Bet-Verbot in der Schule: Stop obsessing about religion!
Eine Schule darf ihren muslimischen Schülern verbieten, in der Pause zu beten? In der Tat, das darf sie, und das hat nicht etwa ein türkisches oder französisches Gericht geurteilt, sondern das Oberverwaltungsgericht Berlin.
Wie der Zufall will, hat justament gestern Abend der kanadische Philosoph Charles Taylor in der Humboldt-Universität einen Vortrag zum Thema Sekulare Gesellschaft gehalten, der mir bei der Beurteilung dieses Falls wie gerufen kommt. Taylor unterscheidet zwei Sekularismus-Modelle: Das “control model” und das “diversity model”.
Control vs. diversity
Beim “control model” geht es darum, den Einfluss der Kirche in der Politik zu minimieren. Die französische Laicité hat hier ihre Wurzeln, im Konflikt zwischen katholischen Monarchisten und sozialistisch-liberalen Republikanern in der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts, ebenso die türkische Variante des Kemalismus.
Beim “diversity model” geht es um etwas vollkommen anderes: Es geht darum, Andersartigkeit in der Gesellschaft zu managen. Es geht um Gewissensfreiheit, um Gleichbehandlung aller Überzeugungen und um das gleiche Recht für alle, mit ihren Überzeugungen gehört zu werden. In inhomogenen modernen Gesellschaften muss ein sekularer Staat dafür sorgen, dass diese drei Rechte für alle gewahrt bleiben.
Das hat laut Taylor relativ wenig mit Religion zu tun: Angenommen, ein Häftling verweigert die Gefängniskost, weil er kein Fleisch essen will – spielt es dann eine Rolle, ob er das tut, weil er ein Hindu ist oder weil er Peter Singer gelesen hat? Nein, sagt Taylor. Ob religiös motiviert oder nicht, eine in diesem Sinne sekulare Gesellschaft wird den Gefangenen nicht zwingen, gegen seine Überzeugungen zu handeln.
Taylor nahm konkret Bezug auf die Debatte um das Kopftuch in der Schule. Es gebe da ein Dilemma zwischen der Gewissensfreiheit muslimischer Lehrerinnen und Schülerinnen und der Neutralitätspflicht staatlicher Schulen. Aus Sicht des “control models” nehme man dieses Dilemma gar nicht wahr: Man beruft sich auf die Laicité und latscht über die Rechte der Frauen einfach hinweg.
Schlecht verhohlene Islamophobie
Was heißt das für den Fall unseres Berliner Schülers? Ausschlaggebend war offenbar die Überlegung, dass in der besagten Schule 29 Religionen vertreten sind. Bestimmten muslimischen Schülern zu erlauben, offen und demonstrativ auf dem Gang zu beten, würde den Schulfrieden stören und die Glaubensfreiheit anderer Schüler verletzen. Die Schule sei verpflichtet, die friedliche Koexistenz der Religionen zu gewährleisten und selbst religiös neutral zu bleiben. Wenn man still und für sich betet, okay. Aber nicht so, dass alle zuschauen müssen.
Bin das nur ich oder stinkt diese Begründung nach schlecht verhohlener Islamophobie?
Die Glaubensfreiheit anderer Schüler? Behauptet das OVG im Ernst, dass meine Glaubensfreiheit verletzt ist, wenn ich Andersgläubigen bei ihren religiösen Ritualen zuschauen muss? Was ist das für eine Travestie eines Grundrechts unserer Verfassung?
Hier wird nur einer in seiner Glaubensfreiheit verletzt, und zwar ganz direkt und massiv, und das ist der Schüler, der “still und unauffällig” beten darf, aber nicht so, wie sein Glauben es von ihm verlangt.
Neutralitätspflicht? Die Neutralitätspflicht verpflichtet den Staat, neutral zu sein. Nicht ins Gesetz zu schreiben, dass in jedem Klassenzimmer ein Kruzifix zu hängen hat, beispielsweise. Sie verpflichtet ihn mitnichten, einen religionsfreien Raum zu schaffen. Diese Lesart, apropos Charles Taylor, ist “control model” reinsten Wassers.
