27 September 2024

Dämmert’s jetzt?

Eine Rekonstruktion der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags

Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags ist bis Samstag, 9:30 Uhr, unterbrochen. Die AfD hat auf der parlamentarischen Bühne mit ihrem Alterspräsidenten Jürgen Treutler ein Stück aufgeführt, das offenbart, welches Verständnis sie von demokratischen Institutionen hat. Die anderen Fraktionen haben geschlossen dagegengehalten. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich dieses Stück am Samstag fortsetzt.

Prolog

Auf Einladung der alten Landtagspräsidentin Birgit Pommer trat gestern der frisch gewählte achte Thüringer Landtag in Erfurt zum ersten Mal zusammen. Ziel einer ersten Sitzung ist es, dass der Landtag sich so organisiert, dass er voll arbeitsfähig ist. Dazu muss er u.a. eine Landtagspräsidentin zu seinem Vorsitz wählen (Art. 57 Abs. 1 ThürVerf).

Die AfD hatte bereits im Vorfeld das Amt der Landtagspräsidentin unbedingt für sich in Anspruch genommen und angekündigt, dazu eine Auslegungsunsicherheit in der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (ThürGOLT) auszunutzen. Am Vorabend hatte Björn Höcke in einem Beitrag auf X, vormals Twitter, alles andere als die erfolgreiche Wahl der AfD-Kandidatin Muhsal zur Landtagspräsidentin einen „Regel- und Tabubruch“ bezeichnet und die „Kartellparteien“ angegriffen. Letztlich sollte sich Höckes „Demokratiedämmerungs“-Tweet als unverhüllte Vordeutung des Auftretens seiner eigenen Fraktion am Folgetag herausstellen.

Die anderen Fraktionen wollten möglichst früh eine Änderung der Geschäftsordnung vornehmen, um die Auslegungsunsicherheit (dazu mehr hier und hier, S. 16) rund um die Wahl der Landtagspräsidentin kurzfristig zu klären – was die CDU noch in der letzten Legislaturperiode blockiert und stattdessen auf die Zusage der AfD vertraut hatte. Nun ist es weder zum einen noch zum anderen gekommen: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik entgleiste die konstituierende Sitzung eines Parlamentes.1) Was ist passiert?

Erster Akt: Die erzwungene Eröffnungsrede

Um 12:01 Uhr klingelte Jürgen Treutler zur konstituierenden Sitzung und begrüßte die Anwesenden. Der Alterspräsident der letzten Legislaturperiode, der ehemalige AfD-Politiker Karlheinz Frosch, hatte nach bisherigem parlamentarischen Brauch2) vor seiner Eröffnungsrede noch gefragt, ob der vorläufigen Tagesordnung widersprochen werde. Treutler eröffnete den übrigen Fraktionen diese Gelegenheit nicht, sondern setzte nach Feststellung seiner Alterspräsidentschaft und der Vorstellung der neuen Fraktionen zur Rede an. Der Parlamentarische Geschäftsführer (PGF) der CDU, Andreas Bühl, der im Verlauf des Nachmittags zum Antagonisten Treutlers avancierte, ging mit zwei erhobenen Händen, die eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung (GO) anzeigen, dazwischen. Er stellte jedoch nicht den Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung, den CDU und BSW schon in der Tagesordnung (TO) vorgesehen hatten, sondern zunächst auf Feststellung der Beschlussfähigkeit und berief sich dazu auf § 40 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags.3) Die Beschlussfähigkeit wird zwar durch Art. 61 Abs. 1 der Landesverfassung vermutet und auch ihre Feststellung war in der vorläufigen Tagesordnung – in Einklang mit der alten Geschäftsordnung – später vorgesehen. Doch die CDU wollte das Feld nicht der AfD überlassen und das Risiko eingehen, dass diese durch ihren Alterspräsidenten vollendete Tatsachen schafft. Denn dieser hätte dem Parlament wohl die Beschluss- und damit die Handlungsfähigkeit so lange abgesprochen, bis er die zu behandelnde Tagesordnung in ihrer ursprünglichen Form – unter Außerachtlassung der form- und fristgerechten Neufassung mit dem Antrag von CDU und BSW – festgelegt hätte.

Treutler wehrte ab, Bühl ging unter Berufung auf § 31 Abs. 2 ThürGOLT dazwischen, gemäß dem die Fraktionsvorsitzenden und ihre Vertreter außerhalb von Reden jederzeit sofort das Wort zu erteilen ist und forderte gemäß § 121 Abs. 2 ThürGOLT eine Abstimmung des Parlaments über Treutlers Entscheidung. Treutler tat daraufhin ein erstes Mal, was zu seiner Linie des Nachmittags werden sollte: Er unterbrach die Sitzung und blickte hilfesuchend zu Torben Braga, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der AfD und Regisseur der heutigen Aufführung. In einer ersten von vielen Runden vor dem Präsidiumspult diskutierten die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen, Treutler und Landtagsdirektor Jörg Hopfe. Die AfD setzte sich durch, Treutler durfte zunächst seine Eröffnungsrede halten. Ausweislich späterer Äußerung von Bühl sollte er danach die Namen der Abgeordneten aufrufen, vorläufige Schriftführer bestimmen und die Beschlussfähigkeit feststellen – so der Kompromiss.

