wahl nach der Migrationswende 2019, die eben sehr wohl dazu geführt hat, dass das rechte Lager insgesamt massiv eingebüßt hat.

        2. Selbst wenn man Ihren Weg, 1. Umfrageergebnisse mit Wahlergebnissen gleichzusetzen und 2. Parteien zu berücksichtigen, die an der Sperrklausel scheitern würden, “methodisch” mitgeht und dazu 3. immer den besten Wert der von Ihnen angegebenen Spanne zugrundelegt, ergäbe sich immer noch eine beachtliche Differenz von mehreren Prozentpunkten.

        3. Davon abgesehen sind Umfragewerte eben keine Wahlergebnisse. Die harten Fakten sind: Die dänischen Sozialdemokraten waren bei der Wahl 2022 mehr als doppelt so stark wie die zweitplatzierten Liberalen und somit absolut unangefochten die dominierende politische Kraft. So etwas gab es zuletzt 1990.

        4. Auch ihr Hinweis darauf, dass sich SF seit 2015 verdreifacht hat, spricht jedenfalls gegen die These des Autors, eine restriktive Migrationspolitik stärke zwangsläufig die radikale Rechte. Das ist schlicht falsch und am gewünschten Ergebnis orientiert. Herr Abou-Chadi ist bekannt dafür, dass seine Forschungsergebnisse zufällig immer genau dazu führen, dass Sozialdemokraten aus strategischer SIcht genau das umsetzen müssen, was den Vorstellungen der angelsächsischen Neuen Linken enspricht bzw. das nicht umsetzen dürfen, was den Vorstellungen der angelsächsischen Neuen Linken widerspricht. Sozialdemokraten müssen aber nicht linken Aktivisten gefallen, sondern (auch) das untere Drittel der Gesellschaft ansprechen. Eine Migrations- und Einwanderungspolitik, wie sie in den letzten 10 Jahren gemacht wurde hat, ist dort schlicht nicht vermittelbar.

        • Manuel Müller Wed 5 Feb 2025 at 16:00 - Reply

          Es geht ja um “langfristige Schwächung”, nicht um ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger bei einzelnen Wahlen. Kern der Beobachtung ist, dass das Rechtsaußenlager in Dänemark in mehrere Parteien zersplittert, aber insgesamt kaum kleiner geworden ist. Ein “Zurückgewinnen” von Wähler:innen durch die Parteien der Mitte (und das ist es ja, worauf die Strategie der Policy-Anpassung abzielt) fand trotz des migrationspolitischen Rechtsrucks nicht statt. Auch dass die Sozialdemokraten bei der Wahl 2022 deutlich auf Platz 1 lagen, lag nicht daran, dass sie selbst stark zugelegt hätten, sondern dass auch das Mitte-rechts-Lager zersplitterte und die liberale Venstre Stimmen an die LA und die Moderaterne verlor.

          Unter dem Strich bleibt damit, dass Dänemark eben kein Gegenbeispiel ist, “in dem das Aufheben des Cordon sanitaire dazu geführt hat, die radikale Rechte langfristig zu schwächen”.

          • Erfolgswertgleichheit Wed 5 Feb 2025 at 18:03

            Jetzt flüchten Sie sich in Semantik, um Ihren Punkt zu retten. Der ursprüngliche Punkt war ja auch gar nicht unbedingt, dass Dänemark ein klares Gegenbeispiel ist. Der Punkt war, dass Dänemark als Elefant im Raum nicht einmal angesprochen (!) wird. Zudem hat der Autor über die von mir im Ausgangskommentar zitierte These hinaus auch noch folgende These aufgestellt: “Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist klar, dass solche Prozesse radikal rechte Parteien wie die AfD stärken. ” Und die stimmt nunmal einfach nicht, wie u.a. Dänemark zeigt.