Schulfrieden? Wenn es an dieser Schule Leute gibt, die damit nicht klarkommen, dass einer auf dem Gang seine Gebete verrichtet, dann sind diese Leute das Problem und nicht der Betende. Sonst könnte man geradesogut in Eberswalde alle Schwarzen einsperren, damit die Nazis sich nicht aufregen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht gestört wird.
Wie sagte Charles Taylor gestern Abend in der Diskussion nach seinem Vortrag? “Stop obsessing about religion!”
Update: Auf EJILTalk nimmt Joseph Weiler den EGMR wegen seines italienischen Kruzifix-Urteils ins Gebet (tschuldigung) und wirft den Straßburgern vor, eine der delikatesten Fragen unserer Zeit in 11 dürren Absätzen abgehandelt zu haben.
Sonst beschweren wir uns immer, wenn die Richter uns mit schwartendicken Ausführungen jenseits aller juristischen Subsumtionsnotwendigkeit behelligen. Wie man’s macht…
Aber egal: Weiler regt sich auch materiell über das Urteil auf, und zwar vor allem über die Aussage, die Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit des Staates sei mit jeder Art von staatlichem Urteil über die Legitimität einer Religion oder ihrer Überzeugung unvereinbar. Weiler verweist auf die Queen als Oberhaupt der Church of England und andere Beispiele europäischen Staatskirchentums und wirft den Richtern vor, diese Vielfalt der Verfassungstraditionen und die darin implizierte pluralistische Toleranz ignoriert und negiert zu haben.
How one draws the line between the identitarian aspects of the state which might have religious elements and the need for an education which is free and not religiously coercive is an important and delicate issue. But you cannot even begin to draw that line if you do not acknowledge that in Europe there is such a line to be drawn.
Klingt wie reiner Charles Taylor.
Weilers Argument geht im Kern wie folgt: Das Kruzifix im Klassenzimmer ist ein religiöses Statement des Staates – aber das Fehlen eines Kruzifixes im Klassenzimmer auch.
Was soll man da tun? Jedenfalls nicht nach doktrinären Lösungen suchen.
Ich sehe das genauso, finde in dem Zusammenhang aber auch die Aussage der Rektorin (kam heute mehrmals im Radio) interessant: Nachdem der Schüler das “Betrecht” erstritten hatte, seien muslimische Schüler, die während des Fastenmonats nicht fasteten, gefragt worden inwiefern das mit ihrer Religion zu vereinbaren sei. Online hab ich dazu lediglich folgenden Satz der Frankfurter Rundschau gefunden: “Debatten über das Essen im Ramadan oder den Verzehr von Schweinefleisch seien erst seither Thema; muslimische Schüler und Eltern fürchteten zunehmenden “sozialen Druck” durch andere Muslime.” (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/2692195_Aus-fuer-Gebet-an-Gymnasium.html)
Hallo,
“…aber nicht so, wie sein Glauben es von ihm verlangt.”
Das wäre auch ein Argument fürs Schächten. Wollen wir das auch? Der Staat MUSS eine Linie ziehen, ob er will oder nicht. Beim Schächten hat er das, bei der Vielweiberei ebenfalls. Und jetzt auch hier – so what?
Meine Meinung: Religion raus aus der Schule – völlig.
Ich bin öfter in der “Islamischen Republik Iran”, dort wird selbstverständlich neben dem Tagwerk gebetet – beim Rauchen oder Teetrinken. Gleiches gilt für die Türkei. Einen extra Betraum benötigt dort niemand.
Gruß,
Hardy
Ich schließe mich an. Die Argumentation des OVG ist kaum vertretbar. Grundsätzlich muss es jedem Schüler möglich sein, für sich auf seine Weise zu beten, mag es noch so sinnlos sin.
Dass dies zu schulinternen Debatten über religiöse Themen führt, mag sein, ist aber kein Argument. Meines Erachtens sollte der aktive Umgang mit den religiösen und weltanschaulichen Unterschieden zum Auftrag einer Bildungseinrichtung gehören.
Es kann doch nicht Ziel sein, alle Unterschiede unter einer Decke zu halten, bis versteckte Konflikte sich irgendwann Bahn brechen.
Schlimm, wohin uns der Pseudoliberalismus hier bringt. Da bietet eine Schule als Vergleichsgrundlage einen generellen Bet-Raum an, aber das ist dem Kläger nicht genug, er möchte einen für Moslems (und am besten noch gleich für die eigene Abspaltung jeweils).