Treutler nutzte die Gelegenheit der Eröffnungsrede, um eine argumentative Basis für die nächsten vier Stunden Institutionenmissbrauch zu schaffen. Er spannte einen Bogen von der hohen Wahlbeteiligung zum vermeintlichen Wählerwillen und der „medial-politischen Elite, die diesen verachtet“. Den Wählerwillen setzte er natürlich selbst: Er sei „nüchtern zu betrachten“ und „am 1. September sehr deutlich geworden“. Treutler versteht ihn „als Auftrag, der Untergrabung der freiheitlich-politischen Kultur entgegenzutreten.“ Gestand er zunächst noch zu, dass das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion für das Amt der Landtagspräsidentin gegen das freie Mandat keine Pflicht zur Wahl begründen kann, so verstoße es doch gegen „seltenes verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht“ (unter Bezugnahme auf Joachim Linck4)), und mehr noch: gegen den „Geist der parlamentarischen Demokratie“. Besonders charakteristisch für den weiteren Verlauf der Sitzung: „Die Wähler in Thüringen erwarten, dass ihr Wille, den sie in der Wahl zum Ausdruck gebracht haben, berücksichtigt wird. Sie erwarten, dass keine Winkelzüge gespielt werden, die am Ende die Demokratie ruinieren.“

Treutlers Rede ist ein Schulbeispiel des autoritär-populistischen Narrativs: Die zeremonielle Eröffnungsrede des Alterspräsidenten, die grundsätzlich überparteilich und neutral auf die neue Legislatur einstimmt (vgl. letzte Eröffnungsreden Frosch, Holzapfel), missbrauchte er, um die Position der AfD als stärkste Kraft im Landtag (32 von 88 Sitzen) zu einem Herrschaftsanspruch zu verdrehen. Die selbst gesetzten Behauptungen begründete er wechselnd mit dem vermeintlichen „Willen des Wahlvolkes“ und dünnen rechtlichen Argumenten. So verschaffte er seiner Fraktion nicht nur Deckung für das weitere Vorgehen, sondern ein Fundament, das sich auf den sozialen Medien vervielfältigen und verselbständigen kann.

Zweiter Akt: Eskalation

Die nächsten Unterbrechungen folgten, als Treutler mit diesen Ausführungen zum Ende kam („Vielen Dank.“) und sich im Anschluss „einige Anmerkungen zur Tagesordnung“ erlauben wollte. Bühl ging dazwischen und berief sich auf die eben vereinbarte Absprache der Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen: Treutler unterbrach die Sitzung für fast eine Stunde, um sie nach seiner Rückkehr mit seiner Rede fortzusetzen. Mit diesem Taschenspielertrick spielte er Bühl § 31 Abs. 2 der ThürGOLT zurück, um nicht in seiner vermeintlichen Rede unterbrochen zu werden – auch wenn er schon längst zur Tagesordnung ausführte. Soweit zum Geiste der parlamentarischen Demokratie: Bühl ging wieder dazwischen und berief sich auf die Abmachung. Erstmals griff er den Alterspräsidenten direkt an, berief sich auf das Selbstverwaltungsrecht des Parlaments und prangerte eine Verletzung der Rechte der Abgeordneten an. Bühl legte spätestens jetzt die Konfliktlinie offen zutage: Die AfD, mit Alterspräsident Treutler und Braga als Einflüsterer gegen Bühl und die Mehrheit des Parlaments mit ihrer Geschäftsordnungsautonomie im Rücken. Treutler? Unterbrach.

Dritter Akt: Treutler, wie er will

Treutler läutete nach erneuten 40 Minuten das Glöckchen. Er berief sich auf die Tagesordnung und Geschäftsordnung: „Davon kann nicht abgewichen werden.“ Nach dem Thüringer Geschäftsordnungsgesetz (ThürGOG) gelte die bisherige Geschäftsordnung fort, bis sich der Landtag eine neue Geschäftsordnung gegeben habe. Auch wenn bereits diese Fortgeltung umstritten ist (dazu Michl, siehe auch unten), schloss Treutler direkt an: „Dazu [zu einer GO-Änderung] muss der Landtag erst konstituiert sein.“ Bühl ging dazwischen, Treutler verschärfte: „Ich entziehe Ihnen das Wort!“ Ob dem Alterspräsidenten in gleichem Maße wie der Landtagspräsidentin zur Sitzungsleitung Ordnungsinstrumente zur Verfügung stehen, ist bislang kaum diskutiert. In § 1 ThürGOLT sind seine Kompetenzen auf die Sitzungsleitung beschränkt, die für die Landtagspräsidentin in Art. 57 Abs. 2 S. 3 ThürVerf und damit gesondert von der Ordnungsgewalt in Art. 57 Abs. 3 S. 2 ThürVerf geregelt ist. Auch nach der rein zeremoniellen Funktion des Alterspräsidenten – die Treutler später selbst noch stark machte – stehen ihm solch einschneidende Eingriffe in das Abgeordnetenrecht nicht zu.

Treutler wies die Landtagsverwaltung im Hintergrund an, Bühl das Mikrofon abzustellen. Hopfe ignorierte. Bühl sprach weiter, Hopfe sprach Treutler von der Seite ins Gewissen. Treutler ermahnte Bühl zur Ruhe und bestand darauf, seine „Rede“ zu Ende zu führen. Er erteilte Bühl einen ersten und einen zweiten Ordnungsruf. Bühl warf ihm nun „Machtergreifung“ vor. Auch die anderen Fraktionen widersprachen lautstark. Treutler unterbrach.

