Ausgebremst
Zur gescheiterten Verfassungsbeschwerde gegen die Nichteinführung eines Tempolimits
Das Bundesverfassungsgericht hat am 17. Januar 2023 einen Beschluss zur Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde veröffentlicht. Die Beschwerdeführenden haben sich gegen die Nichteinführung eines Tempolimits auf Bundesautobahnen gerichtet und sich dabei auf den Klimaschutz berufen. Damit hatten sie keinen Erfolg, obwohl die Klimaentscheidung von März 2021 den Klimaschutz doch scheinbar verfassungsrechtlich „beschlussfähig“ machte.
Der Beschluss zeigt, dass auch ein intertemporaler Freiheitsschutz Beschwerdeführenden keine weiteren Zugänge für Rügen im Bereich von Art. 20a GG eröffnet und Klimaklagen keine einzelnen klimarelevanten Maßnahmen verfassungsrechtlich einfordern können. Um dies zu ändern, müsste die Gesetzgebung tätig werden und Art. 20a GG verfassungsprozessual handhabbar machen.
Ein Tempolimit ist nicht einklagbar
Die Beschwerdeführenden versuchten mit ihrer Verfassungsbeschwerde, eine Verletzung von Art. 20a GG – einer Staatszielbestimmung, die sowohl den Umwelt- als auch Klimaschutz verfassungsrechtlich verankert – subjektiv geltend zu machen. Hierzu beriefen sie sich auf den intertemporalen Freiheitsschutz der Klimaentscheidung aus März 2021. Die aufsehenerregende Entscheidung zum Klimaschutz hatte Art. 20a GG im Bereich des Klimaschutzes zwar operationalisierbar gemacht, indem internationale Verpflichtungen als gesetzgeberische Konkretisierungen des Schutzniveaus von Art. 20a GG verstanden und der Gesetzgeber an diesen eigenen Entscheidungen gemessen wurde. Allerdings zeigte sich nicht deutlich, unter welchen Voraussetzungen eine Rüge des intertemporalen Freiheitsschutzes zukünftig möglich sein würde.
Um nun eine Verletzung dieses intertemporalen Freiheitsschutzes zu rügen, argumentieren die Beschwerdeführenden, dass die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen eine geringere gegenwärtige Freiheitseinschränkung im Vergleich zu erforderlichen zukünftigen Freiheitseinschränkungen aufgrund des fortschreitenden Klimawandels darstellt. Außerdem sehen sie die Freiheitseinschränkungen als unter Art. 20a GG gerechtfertigt aufgrund der daraus zu erreichenden CO2-Einsparungen.
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde jedoch nicht zur Entscheidung an – „die Beschwerdeführenden haben die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht hinreichend dargelegt.“ Das mag verwundern, wenn man sich an den international diskutierten Klimabeschluss aus 2021 erinnert, der als Zeichen für die Belange des Klimaschutzes, die Bedeutsamkeit von Art. 20a GG und nicht zuletzt als Anschub für strategische Prozessführung im Bereich des Klimaschutzes auf Verfassungsebene verstanden wurde. Allerdings – und das wird hier deutlich – ging dieses Zeichen nicht über eine allgemeine Betonung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Klimaschutzes hinaus. Denn die Konstruktion des intertemporalen Freiheitsschutzes erfolgte aus einer Gesamtschau der Grundrechte und macht so weiterhin notwendig, dass eine spezifische Verletzung von Grundrechten vorliegt.
In seinem neuen Beschluss stellt das Bundesverfassungsgericht nun klar, dass es mit der Klimaentscheidung gerade kein neues Grundrecht schaffen, sondern dem Gewicht des Klimaschutzes „in allen Abwägungsentscheidungen des Staates“ Ausdruck verleihen wollte [Rn. 3]. Ein Verstoß gegen Art. 20a GG könne hingegen nur mittelbar gerügt werden, wenn ein Eingriff in Grundrechte vorliege [Rn. 4]. Eine eingriffsähnliche Vorwirkung sieht das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht als substantiiert dargelegt [Rn. 5].
