22 March 2024

Das Ende des parlamentarischen Konsensprinzips?

Zur mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen AfD-Ausschussvorsitz

Am Mittwoch verhandelte das Bundesverfassungsgericht zu zwei Organstreitverfahren der AfD-Bundestagsfraktion (BvE 1/20, 2 BvE 10/21) gegen den Bundestag und verschiedene Bundestagsausschüsse. Das erste Verfahren richtet sich gegen die Abwahl des Abgeordneten Stephan Brandner als Vorsitzenden des Rechtsausschusses in der vergangenen Legislaturperiode, das zweite Verfahren betrifft die „Nichtwahl“ der AfD-Kandidaten für den Vorsitz von Innenausschuss, Gesundheitsausschuss und Entwicklungsausschuss in der laufenden Legislaturperiode. Die mündliche Verhandlung verstärkte den Eindruck, dass bewährte Parlamentstraditionen, die auf konsensualem Zusammenwirken aller Fraktionen basieren, mit dem Einzug der AfD in den Bundestag kaum noch zukunftsfähig sind.

Wandel der Parlamentspraxis bei der Besetzung des Ausschussvorsitzes

Nach § 58 GO-BT „bestimmen“ die Ausschüsse ihre Vorsitzenden. Dabei entsprach es einer jahrzehntelangen Tradition, dass sich die Fraktionen im Ältestenrat konsensual einigten, welcher Fraktion welcher Ausschussvorsitz zusteht. Im Ausschuss selbst fand dann keine Wahl des Vorsitzes statt, sondern vielmehr eine Art Akklamation der Kandidat*innen, die die jeweilige Fraktion für die ihr zustehenden Vorsitzposten ausgewählt hat. Diese langjährige Parlamentspraxis erfuhr mit dem Einzug der AfD in den Bundestag einen Wandel: So wurde im 19. Deutschen Bundestag der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner durch Mehrheitswahl zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses gewählt, aber bereits im November 2019 wieder abgewählt. Maßgeblich dafür war vor allem Brandners Retweet eines Beitrags auf Twitter zu dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 und Brandners Äußerungen auf Twitter gegenüber dem Sänger Udo Lindenberg. In der 20. Legislaturperiode konnte sich der Ältestenrat nicht über die Verteilung der Ausschussvorsitze einigen, sodass diese im Rahmen eines sog. Zugriffsverfahrens vergeben werden mussten. Die AfD-Fraktion erhielt den Zugriff für den Innenausschuss, Gesundheitsausschuss und Entwicklungsausschuss, ihre jeweiligen Kandidaten allerdings nicht die erforderliche Mehrheit. Bis heute besetzt die AfD keinen Ausschussvorsitz im 20. Deutschen Bundestag.

Dürfen Ausschussvorsitzende gewählt werden?

Auf den ersten Blick scheint die Rechtslage klar: Warum sollte der Ausschussvorsitz in einem System, das durch das Mehrheitsprinzip geprägt ist, nicht durch Mehrheitswahl bestimmt werden? Die maßgeblichen Vorschriften sind indes nicht eindeutig. Das Grundgesetz selbst regelt die Besetzung des Ausschussvorsitzes nicht, sodass die Entscheidung über das Verfahren der Besetzung des Vorsitzes der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags obliegt. Diese spricht in § 58 GO-BT vom „Bestimmen“ des Vorsitzes durch den Ausschuss, nicht etwa von einer „Wahl“. Die Systematik der GO-BT legt zumindest nahe, dass mit „bestimmen“ in § 58 GO-BT keine ungebundene Wahl im Ausschuss gemeint ist, da gem. § 12 GO-BT „die Regelung des Vorsitzes in Ausschüssen […] im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen“ ist.

In Anbetracht dieser Regelungen könnte die Abwahl Brandners bzw. die Nichtwahl der drei AfD-Ausschussvorsitzenden in zweifacher Hinsicht gegen die Verfassung verstoßen haben. So argumentiert jedenfalls die AfD und bemüht einerseits die Regelung des § 12 GO-BT in Verbindung mit dem Gebot der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung der AfD-Fraktion, die ihr ein „verfassungsrechtliches Teilhaberecht“ zukommen ließen und mittelbar in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzen. Selbst wenn die Regelungen der Geschäftsordnung eine freie Wahl erlauben und damit kein Teilhaberecht der AfD-Fraktion enthalten, könnte andererseits unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG selbst folgen, dass die AfD-Fraktion an der Besetzung von Ausschussvorsitzen teilhaben können muss. Letzteres nahm die AfD-Prozessvertretung ausdrücklich an, da der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz – Verteilung der Ausschussvorsitze nach dem Stärkeverhältnis im Plenum – auch bei der Besetzung der Ausschussvorsitze gelte. Die Gegenseite verneinte dies hingegen mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Grundsatz gleichberechtigter Teilhabe der Fraktionen grundsätzlich nicht gebiete, dass auch Positionen organisatorischer Art, wie die der Ausschussvorsitze, im Parlament je nach Stärke der Fraktionen zu verteilt sind.