Vierter Akt: Treutlers Demokratiekunde

Treutler setzte fort, indem er dem versammelten Parlament weitere Ordnungsrufe androhte. Unter lautem Klopfen des Landtags ging nun auch die PGF der Linken, Katja Mitteldorf, dazwischen. Treutler wiederholte seine Rechtsauffassung zur Konstituierung und berief sich auf den Kommentar zur Landesverfassung, denn auch Landtagsdirektor Hopfe mit herausgibt. Dabei gab Treutler zwar die Voraussetzungen der Konstituierung wieder, äußerte jedoch nichts zur maßgeblichen Frage der Möglichkeit vorheriger Tagesordnungspunkte. Er legte aber nach, dass die Einladungsgewalt der bisherigen Landtagspräsidentin Pommer nur Termin und Ort des Zusammentritts bestimmt, nicht aber die Aufstellung einer Tagesordnung. Das komme nach § 21 ThürGOLT allein dem Ältestenrat zu, den es aber noch nicht gebe. Kein Wort mehr davon, dass er sich einige Unterbrechungen zuvor noch selbst auf die Tagesordnung bezogen hatte. Der ehemaligen Landtagspräsidentin mangele es an demokratischer Legitimation. Die von Pommer aufgestellte Tagesordnung sei vielmehr „willkürlich“, weil sie die Abgeordneten vor vollendete Tatsachen stelle. Tatsächlich kann man es als Bruch des Diskontinuitätsgrundsatzes werten, dass die alte Landtagspräsidentin für den neuen Landtag die vorläufige Tagesordnung aufstellt. Allerdings geht die überwiegende Auffassung davon aus, dass dies mit Blick auf parlamentarischen Brauch und Praktikabilitätserwägungen hinzunehmen sei. Immerhin ist dem Landtag die Möglichkeit gegeben, der vorläufigen Tagesordnung zu widersprechen und sich eine neue Tagesordnung zu geben; nur verweigerte Treutler dies. Im Gegenzug erklärte er die Geschäftsordnung für zunächst unveränderbar – im Wortgefecht gingen die Fraktionen jetzt vehementer dazwischen. Treutler verwies wieder auf seine Rede und fuhr – nächste Kehrtwende – mit Erläuterungen über die beschränkte Kompetenz des Alterspräsidenten fort. Zudem konstruierte er ein Argument aus der Reihenfolge der Absätze in Art. 57 ThürVerf, wonach erst die Wahl des Landtagspräsidenten und erst dann die Geschäftsordnung folge. Die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen aller anderen Fraktionen widersprachen. Treutler: Nach Feststellung der Beschlussfähigkeit habe unmittelbar die Wahl der Landtagspräsidentin zu folgen. Da die Beschlussfähigkeit noch nicht festgestellt sei, könne es keine GO- oder TO-Änderung geben. Treutler verstrickte sich zunehmend in Widersprüche. Die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen verweigerten nun die von Treutler vorgeschlagene Unterbrechung. Unter Johlen bestätigt Treutler, dass seine Rede nun fertig sei. Bühl und die anderen parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen erinnerten erneut an den GO-Antrag.

Fünfter Akt: Ein paar Sekunden originärer Parlamentarismus

Treutler unterbrach, die Fraktionen forderten geschlossen und unter lautem Klopfen die Behandlung des Antrags. Bühl ging einen Schritt weiter und forderte jetzt den zweitältesten Abgeordneten auf, die Sitzung fortzuführen. Alle demokratischen Fraktionen klopften laut auf ihre Tische. In diesem Moment hatte der Thüringer Landtag sein Recht zum originären Parlamentarismus ausgeübt. Mehrheit durch Akklamation, auch das reicht aus, wenn ein geordnetes Abstimmungsverfahren wegen autoritär-populistischer Blockade aus der Minderheit heraus nicht möglich ist. Treutler hatte jetzt die Sitzungsleitung nicht mehr inne. Braga und Treutler berieten, Bühl bekräftigte die Forderung und BSW-Fraktionsvorsitzende Katja Wolf schob zur Begründung das Selbstorganisationsrecht des Parlaments hinterher. Doch Treutler und Braga saßen die Stille aus. Nach langen Sekunden der Schritt zurück: Die Fraktionen forderten, dass Treutler die Sitzung fortsetze.

Sechster Akt: Braga diktiert die Optionen

Treutler klingelte und setzte zur Ernennung vorläufiger Schriftführer an. Wieder übernahmen die Parlamentarischen Geschäftsführerinnen, forderten zur Abstimmung über den Antrag auf und fielen dem unbeirrbaren Treutler nun offen ins Wort. Mitteldorf berief sich auf die Mehrheit des Landtags und ihr Selbstorganisationsrecht. Zumindest gestand Treutler nun zu, dass jede Fraktion ihre Rechtsauffassung vortrage. Unisono prangerten die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen das Gebären Treutlers an: „Farce“, „demokratieverächtlich“, „rechtswidrig“, „Verstoß gegen die freie Ausübung des Mandats“. Bis auf Braga. Er übernahm als letzter der fünf nun selbst das Skript, das er selbst vermutlich auch vorher schon Treutler geschrieben hatte, und zeigte zwei Optionen auf: eine politische Lösung, oder der Alterspräsident schließe sich einer der vorgetragenen Rechtsauffassungen an. Die Fraktionen, die mit dem Alterspräsidenten nicht übereinstimmen, könnten dagegen ja Rechtsschutz beantragen. Eine dritte Option nannte er jedoch nicht: Auch jetzt noch hätte sich das Parlament auf sein Selbstorganisationsrecht berufen können. Per Akklamation hätte es Treutler absetzen oder schlichtweg über den GO-Antrag entscheiden können. Dann wäre es die AfD, die unter Zugzwang gewesen wäre.