Sich lediglich gegen das Fehlen einer einzelnen gesetzgeberischen Maßnahme zu wenden, reicht für die Annahme der Verfassungsbeschwerde folglich nicht aus. Stattdessen müsse sich die Verfassungsbeschwerde „grundsätzlich gegen die Gesamtheit der zugelassenen Emissionen richten, weil regelmäßig nur diese, nicht aber punktuelles Tun oder Unterlassen des Staates die Reduktionslasten insgesamt unverhältnismäßig auf die Zukunft verschieben könnte“ [Rn. 5]. Darin deutet sich an, dass bloß eine Beschwerde gegen das Klimaschutzgesetz insgesamt – also die Situation der Klimaentscheidung von 2021 – Aussicht hat, am Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen zu werden. Die Rüge des Nichthandelns in einem bestimmten Sektor reicht hingegen nicht aus.
Verfassungsgerichtlicher Klimaschutz in der Sackgasse?
Damit macht das Bundesverfassungsgericht sowohl die eigenen institutionellen wie auch prozessualen Begrenzungen deutlich.
Als Gericht soll es keine politischen Entscheidungen fällen und politische Entscheidungen des Gesetzgebers vorwegnehmen. Würde es jedoch in einzelnen Sektoren konkrete Vorgaben machen, so würde es konkrete Sektoren und Sachfragen (hier: die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen) regeln, ohne dass diese Bestandteil einer demokratischen Auseinandersetzung geworden sind.
Es zeigt sich aber auch, dass Verfassungsbeschwerden im Bereich des Klimaschutzes auch nach der Klimaentscheidung von 2021 kaum Aussicht auf Erfolg haben können. Der Grund hierfür ist aber nur zum Teil der als objektiv verstandene Charakter des Art. 20a GG. Denn die verfassungsprozessualen Möglichkeiten, die das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz einräumen, sind stark auf individuellen Rechtsschutz begrenzt. So ist es für Individuen nicht möglich, Beschwerden außerhalb der Rüge der Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts zu erheben. Wenn also eine objektive Bestimmung gerügt werden soll, muss diese grundrechtlich gefasst werden können, um prozessual handhabbar zu sein. Entsprechend wies die Konstruktion der eingriffsähnlichen Vorwirkung und des intertemporalen Freiheitsschutzes aus der Klima-Entscheidung einige Unklarheiten hinsichtlich des Beschwerdegegenstands zukünftiger Klimaverfassungsbeschwerden auf. Der aktuelle Beschluss zeigt nun, dass das Bundesverfassungsgericht aus seiner dogmatischen Konstruktion in der Klimaentscheidung keine Erweiterung der Beschwerdeberechtigung und des Zugangs zum Gericht in Klimafragen ableiten möchte.
Gerade bei Art. 20a GG läuft diese Enge der gerichtlichen Überprüfbarkeit jedoch dem Normprogramm der Verfassungsbestimmung entgegen. Denn es handelt sich um eine Staatszielbestimmung, die sich nicht nur auf eine Mehrzahl von Personen bezieht und gerade auf zukünftige Generationen, sondern sogar auf ein überindividuelles Schutzobjekt – die natürlichen Lebensgrundlagen. Sie verpflichtet den Gesetzgeber somit zwar zum Tätigwerden im Bereich des Klimaschutzes, dieses kann jedoch verfassungsprozessual nicht eingefordert werden. Die Verpflichtung zum Klimaschutz als Ausprägung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen erfordert jedoch gerade nicht nur reaktives, sondern auch proaktives Handeln.
(Über)individueller Rechtsschutz im Verfassungsrecht
Zugleich geht eine unzureichende Verfolgung von Art. 20a GG jedoch nicht zwangsläufig mit einer Grundrechtsverletzung einher. Daher ist proaktiver Klimaschutz derzeit nicht individuell verfassungsgerichtlich durchsetzbar, was der Beschluss noch einmal deutlich macht. Entsprechende Versuche, konkrete gesetzgeberische Klimaschutzmaßnahmen im Wege der Verfassungsbeschwerde durchzusetzen, werden damit auch in Zukunft die Schwelle der Annahme zur Entscheidung nicht überschreiten können.
So erzeugt der grundsätzlich objektive Art. 20a GG innerhalb der individualausgerichteten verfassungsprozessualen Möglichkeiten des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eine spannungsreiche Situation: Materiell kann schon eine Verletzung von Art. 20a GG vorliegen, wenn der Staat nicht hinreichend zielverfolgend tätig wird. Doch diese Zielverfolgung – obwohl gerade sie wesentlicher Inhalt der Verfassungsbestimmung ist – kann verfassungsgerichtlich nicht hinreichend kontrolliert werden.
