18 September 2024

Deutschlands Grenzüberschreitung

Warum die Wiedereinführung der Grenzkontrollen gegen Europarecht verstößt

Seit Montag kontrolliert die Bundespolizei alle deutschen Landesgrenzen. Damit solle unter anderem gegen irreguläre Migration und Islamisten vorgegangen werden. Bundesinnenministerin Faser hat die Europäische Kommission am 9. September 2024 gemäß Art. 27 Abs. 1 Schengener Grenzkodex (SGK) über das Vorhaben notifiziert. Bereits seit 2015 führt die Bundesrepublik an der Binnengrenze zu Österreich „temporäre“ Grenzkontrollen durch, die auch in der Vergangenheit auf Kritik gestoßen und vom VG München (Rn. 35) in einem obiter dictum für unionsrechtswidrig erklärt worden sind. Die jetzige Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen stößt neben deutlicher Kritik zwar auch auf politische Zustimmung im In– und Ausland. Aus rechtlicher Perspektive zeigt sich jedoch, dass die Binnengrenzkontrollen unionsrechtswidrig sein dürften.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Mit Inkrafttreten des ersten Schengener Abkommens von 1985 wurden stationäre Grenzkontrollen innerhalb der Vertragsstaaten auf völkervertragsrechtlicher Ebene abgeschafft. Durch den Vertrag von Amsterdam von 1997 wurde der Schengen-Acquis in das Unionsrecht überführt. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist seither eines der Integrationsziele der Europäischen Union. Der im Primärrecht verbürgte Grundsatz der Abwesenheit von Grenzkontrollen an Binnengrenzen und das individuelle Freizügigkeitsrecht (Art. 21 Abs. 1 AEUV, 45 GrCh) werden in Art. 1 und 22 SGK bzw. in Art. 5 der RL 2004/38 einfachgesetzlich konkretisiert. Von diesem Grundsatz sieht Art. 25 Abs. 1 SGK Ausnahmen für den Fall vor, dass die „öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ ist. In diesen Fällen ist diesem Mitgliedstaat unter „außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen gestattet“ (Art. 25 Abs. 1 SGK). Als Beispiele für eine solche ernsthafte Bedrohung nennt die novellierte Fassung des Art. 25 Abs. 1 SGK u.a.:

terroristische Vorfälle oder Bedrohungen, einschließlich Bedrohungen, die von schwerer organisierter Kriminalität ausgehen“ (lit: a) und

eine außergewöhnliche Situation, in der plötzlich eine sehr hohe Zahl unerlaubter Migrationsbewegungen von Drittstaatsangehörigen zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet, wodurch die Ressourcen und Kapazitäten der gut vorbereiteten zuständigen Behörden insgesamt erheblich unter Druck geraten und das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt wahrscheinlich gefährdet ist, wobei diese Situation durch Informationsanalysen und alle verfügbaren Daten, auch von betreffenden Agenturen der Union, belegt wird“ (lit. c).

Art. 25 Abs. 2 sowie ErwG. 21 SGK betonen zudem, dass Binnengrenzkontrollen ausschließlich als ultima ratio eingeführt werden dürfen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren müssen. Seit einer Novellierung im Jahr 2024 gibt Art. 26 SGK weitere Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung vor. Demnach muss insbesondere berücksichtigt werden, ob Binnengrenzkontrollen „angesichts der Art der ermittelten ernsthaften Bedrohung“ geeignet sind und ob die Ziele nicht durch alternative Maßnahmen i.S.d. Art. 23 SGK (zB die umstrittene Schleierfahndung, § 23 BPolG, oder ähnliche Maßnahmen) oder das Überstellungverfahren des Art. 23a SGK erreicht werden können. Zudem sind die Auswirkungen auf den Personenverkehr sowie das Funktionieren der Grenzregionen zu berücksichtigen. Darüber hinaus muss die Wiedereinführung unter Angabe von Gründen der Kommission mitgeteilt werden. In dieser Mitteilung sind auch Verhältnismäßigkeitserwägungen anzuführen (Art. 27 Abs. 1 SGK). Den Mitgliedsstaaten wird bei der Entscheidung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen ein gewisser Entscheidungsspielraum zugebilligt. So betont der EuGH, dass es „[n]ach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs […] allein Sache der Mitgliedstaaten [ist], ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen und die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten“ (hier, Rn. 84). Primärrechtlich lässt sich diese Einschätzungsprärogative auch auf Art. 4 Abs. 2 S. 2 EUV, nach welchem die Union die grundlegenden Funktionen des Staates achtet, sowie auf Art. 72 AEUV stützen. Die Entscheidung ist jedoch weiterhin gerichtlich überprüfbar. Zudem geht der EuGH in seiner Rechtsprechung zum SGK davon aus, dass die Ausnahmen i.S.d. Art. 25 ff. SGK eng auszulegen sind (hier m.w.N., Rn. 64 ff., vgl. auch ErwG. 27 SGK). So fordert das Gericht eine tatsächliche Gefahr (hier, Rn. 33/35 sowie ErwG. 23), ein bloßes Risiko ist nicht hinreichend. Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung reicht jedenfalls nicht aus (vgl. Generalanwalt Saugmansgaard Øe, Fn. 44).