Treutler stimmte – keine Überraschung – Braga zu. Bühl erhielt zum ersten Mal das Wort, schritt zum Redepult und kündigte unter Berufung auf die „Pflicht, die Demokratie zu verteidigen“ und die Verfassungsbrüche Treutlers an, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Ein letzter kurzer Moment der Spannung, ob Treutler wirklich die Sitzung unterbrechen und nicht einfach fortsetzen würde. Treutler unterbrach bis Samstag 9.30 Uhr.

Ausblick: Was ist der nächste Akt?

Die Fraktion der CDU hat nun beim Thüringer Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um den Alterspräsidenten zu einem verfassungs- und geschäftsordnungsmäßigen Verhalten zu verpflichten. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof könnte den Alterspräsidenten dazu verpflichten, die Beschlussfähigkeit festzustellen und dann der Tagesordnung gemäß der form- und fristgerechten Neufassung der Einladung zu folgen und die Geschäftsordnungsänderung aufzurufen, vor allem aber: den Mehrheitswillen des Parlaments zu achten.

Nach den gestrigen Ereignissen ist es nicht ausgeschlossen, dass der Alterspräsident sich weigert, einer solchen Entscheidung des Gerichts Folge zu leisten. Vielleicht wird es ihm auch zu viel und er erscheint gar nicht. Dann würde das zweitälteste Mitglied Alterspräsident, ebenfalls ein AfD-Abgeordneter, sodass sich nicht viel ändern dürfte. Abmachungen oder Zusagen Bragas oder der AfD-Fraktion scheinen zu keinem Zeitpunkt glaubhaft, wie selbst die kleine Kompromissrunde der parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen gezeigt hat. Und auch an der Delegitimierung des Verfassungsgerichtshof wird bereits gearbeitet. Das wäre ein nächster Tabubruch. Was dann?

Drei Möglichkeiten wären rechtlich denkbar, nur eine erscheint politisch sinnvoll. Zunächst könnte § 30 ThürVerfGHG Bedeutung erlangen, wonach die Vollstreckung verfassungsgerichtlicher Entscheidung in den Händen der Landesregierung liegt, die in Thüringen momentan noch geschäftsführend im Amt ist. Es erscheint mindestens politisch fragwürdig, ob sie im Falle eines sich weigernden Alterspräsidenten – notfalls mit Polizeigewalt – im Parlament einschreiten sollte. Das Gericht könnte aber auch die Vollstreckung durch die Landtagsdirektion anordnen. So oder so stellt sich die Frage, wie ein solches Einschreiten praktisch aussehen würde. Vermutlich würden damit genau die Bilder produziert, die die AfD gerne hätte, um ihre Version der Ereignisse zu untermauern. Grundsätzlich gilt: Je präziser das Gericht die Vollstreckung anordnet, desto besser.

Des Weiteren könnte die Landtagsdirektion auch das Hausrecht im Landtag ausüben. Nach § 124 Abs. 2 ThürGOLT ist der Landtagsdirektor die ständige Vertretung der Landtagspräsidentin in der Verwaltung. Ist die nicht im Amt und der Alterspräsident nicht gewillt, verfassungsgemäß zu handeln, könnte man argumentieren, dass sich aus dieser Vertretungsposition eine Art Notkompetenz des Landtagdirektors ergibt. Auch diese Option ist aber juristisch wacklig und politisch fragwürdig.

Bleibt noch die Parlamentsmehrheit selbst. Weigert sich der Alterspräsident, die Entscheidung des Verfassungsgerichtshof umzusetzen und handelt er somit offenkundig verfassungswidrig, steht es der Parlamentsmehrheit frei, ihn abzusetzen und einen eigenen Sitzungsleiter zu wählen. Dies ergibt sich eindeutig aus dem verfassungsrechtlich verbrieften Selbstorganisationsrecht des Parlamentes (Art. 48 Abs. 1, Art. 57 Abs. 5 ThürVerf) und ist somit nicht nur rechtlich, sondern wohl auch politisch die sinnvollste Variante. Wie dies praktisch genau abläuft, ist jedoch ebenso unklar. Auch im Rahmen dieses Prozesses könnte es zu Tumulten kommen.

Ebenso wenig ist ausgeschlossen, dass die AfD wieder eine neue Obstruktionsstrategie aus dem Hut zaubert, die nicht von der Anordnung des Gerichts erfasst wäre. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof könnte bzw. müsste erneut angerufen werden. Das ist grundsätzlich möglich, würde die Sitzung aber weiter verzögern und damit die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes und seiner Gremien weiter verhindern.

Eine weitere Frage, die das Gericht beschäftigen könnte, betrifft die des Thüringer Geschäftsordnungsgesetzes. Fabian Michl hatte Anfang der Woche argumentiert, dass das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz den Diskontinuitätsgrundsatz nicht überlisten könne, wenn es die Fortgeltung der Geschäftsordnung anordnet. Dementsprechend müsste sich der Thüringer Landtag nach Eröffnung und vor allen weiteren Schritten eine neue Geschäftsordnung geben, wie es auch in anderen Landtagen und dem Bundestag üblich ist. Alle Thüringer Fraktionen waren gestern davon ausgegangen, dass die Geschäftsordnung gemäß ThürGOG anwendbar ist. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof könnte die Verfassungswidrigkeit des ThürGOG feststellen und dem Thüringer Landtag seine Geschäftsordnungsautonomie zurückgeben.

Wozu das ganze Theater?