Allerdings könnte der Gesetzgeber über die Einführung neuer verfassungsprozessualer Instrumente sowohl institutionellen Bedenken entgegentreten als auch prozessuale Einschränkungen auflösen. So wäre die Einführung von überindividuellen Verfahrensmöglichkeiten im Bereich von Art. 20a GG im Bundesverfassungsgerichtsgesetz gem. Art. 93 Abs. 3 GG möglich, um Beschwerden im Bereich des Klimaschutzes einem eigenen Verfahren zuzuführen. Dies könnte besonders bei dieser Verfassungsbestimmung sinnvoll sein, da zukünftige Generationen zwar schon de constitutione lata zum Schutz berücksichtigt werden müssen, aber nicht selbst zukünftige Grundrechtseinschränkungen rügen können.
Durch eine solche Regelung könnte der Gesetzgeber die Reichweite verfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Bereich des Klimaschutzes eigens festlegen und so den Grundsatz der Gewaltenteilung berücksichtigen. Gleichzeitig könnte eine Subjektivierung von Art. 20a GG durch das Bundesverfassungsgericht (um zukünftige Beschwerden in diesem Bereich annehmen zu können) verhindert werden.
“Doch diese Zielverfolgung – obwohl gerade sie wesentlicher Inhalt der Verfassungsbestimmung ist – kann verfassungsgerichtlich nicht hinreichend kontrolliert werden.”
Relativierend dazu muss man sagen, dass die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle besteht. Diese wäre vielleicht zur Realisierung eines Staatsstrukturprinzips prozessual passender als die dogmatisch wackelige Konstruktion eines woraus auch immer hergeleiteten “Umweltgrundrechts” (ein bereits in den 1990er Jahren vieldiskutierter Ansatz, der sich zu Recht nicht durchsetzen konnte). Ebenfalls wäre dieses Verfahren prozessual passender – eine altruistisch aufgebaute Popularklagemöglichkeit würde insbesondere die hier betonte Gewaltenteilung im Ergebnis gerade weniger respektieren, weil jede staatliche Entscheidung pauschal vor dem Damoklesschwert einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stünde. Ich will mir in der jetzigen Gemütslage nicht ausmalen, was für eine Prozessschwemme auf das Gericht zurollen würde, setzte man diese Idee in die Tat um.
Ich muss mich meinem Vorredner anschließen. Ihr Ziel ist ein redliches – natürlich muss die Politik mehr tun. Es ist aber bestimmt nicht klug, aus jedem politischen Wunsch direkt einen vermeintlich passenden prozessualen Mechanismus zu machen. Hier dürfte eine Popularklage in der Tat mehr schaden als nützen. Entweder sie führt, worauf mein Vorredner mit Recht hinweist, zu einer kaum überschaubaren Klagewelle, die dann eher zahllose abweisende Kammerentscheidungen zur Folge haben dürfte als wichtige Senatsurteile. Ein Mehr an Umweltschutz dürfte das nicht zur Folge haben. Oder man operiert mit Rechtskrafterstreckungen, was dann aber wiederum kaum einmal zu einem Mehr an Rechtsschutz führt.
Danke. Ein Gebot der Stunde. Zur vertiefenden Lektüre:
Jens Kersten, Das ökologische Grundgesetz, 2022.
“Wir leben in der modernen Gesellschaft nach dem Motto: “Natur hat man zu haben”. Der Raubbau an der Natur, das Artensterben, die Vermüllung der Meere, die Erderwärmung und die Klimakatastrophe sind die Folgen. Deshalb ist eine ökologische Transformation unserer Gesellschaftsordnung notwendig.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Entwicklung des bürgerlichen und sozialen Staats zu einer ökologischen Verfassungsordnung. Es zeigt, wie ein ökologisches Grundgesetz gestaltet werden könnte, analysiert den ökologischen Status Quo des Grundgesetzes, zeigt den ökologischen Entwicklungsbedarf auf und formuliert Vorschläge für eine Reform der Grundrechte, der Staatsstrukturprinzipien und des gesamten Staatsorganisationsrechts.”