Darüber hinaus ergebe sich laut Prozessvertretung der AfD-Fraktion die Verfassungswidrigkeit der Wahl bzw. Abwahl auch unmittelbar aus einem Verstoß gegen das Recht auf effektive Opposition (Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG).

Funktion des Ausschussvorsitzenden für Fraktion und Ausschuss

Ein Dreh- und Angelpunkt der Organstreitverfahren ist somit die Frage nach der Rolle und Funktion des Ausschussvorsitzes. Denn von der Bedeutung des Ausschussvorsitzes für die AfD-Fraktion hängt ab, ob ihre Teilhaberechte oder gar Oppositionsrecht betroffen sind. Von der Funktion des Ausschussvorsitzenden für den Ausschuss selbst hängt wiederum ab, welche konkreten Anforderungen an eine Abwahl zu stellen sind.

Nach innen nimmt der Vorsitz zwar allein organisatorische Verwaltungsaufgaben wahr (vgl. § 59 GO-BT), nach außen kommt dem Vorsitz jedoch auch eine nicht unerhebliche Repräsentationsfunktion für den Ausschuss als Ganzes zu, z.B. bei der Leitung von Delegationen oder im Gespräch mit Verbänden. Dies führt nach einhelliger Auffassung dazu, dass Vorsitzende sich in ihrem Außenverhalten mäßigen müssen, um das Vertrauen aller Ausschussabgeordneten (weiterhin) zu genießen. Nach Anhörung mehrerer sachverständiger Dritter durch den Senat (Bundestagsabordnete, ehemalige und amtierende Ausschussvorsitzende sowie eine Mitarbeiterin der Bundestagsverwaltung) wurde gleichsam deutlich, dass substanzielle politische Befugnisse, etwa Kontrollrechte oder bestimmte Informationsvorteile, mit der Funktion des Ausschussvorsitzes nicht verbundenen sind, was insbesondere eine Verletzung von Oppositionsrechten im hiesigen Verfahren unwahrscheinlich scheinen lässt. Gleichwohl verbleibt die besondere Spannungslage zwischen den Teilhaberechten der Fraktion und dem Bedürfnis einer Wahl bzw. Abwahl des Vorsitzes zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Ausschusses.

Zulässigkeit einer Abwahl

Ebenfalls unklar ist die Rechtslage hinsichtlich der Möglichkeit, einen Ausschussvorsitzenden abzuwählen. Eine ausdrückliche Rechtsgrundlage in der GO-BT existiert nicht. Für die Möglichkeit wurde in der mündlichen Verhandlung primär ein actus-contrarius-Gedanke ins Feld geführt: Wenn es möglich ist, den Ausschussvorsitz durch Wahl zu bestimmen, dann muss es auch möglich sein, ihn in einem Wahlakt abzuberufen. Das leuchtet unmittelbar ein: Gerade bei Fehlverhalten muss es natürlich möglich sein, einen Wechsel im Vorsitz herbeizuführen; andernfalls wäre die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses massiv beeinträchtigt.

Verstoß gegen das Mehrheitsprinzip durch das Mehrheitsprinzip?

Die gegensätzlichen Positionen zur Möglichkeit der Wahl bzw. Abwahl des Ausschussvorsitzes offenbaren letzlich zwei divergierende Vorstellungen des Demokratieprinzips: Die antragsstellende AfD-Fraktion sieht in der faktischen Nichtbesetzung der Ausschussvorsitze durch ihre Kandidaten einen Verstoß gegen das Mehrheitsprinzip. Durch das Zweitstimmenergebnis habe die Wahlbevölkerung die Kräfteverteilung im Bundestag bestimmt, was sich vom Plenum bis in den Ausschuss und bis in die Leitungsgremien wie den Ausschussvorsitz fortsetzen müsse. Der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz gelte also nicht nur für die Ausschussbesetzung, sondern bis in die letzte Arbeitsebene. Durch eine ungebundene Mehrheitswahl der Ausschussvorsitze, die faktisch nie einen AfD-Kandidaten zum Vorsitz gelangen lasse, werde somit nicht dem Wählerwillen entsprochen und damit gegen das Mehrheitsprinzip verstoßen. Die Antragsgegner sehen hingegen gerade im gegenteiligen Ergebnis einen Verstoß gegen das Mehrheitsprinzip, wenn einer demokratisch legitimierten Parlamentsmehrheit vorgeschrieben würde, einen Kandidaten zu bestimmen, der eigentlich nicht dem Mehrheitswillen im Parlament entspricht.