Da spricht die Schule, dass sie den Schulfrieden bewahren möchte, indem sie religiöse Konflikte kleinhalten möchte, das ist aber den Kommentartoren auch nicht genehm. Vielmehr soll jeder seine Religion offen anpreisen und auch andere Mitschüler missionieren dürfen; letzteres ist ja übrigens auch ein (poliitisch-religiöses) Ziel des Islams. Deswegen steckt ja auch hinter der Klage die DITIB und nicht so sehr der Kläger, dem man bis zum Prozess nur wenig religiöses nachgesagt hatte…
Grundrechte haben die Eigenschaft bei aufeinandertreffen stets unlösbare Konflikte zu erzeugen, wenn man keine gemeinfreundliche Lösung findet. Klar, es ist ganz toll, wenn jemand schon im Schulalter seine wahre Religion eigenständig entdeckt hat (der Kläger wohl noch nicht so ganz, aber das ist ein anderes Thema), aber dass er damit dann andere belästigt, ist wohl dann doch nicht so wichtig. Negative Religionsfreiheit? Unbekannt?
Wo viele Religionen aufeinandertreffen, ist das Freihalten des öffentlichen Raums von aufgedrängten Religionsdarbietungen sogar zwingend nötig. Wenn die Grundgesetzväter und -mütter das damals stärker durchdacht hätten, hätte es auch sicherlich nicht diese recht kurzes Grunderecht gegeben, sondern vermutlich eine eher dem französischen Vorbild entsprechende Ausformulierung.
Dies gilt umso mehr als dass es sich grad beim Islam um eine nicht mit der FDGO-kompatiblen Religion handelt. Im Sozialkundeunterricht groß von bürgerlichen Freiheitsrechten zu reden und dann im islamischen Religionsunterricht möglichst noch Jungen von Mädchen zu trennen und die Mädchen schon mit Kopftuchgeboten seit kleinauf zu indoktrinieren. Es wäre doch mal befreiend, wenn die Schule wenigstens hier einen Schutzraum bilden könnte, damit sich Menschen hier bilden können, die das gewünschte Wertesystem in der BRD erleben können, u.a. Demokratie, Emanzipation, Freiheit und Gleichwertigkeit.
ich habe noch ein interessantes Statement gefunden, was ich mir nicht so ganz erklären kann:
“Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, begrüßte das Urteil. Er habe sich bereits in erster Instanz ein anderes Urteil gewünscht und freue sich, dass nun der Bildungsauftrag der Schule vor die Religionsfreiheit gestellt worden sei, sagte Kolat. ”
http://www.focus.de/schule/schule/recht/moslemische-schueler-schulen-duerfen-gebet-verbieten_aid_513230.html
[…] reguliert werden. Sobald etwas religiös konnotiert wird, wird es besonders behandelt. Im Verfassungsblog von Max Steinbeis wird das mit Charles Taylors Ansatz diskutiert: Beim »diversity model« geht es um etwas […]
@mausi: überrascht mich überhaupt nicht. Das ist aus Sicht der kemalistischen Staatsdoktrin der Türkei völlig orthodox, Religionsausübung zu unterdrücken.
@egal:
“Da spricht die Schule, dass sie den Schulfrieden bewahren möchte, indem sie religiöse Konflikte kleinhalten möchte, das ist aber den Kommentartoren auch nicht genehm.”
Ist es auch nicht. Call me pseudoliberal, aber ich bin ganz generell gegen Kleinhalten. halte es nicht für ernsthaft gefährlich, wenn ein Trüppchen Fünfzehnjähriger sich im Schulgang auf den Boden kniet. Wenn die Schule etwas tut, oder die Lehrer, ist das etwas anderes. Die unterrichten die Kinder, und das impliziert die Möglichkeit, sie zu indoktrinieren und ihnen einen religiösen Mindfuck zu verpassen. Aber Schüler? Dann muss man konsequenterweise auch dafür sein, Schülern das Tragen von “Stoppt-Strauß”-Plaketten zu verbieten.
“Dies gilt umso mehr als dass es sich grad beim Islam um eine nicht mit der FDGO-kompatiblen Religion handelt.”
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