Keine Wahl
Wie Menschen mit Behinderungen an demokratischer Teilhabe gehindert werden
In Deutschland leben schätzungsweise 13 Millionen Menschen mit Behinderungen (davon sind rund 8 Millionen Menschen schwerbehindert). Viele von ihnen werden ihre Stimme am 23. Februar weder in allgemeiner noch in geheimer Wahl abgeben können. Denn eine erhebliche Zahl von Wahllokalen ist nicht barrierefrei. Dafür hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung Deutschland 2023 gerügt. Nach Art. 29 Abs. 1 lit. a) i) der UN-Behindertenrechtskonvention haben die Vertragsstaaten nämlich sicherzustellen, dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich, leicht zu verstehen und zu handhaben sind. Der Ausschuss hat Deutschland empfohlen, „die Barrierefreiheit von Wahlunterlagen und Wahllokalen bundesländerübergreifend, insbesondere in ländlichen Gebieten, und bei der Entwicklung elektronischer Wahlsysteme sicherzustellen.“ Das ist noch immer nicht flächendeckend passiert.
Barrieren und Behinderung
Es existieren mehrere einfachgesetzliche Definitionen für Menschen mit Behinderung. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) definiert in § 3 S. 1 Menschen mit Behinderung als Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Der Begriff der Barrierefreiheit wird im BGG ebenfalls definiert. Barrierefrei sind Lebensbereiche demnach, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind (§ 4 S. 1 BGG). Das erfasst sowohl physische Barrieren (z.B. Treppen, zu schmale Gänge, Stolperstufen) als auch kommunikative Schranken.1) Das BGG enthält u.a. Anforderungen an die Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr (§ 8) und die Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken (§ 10). In der Regel existieren auf Landesebene inhaltlich ähnliche Regelungen; in Berlin etwa im Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderungen (Landesgleichberechtigungsgesetz – LGBG).
Aus der Anzahl an Menschen mit Behinderungen lässt sich nicht unmittelbar ableiten, wie viele Menschen von der fehlenden Barrierefreiheit betroffen sind – nicht allen Menschen mit Behinderung wird hierdurch der Zugang zur Wahl erschwert.2) Empirische Untersuchungen darüber, wie hoch der reale Anteil der Betroffenen ist, sind nicht verfügbar.
Barrieren in und vor dem Wahllokal
Statistische Angaben zur Barrierefreiheit der Wahllokale werden bundesweit nicht einheitlich erfasst. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat im Parallelbericht an die UN die Anzahl der barrierefreien Wahllokale als unzureichend eingestuft, wobei es sich auf Angaben aus einzelnen Bundesländern bezieht.
In Sachsen-Anhalt waren bei der letzten Bundestagswahl 2021 ca. 60 Prozent der Wahllokale barrierefrei. In Berlin lag der Anteil bei ca. 67 Prozent und in Schleswig-Holstein waren es immerhin 80 Prozent. Bei der Europawahl 2024 waren in der Hauptstadt 86,9 Prozent der Wahllokale barrierefrei. Zwischen den Bezirken gab es zum Teil aber hohe Schwankungen. So lag im Berliner Bezirk Mitte die Anzahl der barrierefreien Wahllokale bei nur 72,7 Prozent. Fast jedes dritte Wahllokal in Mitte war also nicht barrierefrei.
Das widerspricht dem Ideal der Bundeswahlordnung. Denn diese statuiert in § 46 Abs. 1 S. 3, dass die Wahlräume nach den örtlichen Verhältnissen so ausgewählt und eingerichtet werden sollen, dass allen Wahlberechtigten, insbesondere Menschen mit Behinderungen und anderen Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung, die Teilnahme an der Wahl möglichst erleichtert wird. Nach § 46 Abs. 1 S. 4 BWO teilen die Gemeindebehörden frühzeitig und in geeigneter Weise mit, welche Wahlräume barrierefrei sind. Eine Pflicht zur barrierefreien Gestaltung von Wahllokalen statuiert die Vorschrift jedoch nicht.3)
Gleiches gilt für nicht-gesetzliche Normen: Zwar enthält die DIN 18040-1 Barrierefreies Bauen Anforderungen an öffentlich zugängliche Gebäude. Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit hat mit einer Checkliste für barrierefreie Wahllokale eine einfach handhabbare Anleitung erstellt. Diese Liste enthält etwa Punkte zur Erreichbarkeit (z.B. Parkmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen), Barrierefreiheit des Wahlraums (z.B. ausreichend Platz für Rollstühle) oder zur Beschilderung (Piktogramme). Durch diese Checkliste soll es den für Planung und Durchführung verantwortlichen Personen erleichtert werden, die Wahlteilnahme von Menschen mit Behinderung herzustellen. Allerdings haben sowohl die DIN als auch die Checkliste nur eine Orientierungsfunktion.