Die AfD hat hier erreicht, was sie wollte: Sie hat die konstituierende Sitzung in eine Bühne verwandelt, auf „der sie ein Stück aufführen konnte, das charakteristisch für die autoritär-populistische Strategie ist“. Sie behauptet erst, durch den Volkswillen zum Herrschen legitimiert worden zu sein, obwohl sie noch in der Minderheit ist. Sie missbraucht dann auf verfassungswidrige Weise das Amt des Alterspräsidenten, um ihren vermeintlichen Herrschaftsanspruch gegen die Parlamentsmehrheit durchzusetzen. Zur Legitimation dient ihr ein dünner Rechtmäßigkeitsanstrich, auch wenn es nicht mehr ist als das (vermeintliche) Vorbringen eines juristischen Arguments. Folgen die demokratischen Parteien dieser rechtlichen Einschätzung nicht und protestieren dagegen, liefert dies den Anhängern der autoritär-populistischen Strategie die Evidenz, dass sie Opfer der „Kartell- oder Altparteien“ seien. Das Recht legt sie so aus, wie es ihr passt: An der einen Stelle werden die bescheidenen Rechte des Alterspräsidenten betont, auf der anderen Seite maßt er sich die Erteilung von Ordnungsrufen und die Entmündigung der gewählten Abgeordneten an („Bitte stellen Sie Ihm das Mikrofon ab!“).

Und doch ist der Eindruck entstanden, dass sich die AfD hier gestern verhoben hat. Sie hat teilweise evident rechts- und verfassungswidrig gehandelt. Sie hat Vereinbarungen und Absprachen getroffen und sie im nächsten Moment gebrochen. Ihr Alterspräsident konnte die Sitzung weder kompetent noch würdevoll leiten. Spätestens nach gestern dürfte vielen dämmern, dass die AfD die Institutionen der parlamentarischen Demokratie unverhohlen missachtet, und das mit einer immer neuen Dreistigkeit. Die Debatte um ein Verbotsverfahren dürfte in eine neue Phase treten.

References

References
1 Die ganze Sitzung ist hier im Livestream des mdr nachschaubar.
2 Die Fraktionen dürften das auch auf § 20 ThürGOLT stützen. Hier könnte man aber einwenden, dass die Anwendung des § 21 Abs. 2 ThürGOLT die Wahl einer Parlamentspräsidentin voraussetzt.
3 Auch hier wird teilweise vertreten, dass die Anwendung des § 40 Abs. 2 ThürGOLT eine gewählte Landtagspräsidentin voraussetzt. Jedenfalls gebietet Art. 57 Abs. 5 ThürVerf aber, dass der Thüringer Landtag dahingehend jederzeit seine Geschäftsordnungsautonomie ausüben kann.
4 Der im Übrigen seine Rechtsauffassung im Folgesatz als Einzelmeinung bezeichnet. Joachim Linck, Als ein Landtag laufen lernte, 2010, S. 140f.

SUGGESTED CITATION  Jaschinski, Jannik, Zillessen, Friedrich, Talg, Juliana; Brandau, Anna-Mira: Dämmert’s jetzt?: Eine Rekonstruktion der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags, VerfBlog, 2024/9/27, https://verfassungsblog.de/daemmert-es-jetzt/, DOI: 10.59704/7398c6c6d884caec.

14 Comments

  1. Hoseit Fri 27 Sep 2024 at 17:43 - Reply

    Ihre Argumentation unterstellt die Feststellung der Parlamentsmehrheit, dazu hat es doch aber keine Wahl gegeben;die wäre aber zwingend erforderlich ….

  2. Onlineweiss Fri 27 Sep 2024 at 22:02 - Reply

    Wir sehen hier nur den Anfang Blockade im Landtag mit massiven Schaden für Thüringen und die Demokratie. Diese Lähmung ist Teil der Strategie, um nach 5 Jahren aufzeigen zu können, dass die Regierenden versagt haben. Da zählt dann keine Sperrminorität oder sonstige Blockaden der AFD. Sie werden sich wie immer als Opfer und Retter darstellen.

  3. Matti Sat 28 Sep 2024 at 08:29 - Reply

    „Ebenso wenig ist ausgeschlossen, dass die AfD wieder eine neue Obstruktionsstrategie aus dem Hut zaubert, die nicht von der Anordnung des Gerichts erfasst wäre.“

    Und mögliche Strategien wären? Ist es nicht selbstgestecktes Ziel des Thüringen-Projekts, diese vorab zu benennen und zu untersuchen?

  4. Edward Sat 28 Sep 2024 at 16:54 - Reply

    Vielen Dank für den soannenden Beitrag. Sie schreiben, dass Herr Frosch “nach bisherigem parlamentarischen Brauch” vor seiner Rede noch gefragt hatte ob Widerspruch zur Tagesordnung bestünde.

    Wenn Sie schon den bisherigen parlamentarischen Brauch bemühen, welche Fraktion schlug nach diesem den Landtagspräsident vor?

    Über eine Antwort würde ich mich freuen. Danke

    • Demodoener Mon 30 Sep 2024 at 03:57 - Reply

      Die gleiche, die sich entschied vom “bisherigen parlamentarischen Brauch” abzuweichen, wie Sie ja selbst rezitiert haben.

    • Johannes Baum Mon 30 Sep 2024 at 08:01 - Reply

      @Edward:
      Das ergibt sich aus dem Artikel bereits: “… Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion für das Amt …”, wobei noch anzumerken ist, dass es sich dabei nicht nur um einen Brauch, sondern auch um eine Geschäftsordnungsregel handelte.

      Ich verstehe Ihren Kommentar aber so, dass das nicht Ihre eigentliche Frage war, sondern dass Sie vor allem (wenn auch undeutlich) ausdrücken wollten, dass Sie einen Widerspruch darin sehen, dass die Autorinnen und Autoren die eine Abweichung vom bisherigen Brauch (Frage nach Widerspruch) mit m.E. leicht ablehnendem Unterton feststellen, hingegen die andere Abweichung vom bisherigen Brauch (Änderung der Geschäftsordnung) für rechtlich zulässig halten.