  2. Joachim Sonnen Mon 3 Feb 2025 at 08:12 - Reply

    Guten Tag Herr Abou-Chadi,

    danke für diesen Artikel. mit Ihrer Beschreibung wird es für mich nachvollziehbarer wie die Wirkmechanismen arbeiten die zur Normalisierung von rechtspopulistischem Denken und politischem Handeln führen.
    Eine wichtige Rolle spielen dabei aus meiner Sicht Politiker, Medien und Meinungsbildner im sozialen Umfeld.
    Kennnen Sie vielleicht Untersuchungen, Studien, die sich damit befassen warum und wie die Veränderungen in Wahrnehmung und Handeln zustande kommen, welche Faktoren dafür ausschlaggebend sind, welche Kipppunkte auftreten ?

    Viele Grüße
    Joachim Sonnen

  3. Martin Höpner Mon 3 Feb 2025 at 11:17 - Reply

    Grenzen wir den Gegenstand auf die Frage ein, ob rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien durch Regierungsbeteiligungen oder durch die Unterstützung von Minderheitsregierungen bei späteren Wahlen profitieren oder verlieren, dann würde ich den Forschungsstand ehrlich gesagt gerade nicht als eindeutig bezeichnen. Beobachtungspunkte gibt es viele, denn in vielen europäischen Ländern haben sich solche Parteien ja schon früher als in Deutschland in den Parteiensystemen etabliert, Deutschland ist hier Nachzügler. Entsprechend ist es ein beliebtes Forschungsthema (die entsprechenden Studien sind leicht im Netz zu finden). Die Ergebnisse sind höchst uneindeutig, es gibt Beispiele für Gewinne und Verluste. Wenn negative Effekte gezeigt werden, werden sie in der Regel als Entzauberungs-Effekt theoretisiert: Wer Kompromisse eingehen muss, kann an Glaubwürdigkeit verlieren. Die Konstellation der Unterstützung von Minderheitsregierungen finden wir vor allem in den skandinavischen Ländern. Oft unterscheiden die Studien auch Kurzzeit- und Mittelfrist-Effekte: Kurzzeitige Stabilisierung, mittelfristige Destabilisierung – aber auch das will ich nicht als eindeutigen Trend verkaufen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch ich finde die jüngsten Geschehnisse in Deutschland, die ja noch weit von einer Regierungsbeteiligung oder Stützung einer Minderheitsregierung entfernt sind, nicht gut. Aber die Datenlage ist uneindeutiger als hier nahegelegt. Man sollte jede Konstellation in ihrem eigenen Kontext betrachten.

    • Beat Küffer Mon 3 Feb 2025 at 14:43 - Reply

      All diese wissenschaftlichen Studien integrieren meiner Meinung zu wenig, dass Druck auch Gegendruck erzeugt.
      So lange die Mitte- und/oder Linksparteien die Themen der Rechtsparteien als nichtig und kaum wichtig betrachten, werden diese zum Thema in der Bevölkerung und bedeutungsvoller. Konsequenteres Analysieren was die breite Bevölkerung betrifft und nicht nur die eigene ideologische Quentel, wäre vielleicht wirkungsvoller. Hier dürften neue wissenschaftliche Untersuchungen vielleicht auch neue Resultate aufzeigen.
      Interessanterweise werden im politischen System der Schweiz alle Parteien in die Regierung eingebunden – eine Stärke wie sie die AfD in Deutschland hat, würde sich in der Exekutive entsprechend auswirken. Die Geschichte zeigt, dass extreme Polparteien von ganz rechts und und ganz links zwar existierten, aber in relativ kurzer Zeit wieder bedeutungslos oder verschwunden sind. (Nationale Aktion, graue Panter , Kommunisten etc.)
      Wie weit ist die Forschung zu einem Vergleich der heutigen Regierungsform zu einer grundlegenden Mehrparteienregierung ohne vorhergehende Koalitionsverpflichtung?

  4. C. Bauer Mon 3 Feb 2025 at 11:41 - Reply

    Die Differenzierung zwischen programmatischer Annäherung und Aufhebung des cordon sanitaire ist richtig und wichtig. Dass eine programmatische Annäherung, die in der Sache geboten ist, von der demokratischen Mitte getragen und wirkungsvoll und glaubwürdig vollzogen wird, zwangsläufig in einem Machtzuwachs rechtsradikaler Parteien endet, lässt sich jedoch empirisch nicht eindeutig beweisen. Mit Dänemark steht sogar ein Gegenbeispiel bereit. Dass eine restriktive Migrationspolitik zudem nicht zwangsläufig die liberale Demokratie ins Wanken bringt, lässt sich in Polen seit 2023 beobachten.