Die deutsche Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen

Die Mitteilung des Bundesinnenministeriums an die Kommission i.S.d Art. 27 SGK ist derzeit noch nicht (vollständig) öffentlich (ein Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz ist jedoch bereits eingereicht). Bis zur Veröffentlichung der Mitteilung lassen sich jedoch bereits anhand der Presserklärungen des BMI zur Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen sowie öffentlich gewordener Passagen der Notifizierung erste rechtliche Erwägungen anstellen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat die Wiedereinführung der Grenzkontrollen mit der „weiteren Begrenzung der irregulären Migration“, „akuten Gefahren des islamistischen Terrors“ und der „schweren Kriminalität“ begründet und stellt diese in einen Zusammenhang mit der Terrorattacke von Solingen (hier). Darüber hinaus betonte sie, dass diese nationalen Maßnahmen bis zu einer Stärkung der europäischen Außengrenzen durch das GEAS notwendig seien. Die Kontrollen ermöglichen zudem „effektive Zurückweisungen“, sodass ein gewisser Nexus zwischen Grenzkontrollen und Zurückweisungen hergestellt wird. Belegt wird dies mit der Anzahl von 30.000 Zurückweisungen seit der temporären Wiedereinführung der Grenzkontrollen seit Oktober 2023. Zudem ist sich Ministerin Faeser auch sicher, dass die Maßnahmen unionsrechtsmäßig sind (11:45).

Nimmt man angesichts eines gewissen Entscheidungsspielraums der Mitgliedsstaaten zunächst die Wirksamkeit von Binnengrenzkontrollen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung an, so ist die Wiedereinführung dennoch in dreierlei Hinsicht problematisch:

Gefahr oder Risiko?

Zunächst bleibt die Gefahrenbeschreibung (etwa islamistischer Terrorismus und schwere grenzüberschreitende Kriminalität) abstrakt. Für die Ausnahmevorschrift des Art. 25 Abs. 1 SGK bedarf es jedoch tatsächlicher Gefahren. Mit anderen Worten: Das „Dauerrisiko“, das von islamistischem Terrorismus und grenzüberschreitender Kriminalität ausgeht, ist nicht ausreichend. Es genügt auch nicht den Anforderungen von Art. 25 Abs. 1 SGK, dass nach der schrecklichen Attacke von Solingen das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung beeinträchtigt ist, auf welches sich die Bundesinnenministerin jedoch beruft. Ob die Notifikation des BMI auf einer umfassenden Gefährdungsanalyse beruht, die eine andere Bewertung zulässt, bleibt abzuwarten.

Auch die derzeitige „irreguläre Migration“ kann keine Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen rechtfertigen. Zwar ist die illegale Einwanderung in die Bundesrepublik, anders als die Anzahl der Asylanträge, zuletzt gestiegen (hier). Hierbei muss aber auch berücksichtigt werden, dass die Bundespolizei seit Oktober 2023 an weiteren Binnengrenzen kontrolliert, was in einem größeren Hellfeld resultieren dürfte. Zudem ist eine von Art. 25 Abs. 1 SGK beispielhaft genannte „außergewöhnliche Situation, in der plötzlich eine sehr hohe Zahl unerlaubter Migrationsbewegungen“ stattfindet, die das Funktionieren des Schengen-Systems als solches „wahrscheinlich gefährden“ wird, nicht ersichtlich. Hier dürfte es, auch unter Berücksichtigung einer Einschätzungsprärogative der Mitgliedsstaaten, jedenfalls an der Plötzlichkeit fehlen. Auch erscheint mindestens fraglich, ob vor dem Hintergrund der restriktiven Auslegung der Ausnahmetatbestände durch den EuGH von einer „außergewöhnlichen Situation“ gesprochen werden kann. So geht auch der Schengen-Status-Bericht 2024 („weiterhin widerstandsfähig”, S. 1) derzeit nicht davon aus, dass der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts konkret gefährdet ist.

Die Aufzählung in Art. 25 Abs. 1 SGK ist zwar nicht abschließend („insbesondere“). Gleichwohl hat der europäische Gesetzgeber mit der Novellierung des Jahres 2024 die Ausnahmefälle konkretisiert und damit den Einschätzungsspielraum der Mitgliedsstaaten eingeschränkt. Daher ist bereits zu hinterfragen, ob überhaupt eine hinreichende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht, die die Einführung von Grenzkontrollen rechtfertigen könnte, ohne überhaupt in die konkrete Abwägung mit wirtschaftlichen sowie integrationspolitischen Auswirkungen einzutreten.