      Das geht aber fehl, und zwar sowohl wenn man es auf der rechtlichen Ebene betrachtet als auch wenn man es politisch-moralisch betrachtet.

      Rechtlich gilt:
      Ein Brauch bindet nicht rechtlich. Die Mehrheit darf die Geschäftsordnung – in den Grenzen der Verfassung – jederzeit ändern, wie sie möchte, weshalb das Abweichen von diesem Brauch ohne Zweifel rechtlich zulässig war.
      Dass die Abweichung vom Brauch der Nachfrage, ob es Widerspruch gegen die Tagesordnung gibt, rechtswidrig gewesen wäre, haben die Autorinnen und Autoren ebenfalls nicht geschrieben. Insofern also kein Widerspruch.

      Politisch-moralisch:
      Das Wertefundament Deutschlands besteht im Wesentlichen aus Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat. Ich wünsche mir, dass alle Politikerinnen und Politiker das aktiv verteidigen. Zum Beispiel, indem sie einer Partei, die ernsthaft eine rechtskräftig verurteilte Betrügerin als Landtagspräsidentin vorschlägt und deren Anhänger Deutsche Staatsangehörige zwangsweise nach außerhalb des Bundesgebietes verbringen wollen, nur soviel Einfluss zugestehen, wie rechtlich unbedingt nötig. Anders gesagt: Das Abweichen vom Brauch des Vorschlagsrechts der stärksten Fraktion ist Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegen ihre organisierten Feinde.

      Zur anderen Abweichung: Das Grundgesetz und die Thüringer Landesverfassung formen die Demokratie als repräsentative parlamentarische Demokratie aus. Damit geht unter anderem das Selbstorganisationsrecht des Parlaments einher. Der Brauch, nach Widerspruch zu fragen, trägt dem Rechnung und ist daher zu begrüßen.

      In a nutshell: Die eine Abweichung vom Brauch diente der Verteidigung der Verfassung, die andere schadete dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments.

      Der Artikel ist also weder rechtlich noch politisch-moralisch selbstwidersprüchlich.

  5. Ralph Kley Sat 28 Sep 2024 at 21:55 - Reply

    Auslöser dieser gesamten Posse war das Bestreben, einen AfD-Landtagspräsidenten zu verhindern, indem man noch während der Konstituierung und vor der Wahl des Präsidenten die GO entsprechend ändert, was die CDU im alten Landtag vor ein paar Monaten (mit Verweis auf die “gute parlamentarische Tradition”, welch Ironie) noch abgelehnt hatte. Solange Sie Ihre Argumentation nicht vom Kopf auf die Füße stellen, diese Tatsache redlicherweise konzedieren und sie an den Anfang Ihrer Überlegungen stellen, kann der Rest kaum mehr sein als eine schöne scholastische Übung.

    Wohlgemerkt: es ist materiell sicherlich vertretbar, das Selbstorganisationsrecht des Parlaments so hoch zu bewerten, dass es die gesetzliche Selbstbindung des ThürGOG (iVm der alten GO) über das anzuwendende Prozedere bis zur Konstituierung zu überwinden vermag. Aber wenn Sie nicht die basale argumentative Fairness aufbringen können, den Auslöser des Konflikts korrekt zu benennen, müssen Sie fast zwangsläufig durch eine verzerrte Brille schauen.

    Die Argumentation der AfD-Fraktion, die alte GO gebe durch den Wortlaut und die innere Systematik der §§ 1,2 GOLT eine zwingende Reihenfolge der Konstituierung vor, ist weit weg davon, juristisch unvertretbar zu sein. Dass sollten Sie auch wissen, und würden Sie wohl auch zu wissen bereit sein – verzeihen Sie die seichte Unterstellung – wenn es nicht gerade die AfD Thüringen wäre, die diese Position vertritt.

    Dass auch der LVerfGH damit seine lieben Problem hatte, können Sie daran sehen, dass die eigentlich zentrale Frage der Bindung der Abgeordneten an die GO über das ThürGOG kaum Raum im Beschluss einnimmt, und die Verfassungswidrigkeit des ThürGOG auch nicht festgestellt wird, obwohl eine Bindung im Ergebnis abgelehnt wird (!). Ganz zu Schweigen vom gerade erst frisch eingehauenen Pflock des BVerfG, eine parlamentarische GO sei bis zur Grenze der Willkür nicht verfassungsrechtlich auslegbar.

    Das alles müssen Sie nicht problematisieren. Aber ein wenig mehr juristische Redlichkeit wäre gerade im Umgang mit der AfD dringend angezeigt, damit man nicht Gefahr läuft, selbst in Muster zu verfallen, die man beim politischen Gegner verorten will.

    • Johannes Baum Mon 30 Sep 2024 at 16:15 - Reply

      Sehr geehrter Herr Kley,

      Ihrer ersten Anmerkung stimme ich in Teilen zu: Es wäre zwecks eines vollständigeren Bildes sinnvoll gewesen, in dem Artikel auch die Vorgeschichte kurz darzustellen. Doch zur “scholastischen Übung” (eine Charakterisierung, die man auch als Kompliment ansehen kann!) wird der Beitrag dadurch m.E. nicht. Ob ein bestimmtes Verhalten des Alterspräsidenten die Rechte der Abgeordneten/Fraktionen im aktuellen Landtag verletzt, kann nicht davon abhängen, was der letzte Landtag getan oder nicht getan hat. Rechtlich betrachtet war die Vorgeschichte daher irrelevant.