Ob aus den Wahlrechtsgrundsätzen nach Art. 38 GG (insbesondere aus der Allgemeinheit der Wahl) eine Pflicht besteht, barrierefreie Wahllokale bereitzustellen, wird durch die Kommentarliteratur nicht beantwortet. Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit geht davon aus, dass aufgrund der Allgemeinheit der Wahl die Wahleinrichtungen und das Wahlmaterial barrierefrei sein müssen. Dafür spricht, dass bei fehlender Barrierefreiheit ein relevanter Personenkreis von der faktischen Möglichkeit der Inanspruchnahme des Wahlrechts ausgeschlossen wäre. Auch wenn rein tatsächlich die Möglichkeit zur Briefwahl als Alternative besteht, bedeutet Briefwahl regelmäßig, dass Wahlberechtigten weniger Zeit für ihre politische Willensbildung bleibt. Auch wird eingewandt, die Briefwahl biete keine gleichberechtigte Teilhabe am Wahlverfahren, weil dieses als Urnenwahl ausgestaltet sei.4) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts macht das Leitbild der Urnenwahl die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar (BVerfGE 123, 39, 68; 134, 25, 32). Dieses Leitbild entwickelt es aus dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Es scheint zumindest fraglich, ob mit diesem Leitbild vereinbar ist, eine Bevölkerungsgruppe faktisch von der Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit der Wahl auszuschließen. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Allgemeinheit der Wahl den Gesetzgeber nicht zur Einführung der Briefwahl verpflichtet (BVerfGE 12, 139, 142 f.; 15, 165, 167). Die Alternative der Briefwahl ist also nicht verfassungsrechtlich abgesichert.
In vielen Wahlbezirken gibt es Informationen über den Standort barrierefreier Wahllokale. Einige Städte wie Berlin, Dresden oder Hamburg haben Übersichten zu allen barrierefreien Wahllokalen. Allerdings wird aus diesen tabellarischen Übersichten nicht klar, was genau „barrierefrei“ im Einzelnen bedeutet. Das Ausweichen auf ein barrierefreies Wahllokal kann je nach Entfernung zum Wohnort eine hohe Hürde für Wählende darstellen. Ist das Wahllokal nicht barrierefrei, ist die wahlberechtigte Person darauf angewiesen, Briefwahl bzw. einen Wahlschein (§ 25 Abs. 1 BWO) zu beantragen. Teilweise wird kritisiert, dass wegen des erhöhten Zeitaufwands viele Menschen mit Behinderung auf die Briefwahl ausweichen müssten.
Der paritätische Wohlfahrtsverbands Hessen hat anlässlich der hessischen Landtagswahl darauf hingewiesen, dass die wenigsten Wahllokale tatsächlich komplett barrierefrei seien. Auch wenn eine vollständige Barrierefreiheit kaum erreichbar sei, wäre eine Reduzierung der Barrieren durchaus realistisch. Die BWO und das BWG enthalten keine Regelungen, wie mit der Realität nicht barrierefreier Wahllokale umzugehen ist. Deshalb gibt es u.a. keine Anforderungen daran, wie viele barrierefreie Wahllokale pro Wahlbezirk vorhanden sein müssen oder wie groß der Abstand von einem Wahllokal mit Barrieren zu einer barrierefreien Alternative sein darf. Es liegt nahe, dass sich diese konkreten Vorgaben nicht aus der Verfassung ableiten lassen und es einer Ausgestaltung durch den Bundesgesetzgeber bedarf.