Grenzkontrollen an allen deutschen Binnengrenzen

Auch die Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen an allen deutschen Binnengrenzen hält der rechtlichen Bewertung nicht stand. In seiner „Halbzeitbilanz“ zu den temporären Binnengrenzkontrollen zur EM und Olympia 2024 hält die Bundespolizei fest, dass lediglich ein Drittel der illegalen Grenzüberquerungen die hochfrequentierten (vgl. zum Güterverkehr hier, eine Statistik zum grenzüberschreitenden Personenverkehr liegt nicht vor) Grenzen zu Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, Dänemark und den binnengrenzüberschreitenden See- und Luftverkehr betrifft. Hier müsste die Bundesregierung evidenzbasiert, z.B. auf Grundlage der Anzahl illegaler Einreisen im Verhältnis zur Gesamtanzahl der Einreisen sowie unter Berücksichtigung tatsächlicher Gefahren an der konkreten Binnengrenze, angemessen reagieren. Dass trotzdem – ohne Differenzierung zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten – an allen Binnengrenzen Grenzkontrollen stattfinden, überzeugt vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht. Hier bedürfte es eines erheblichen Argumentationsaufwands seitens des Bundesinnenministeriums, dass beispielsweise an der deutsch-dänischen Grenze, die lediglich 68 km umfasst, keine anderen Maßnahmen i.S.d. Art. 23 und 23a SGK die öffentliche Sicherheit und Ordnung sichern können.

Sofortiges Handeln

Zweifelhaft ist auch, ob die Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen mit einer Ankündigungsfrist von einer Woche den Anforderungen des SGK entspricht. Dort sieht Art. 25a SGK zwar vor, dass auch sofortiges Handeln der Mitgliedsstaaten in Abweichung zur Ankündigungsfrist von grundsätzlich vier Wochen (vgl. Art. 25a Abs. 4 SGK sowie Art. 27 SGK a.F.), die auch Konsultationen zwischen Mitgliedsstaaten und Kommission ermöglichen soll (Art. 27a SGK), erforderlich sein kann. Dies ist jedoch ausschließlich bei „unvorhersehbaren ernsthaften Bedrohungen“ möglich. Jedenfalls in der Ankündigung der Ministerin ist von einer dahingehenden Spezifizierung aber nichts zu sehen. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit dürfte diese Ausnahme zudem eng auszulegen sein (Art. 4 Abs. 3 EUV).

Rettungsanker Art. 72 AEUV?

Wenig überzeugend sind schließlich auch Verweise auf eine „Notlage“ nach Art. 72 AEUV (z.B. von Thorsten Frei (1:20) oder Friedrich Merz (13:07)). Der EuGH hatte vorherigen Versuchen der Mitgliedsstaaten (auch der deutschen Regierung), sich pauschal auf Art. 72 AEUV zu berufen, in früheren Verfahren bereits eine deutliche Absage erteilt (hier, Rn. 55, 83 ff. und hier, Rn. 142 ff.). Einerseits könnte man argumentieren, dass die Art. 25 SGL lex specialis Regeln zu Art. 72 AEUV darstellen (vgl. hier die Auffassung des vorlegenden österreichischen Gerichts, Rn. 36), andererseits mit dem EuGH, dass ein solcher umfassender Anwendungsvorbehalt der Systematik des Unionsrechts widerspricht (hier, Rn. 86). Insgesamt ist – vor dem derzeitigen Kenntnisstand der Äußerungen der Bundesinnenministerin – daher davon auszugehen, dass die temporären Binnengrenzkontrollen unionsrechtswidrig sind (so auch andeutend auf dem Verfassungsblog hier und hier, vgl. für frühere Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze hier).

Rechtsschutz für den Rechtsstaat

Wie die bisherige Praxis der Kommission gezeigt hat, ist – trotz der durch die Novelle gestärkten Kontrollfunktion der Kommission – nicht zu erwarten, dass diese tätig wird und ihre Rolle als Hüterin der Verträge erfüllt (mit diesbezüglicher Kritik auch GA Saugmansgaard Øe, Rn. 73). Die Äußerungen des polnischen Ministerpräsidenten Tusk stimmen aber hoffnungsvoll, dass andere Mitgliedssaaten bei weiterer Untätigkeit der Kommission zunächst ein Konsultationsverfahren i.S.d. Art. 27a SGK und anschließend auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das deutsche Vorgehen einleiten.

Darüber hinaus ist nicht zuletzt aber auch die Zivilgesellschaft zum Schutz des Rechtsstaats gefragt. So kann im Wege von Klagen gegen Grenzkontrollen, bspw. in Form von Anfechtungsklagen gegen Bußgeldbescheide, die Unionsrechtmäßigkeit der temporären Binnengrenzkontrollen inzident überprüft werden. Die Problematik der Erledigung im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage gegen Grenzkontrollen als solche könnte im Lichte des Art. 47 GrCh zudem durch ein Vorabentscheidungsverfahren geklärt werden (hierzu).

Ausblick

Aufgrund erheblicher Bedenken über die Unionsrechtskonformität der Binnengrenzkontrollen, aber auch angesichts des Vertrauensverlusts zwischen den Mitgliedsstaaten, deutlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen sowie drohenden Nachahmungseffekten weiterer Mitgliedsstaaten ist zu hoffen, dass die Ampel-Regierung die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen auch vor einer gerichtlichen Überprüfung überdenkt. „In einem Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen bedarf es einer gemeinsamen Antwort auf Situationen, die eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit dieses Raum[es]“ darstellen (ErwG. 22 SGK).