      Ihren sonstigen Ausführungen würde ich allerdings höflich, aber dezidiert widersprechen. Aus dem Diskontinuitätsgrundsatz – einem zentralen Pfeiler des deutschen Parlamentarismus nach dem Grundgesetz und soweit ich es erkennen kann auch nach allen Landesverfassungen – ergibt sich klar, dass der vorherige Landtag dem neuen Landtag keine Bindungen auferlegen kann, die über das hinausgehen, was ohnehin aus der Verfassung folgt.

      Somit ist auch völlig unerheblich, ob die Ansicht der AfD-Fraktion, die alte GO gebe eine zwingende Reihenfolge der Konstituierung vor, für sich betrachtet vertretbar war oder nicht. Denn die alte GO kann den neuen Landtag schon im Ansatz nicht binden; wie sie auszulegen war als sie noch galt (also während der vergangenen Legislaturperiode), ist daher irrelevant.

      Eine Bindung des neuen Landtages konnte der alte Landtag auch nicht durch das GOG erzeugen. Der VerfGH hat das GOG insoweit verfassungskonform ausgelegt. Möglicherweise wäre es überzeugender gewesen, das GOG insoweit für nichtig zu erklären. Das ist aber eine nachrangige Frage, da das Ergebnis in jedem Fall dasselbe ist: Der aktuelle Landtag kann über seine Geschäftsordnung – im Rahmen der Verfassung – entscheiden, wie es ihm beliebt.

      Und ja: Jede andere Ansicht halte ich angesichts der genannten Bedeutung des Diskontinuitätsgrundsatzes im deutschen Staatsorganisationsrecht in der Tat für unvertretbar.

      • Michael Wein Tue 1 Oct 2024 at 19:54 - Reply

        Sehr geehrter Herr Baum,
        aus dem Diskontinuitätsgrundsatz bzw. dem parlamentarischen Selbstorganisationsrecht mag sich im Ergebnis die Folge ergeben, dass das ThürGOG verfassungswidrig und mithin als unanwendbar einzustufen ist. Herr Kley hat aber zu Recht den Finger in die Wunde gelegt, wenn er beanstandet, dass der ThürVerGH in seinem im Übrigen sehr ausführlichen, 36 Seiten umfassenden, Beschluss sich nur am Rande mit diesem Parlamentsgesetz befasst und sich darauf beschränkt hat, darin lediglich eine völlig unverbindlichen Checkliste zur Arbeitserleichterung zu sehen. Eine vertiefte Auseinandersetzung des Gerichts mit diesem Gesetz, das – soweit ersichtlich – ein Novum in deutschen Parlamentsgeschichte darstellt, war hier durchaus geboten. Denn auch Ihr Hinweis auf die zugegebenermaßen hohe Bedeutung des Diskontinuitätsgrundsatz, der sich freilich zunächst einmal auf nicht verabschiedete Gesetzesvorlagen bezieht, vermag eine nähere Beschäftigung mit Inhalt und Reichweite dieses Prinzips nicht zu ersetzen.

        • Johannes Baum Wed 2 Oct 2024 at 06:50 - Reply

          Sehr geehrter Herr Wein,

          vielen Dank für die Replik! Erlauben Sie mir drei Anmerkungen:

          1) Legt man die Maßstäbe an die Qualität der Begründung einer Hauptsacheentscheidung an, stimme ich Ihnen vollkommen zu. Auch bei einer “normalen” Eilentscheidung, die innerhalb einiger Wochen erstellt wird, dürfte man mehr erwarten. Im vorliegenden Fall hatte das Gericht aber insgesamt etwa 24 Stunden für das ganze Verfahren. Ziehen Sie noch Zeit zum Einreichen von Stellungnahmen durch die Beteiligten und Zeit für die Beratung (u.a. mit 3 Laienrichterinnen/-richtern) ab, dann bleibt nicht mehr so viel für das Abfassen des eigentlichen Beschlusses.

          Natürlich kann es sein, dass sich die Berufsrichter vorher schon abstrakt mit den vermutlich relevant werdenden Rechtsfragen auseinandergesetzt haben. Aber schreiben muss man das Ganze am Ende trotzdem noch.

          Von daher finde ich es keineswegs verwunderlich, dass in dem Beschluss die eine oder andere Stelle enthalten ist, die man etwas schärfer hätte ausleuchten können.

          2) Davon abgesehen hatte ich den Kommentar von Herrn Kley v.a. dahingehend verstanden, dass er – unabhängig von der Begründung des ThürVerfGH- die These der AfD-Fraktion in der Sache für wenigstens vertretbar hält (und die insoweit etwas schwache Begründung des Gerichts dafür als Indiz heranzieht). Vor allem dagegen richtete sich mein voriger Kommentar.

          3) Der Diskontinuitätsgrundsatz ist mE seit jeher durchaus auch auf andere Maßnahmen der Binnenorganisation des Parlaments bezogen, auch wenn Gesetzesvorhaben das meistgenannte Beispiel sind. So dürfte unstrittig sein, dass sich wegen dieses Grundsatzes alle eingesetzten Ausschüsse erledigen (und nicht etwa nur deren Mitglieder nachbesetzt werden müssen). Auch das Präsidium und die Schriftführer fallen automatisch weg, selbst wenn sie alle weiterhin im Parlament sein sollten. Mit anderen Worten: alle Maßnahmen der Binnenorganisation, die das vorige Parlament getroffen hat, fallen der Dikontinuität anheim. So natürlich auch die Geschäftsordnung.