    • Günther Mon 3 Feb 2025 at 18:11 - Reply

      Inwiefern ist Dänemark denn ein Gegenbeispiel? Ist in Dänemark eine Mitte-Regierung an der Macht?

  5. RotBo Mon 3 Feb 2025 at 14:01 - Reply

    In meinem kleinen begrenzten persönlichen Umfeld stelle ich fest, was Sie schreiben. Die Taschenlampenrhetorik der etablierten Parteien befördert rassistische und ausgrenzende Sichtweisen und Argumente vorwiegend nicht betroffener Bürger, sebst zugereiste Mitbewohner mit Migrationshintergrund bedienen sich oft angstvoll dieser Phrasen, aus Sorge nicht dazu gehören zu dürfen. Die Migrationsdebatte ist bereits “scheinbar” identitätsstiftend geworden, aus meiner Sicht mit grober Vernachlässigung der wirklich vorhandenen Gemeinsamkeiten. Die bestehenden Gemeinsamkeiten zu betonen und hervorzuheben, wäre oberste Pflicht im politischen Diskurs.

  6. Rudolf Ott Mon 3 Feb 2025 at 15:18 - Reply

    Sehr geehrter Herr Abou-Chadi,
    die Idee des Cordon sanitaire hat schon in der Zwischenkriegszeit nicht funktioniert.
    Wie definieren sie Mitte, Mitte-Links, Mitte-rechts? Welche philosophischen und historischen Gedankengebäude legen Sie zugrunde?
    Die Realpolitik Merkels erzeugte zunächst Euphorie, die sehr schnell aufgrund der Realitäten kippte.
    Wann ist eine Partei radikal? Für Merkel schon die AfD im Stadium von Prof. Lucke und Olaf Henkel als Eurokritiker.
    Es ist offenkundig, daß sich die AfD infolge des Rechtsbruches der Regierung Merkel Zulauf verschaffen konnte. Welche Bedingungen waren in der BRD abweichend, daß die AfD ohne eigenes Zutun immer mehr Zulauf erhielt? Mit Recht wird im Blog darauf hingwiesen, daß Dänemark als liberale Demokratie nicht ins wanken geriet, weil eine rechte Partei auftrat. Und ebenso in Schweden.
    Wie ist dieser Vorgang in einem Verfassungsblog einzuordnen? Erhellend im Zusammenhang mit Migration ist Paul Colliers “EXODUS” Warum wir eine andere Migrationspolitik brauchen. Sehr lesenswert auch:
    Peter Meinhold: Die Religionen der Gegenwart 1978
    Peter Scholl-Latour: Allah ist mit den Standhaften 1985
    Emma Brunner-Traut: Die fünf großen Weltreligionen 1991
    Friedrich Wilhelm Graf: Götter Global, München o.J.
    V.S. Naipaul: Jenseits des Glaubens. 2002

  7. Eurowriter Mon 3 Feb 2025 at 21:54 - Reply

    Leider gestatten die Spielregeln der Demokratie einer wachsenden Zahl von Personen, rechte oder teilweise rechts-extreme Parteien zu wählen, sei es aus Protest, aus Dummheit oder aus Überzeugung (Wahlentscheidungen sind geheim und nicht begründungspflichtig!). Zwei Möglichkeiten könnten diesen Trend stoppen: a. ein gerichtliches Verbot der betreffenden Partei b. eine überzeugende, erfolgreiche und bürgernahe Politik anderer Parteien.
    Momentan scheint es jedoch fast weltweit die Tendenz zu geben, dass Demokratiegegner mithilfe demokratischer Prozesse in Machtpositionen gelangen und so “Randparteien” und Extrempositionen mehr und mehr salonfähig machen.

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