Barrieren bei der Briefwahl
Für eine gleichberechtigte politische Teilhabe sind Briefwahlunterlagen in leichter Sprache essenziell – insbesondere, wenn die Briefwahl effektiv die einzige Möglichkeit darstellt, wählen zu können. Menschen mit Behinderungen berichten, dass diese Unterlagen nicht in leichter Sprache verfügbar sind. BWG und BWO sehen keine Vorgaben zur leichten Sprache vor. Daher sind Menschen mit Lernschwierigkeiten regelmäßig auf die Hilfe aus dem Familien- oder Freund*innenkreis angewiesen. Das steht im Konflikt zum Grundsatz der Geheimheit der Wahl. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit der Hilfeleistung durch eine Vertrauensperson zwar entschieden, dass die Wahrung des Wahlgeheimnisses gegenüber der Möglichkeit aller Wahlberechtigten, ihr Wahlrecht ausüben, zurücktreten muss (BVerfGE 21, 200, 207). Ob das auch dann gilt, wenn es darum geht, Wahlunterlagen in leichter Sprache gerade nicht zur Verfügung zu stellen, ist jedenfalls zweifelhaft. Das Problem fehlender leichter Sprache stellt sich ebenfalls bei Wahlprogrammen, Stimmzetteln und Wahlbenachrichtigungen.
Barrieren und der Stimmzettel
Wählende, die des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe ihrer Stimme gehindert sind, können sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen (§ 14 Abs. 5 S. 1 BWG, § 57 Abs. 1 S. 1 BWO). Damit dieses Recht wirklich ausgeübt werden kann, müssen die Wahlhelfer*innen vor Ort wissen, dass der Einsatz einer Hilfsperson beim Wählen zulässig ist. Ansonsten droht, dass die Wahlhelfer*innen die Hilfsperson von der Hilfe abhalten.
Die Landesverbände des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (DBSV) erstellen in Absprache mit den zuständigen Wahlleiter*innen Stimmzettelschablonen, um Blinden und Menschen mit Sehbehinderung eine selbstbestimmte Wahl ohne Hilfsperson zu ermöglichen. Eine Stimmzettelschablone ist eine Schablone aus Pappe, in die der Stimmzettel eingelegt werden kann. Über den Feldern für das Wahlkreuz sind kreisrunde Löcher ausgestanzt. Diese Felder sind mit Nummern in Blindenschrift und tastbarer Schwarzschrift beschriftet. Die BWO regelt sowohl die Zulässigkeit der Anfertigung der Stimmzettelschablone (§ 45 Abs. 2 S. 2 BWO) als auch der Verwendung der Stimmzettelschablone durch die wählende Person (§ 57 Abs. 4 BWO). Allerdings sind solche Stimmzettelschablonen etwa bei Kommunalwahlen nicht immer verfügbar.
Der DBSV fordert die Einführung eines bundesweit einheitlichen Formats und gute Lesbarkeit des Stimmzettels. Damit verbunden sind präzise Vorgaben zu Schriftart, Schriftgröße und Kontrast in den Wahlordnungen. Bisher gibt es auch hier nur eine Sollvorschrift, wonach die Auswahl von Schriftart, Schriftgröße und Kontrast die Lesbarkeit erleichtern soll (§ 45 Abs. 5 BWO). Präzisere und verpflichtende Vorgaben sind rechtstechnisch durchaus möglich, was unter anderem die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung zeigt. Diese verweist auf harmonisierte europäische Normen wie die (EN) 301 549, welche u.a. Vorgaben zu Farbwahl und Kontrast macht. Im Hinblick auf gleichberechtigte politische Teilhabe wären verpflichtende Vorgaben zudem erstrebenswert.
Ausblick
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAG BBW) kritisiert generell die Wahlprogramme der demokratischen Parteien hinsichtlich Inklusion. Zum Teil wenig konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum enthalten die Wahlprogramme von SPD, CDU, Bündnis 90 /Die Grünen und Die Linke. Die FDP begnügt sich mit der Pauschalaussage, sich für „mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Leben“ einzusetzen. Der barrierefreie Zugang zur Wahl taucht in keinem der Wahlprogramme auf. Deshalb wird auch weiterhin barrierefreies Wählen entscheidend davon abhängen, wie Wahlleiter*innen und -helfer*innen Barrierefreiheit verstehen und umsetzen.
References
↑1 | Ritz in: Kossens/von der Heide/Maaß, 5. Aufl. 2023, BGG § 4, Rn. 2. |
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↑2 | Der Autor ist schwerbehindert, aber von den im Beitrag dargestellten Barrieren nicht betroffen. |
↑3 | Welti in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann, StichwortKommentar Behindertenrecht, 3. Auflage 2022, Wahlrecht, Rn. 6. |
↑4 | ebd. |