          Das erklärt zB auch, warum Petitionen, die noch nicht beschieden worden sind, weiter anhängig bleiben, denn dabei handelt es sich um keine Maßnahme der Binnenorganisation, sondern um ein von außen an das Parlament herangetragenes Gesuch.

          • Michael Wein Wed 2 Oct 2024 at 19:47

            Sehr geehrter Herr Baum,

            vielen Dank für Ihre freundlichen Anmerkungen. Erlauben Sie mir einen Kommentar zu Ihrem Entlastungsversuch, was die auch von Ihnen offenbar vermisste Begründungstiefe der Entscheidung des ThürVerfGH angeht. Das Gericht konnte angesichts der vielfältigen Aktivitäten und Diskussionen im Vorfeld der konstituierenden Sitzung, sei es im Bereich der politischen Akteure in den Medien und nicht zuletzt hier im Blog nicht vom Verlauf der Sitzung überrascht sein. Es ist auch sicher nicht einfach davon ausgegangen , dass der Kelch seiner Anrufung schon an ihm vorbeigehen werde. In einer solchen Situation entspricht es regelmäßig professionellem Verhalten, dass sich das Gericht bereits vor dem Eingang eines mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Rechtschutzantrags schon mit den potentiell relevanten Rechtsfragen befasst und auch detaillierte schriftliche Vorarbeiten für die Beratung und Abfassung einer potentiell erforderlichen und absehbar unter Zeitdruck stehenden Entscheidung von den Richtern und Mitarbeitern des Gerichts geleistet werden. Ein solches professionelles Verhalten deckt sich nicht nur mit meinen – freilich schon länger zurückliegenden -Erfahrungen als Wiss. Mitarbeiter an einem Landesverfassungsgericht. Umfang und Inhalt der Entscheidung des ThürVerfGH sprechen ebenfalls dafür, dass die Entscheidung im dargelegten Sinne professionell vorbereitet wurde. Wenn das Gericht dann gleichwohl eine zentrale Frage, die zB vor und auch nach der Entscheidung hier im Blog eingehend diskutiert wurde bzw. wird (vgl. insbesondere die Kommentare zum Beitrag “Demokratische Diskontinuität”) ziemlich stiefmütterlich behandelt , dann verdient das schon eine kritische Erwähnung. So habe ich auch Herrn Kley verstanden. Was Ihre Bewertung der AfD-Rechtsposition als “unvertretbar” angeht, so möchte ich dieser -verzeihen Sie – harschen Einordnung jedenfalls derzeit nicht nähertreten. Fest steht: Der ThürVerfGH hat entschieden und die Entscheidung ist – wie es sich gehört – vom Alterspräsidenten umgesetzt worden. Vorhang zu und einige spannende Fragen offen!

  6. Peter Müller Sun 29 Sep 2024 at 10:24 - Reply

    Änderungsanträge zur Geschäftsordnung können erst nach der Konstituierung erfolgen. Davor macht es keinen Sinn. In einer Demokratie müssen sich alle Parteien an die Regeln halten, auch die CDU. Die CDU hat der Demokratie bereits mehr geschadet, als die AfD je könnte. Siehe auch Fall Kemmerich.

  7. Bernd Sun 29 Sep 2024 at 14:02 - Reply

    ES fehlt m.E. ein Szenario vor Punkt 1, den möchte ich Vorplanung und Ausführung nennen. Im Gegensatz zur üblichen Handhabung waren alle Mikrofone eingeschaltet. Nur so konnten die Abgeordneten der Altparteien von Beginn an die Sitzung für Ihre Interessen instrumentalisieren. Nur vom Hörensagen, es sollen die Mics der AfD wie vorgesehen abgeschaltet gewesen sein. Zufall? Geplant? Niemand möchte sich dazu äußern, es wird unter den Tisch gekehrt, dabei war es der Startschuß zu allem was folgte. M.M. keine Sternstunde der Demokratie und insbesondere keine der Landtagsverwaltung.

  8. Scholl Sun 29 Sep 2024 at 23:26 - Reply

    Jetzt rächt sich einmal wieder die bisherige Praxis der “demokratischen Parteien”**, dass die “stärkste” Partei ( bzw. Fraktion ) das ( erste oder sogar einzige ) Vorschlagsrecht für Vorsitzende/Präsidenten oder auch für Regierungs”chefs” habe.
    Dieses “Gewohnheitsrecht” hat bekanntlich schon zur Zerstörung der Weimarer Republik beigetragen und wurde dennoch ( bewußt? )nach dem II.Weltkrieg weiter durch die Parteiführungen kultiviert.
    Es sind also auch hier ( bewußte ?) Fehler und Dummheiten der “Altparteien”, die zur Spaltung und Schwächung von Demokratieansätzen führen. Dabei handelt es sich bekanntlich um ein Schauspiel in vielen Ländern, bei denen es um Profitmaximierung durch Sozialabbau geht.
    In § 2 Abs.2 ThüGOLT heißt es dummer- und misverständlicherweise:
    “(2) Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Land-
    tags für die Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum
    Präsidenten vor. Die anderen Fraktionen schlagen je-
    weils ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Vizeprä-
    sidentin beziehungsweise zum Vizepräsidenten vor, so-
    dass jede Fraktion im Vorstand des Landtags mit einem
    Mitglied vertreten ist.”
    Warum haben die “demokratischen” Parteien diesen problematischen und ärgerlichen Absatz nicht schon längst geändert. Wollte die CDU dieses Eskalationstheater ?

    ** Für mich sind Parteien nicht “demokratisch”, wenn sie sich nicht u.a. aktiv für die Erfüllung des Art. 20 Abs.2 GG ( bundesweite Bevölkerungsabstimmungen) einsetzten.

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