Ähnlich unterschiedliche Grundvorstellungen kristallisierten sich in Bezug auf das Konsensprinzip heraus: Zwar bestand zwischen den Parteien Einigkeit über die grundsätzliche Bedeutung eines interfraktionellen Konsenses über parlamentarische Verfahren. Die AfD-Fraktion versteht unter Konsens jedoch, dass die Fraktionen Einigkeit darüber herstellen müssen (etwa durch Zugriffsverfahren), welcher Fraktion welcher Ausschussvorsitz zukommt; die Besetzung des Vorsitzes obliege dann aber letztlich der Fraktion selbst. Insoweit plädiert die AfD hier für ein konsensuales Verfahren, nicht für eine Wahl. Umgekehrt argumentieren jedoch die Antragsgegner*innen, dass gerade zur Wahrung konsensualen und loyalen Zusammenarbeitens innerhalb der Ausschüsse ein Ausschussvorsitz gewährleistet sein muss, der das Vertrauen aller Ausschussmitglieder genießt. Wenn ein Ausschussvorsitzender wie Brandner das Vertrauen verliere, dann müsse auch dessen Abwahl möglich sein. Konsensuales Zusammenarbeiten im Ausschuss setze also gerade die Möglichkeit einer Wahl und Abwahl des Ausschussvorsitzes voraus.

Kann das Bundesverfassungsgericht die (Ab-)Wahl überprüfen?

Besonders interessant ist hier die Frage nach der richterlichen Kontrolldichte. Die Entscheidung über die Besetzung des Ausschussvorsitzenden ist naturgemäß hochpolitisch. Unzählige Male fiel in der Verhandlung das Wort „Vertrauen“ in der Umschreibung der Erwartungen, die die anwesenden Bundestagsabgeordneten unterschiedlicher Fraktionen an einen Ausschussvorsitzenden haben. Doch wer sollte das (fortdauernde) Bestehen dieses Vertrauens besser beurteilen können als die jeweiligen Ausschussmitglieder selbst? Dass dies durch das Verfassungsgericht kaum überprüfbar ist, machte die Prozessbevollmächtigte der Antragsgegner überzeugend deutlich.

Eine Reihe von Fragen des Senats zielte auf die Maßstabsbildung bei der gerichtlichen Kontrolle von „Wahlentscheidungen“ von Ausschussvorsitzenden ab. Ohne dem irgendeinen Aussagegehalt für die Entscheidung des Gerichts beimessen zu wollen, war es doch bemerkenswert, wie die Richter:innen ganz verschiedene Ideen und Möglichkeiten für die gerichtliche Überprüfung anklingen ließen: Etwa eine reine Missbrauchskontrolle – doch was ist eine missbräuchliche (Ab-)Wahl eines Ausschussvorsitzenden? Bedarf es für die Abwahl eines Ausschussvorsitzenden eines wichtigen oder lediglich eines plausiblen Grundes? Maßstäbe hierfür, so betonte das Gericht, müssten erst neu entwickelt werden.

Bruch mit dem Konsensprinzip im Bundestag?

Mit der mündlichen Verhandlung stellt sich implizit die Grundsatzfrage, ob nach dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag ein fraktionsübergreifendes, konsensuales Modell parlamentarischer Selbstorganisation überhaupt noch möglich und gewollt ist. Denn letztlich wirken die streitentscheidenden Vorschriften der GO-BT wie aus der Zeit gefallen: Sie beruhen auf einem Grundkonsens parlamentarischer Fraktionen über demokratische und institutionelle Werte und Verfahren, den es im Parlament in dieser Form nicht mehr zu geben scheint. Erst dadurch entsteht ja auch die Abweichung zwischen Geschäftsordnung und politischer Wirklichkeit: Die GO-BT sieht schlussendlich eine Besetzung des Vorsitzes durch die AfD-Fraktion vor, politisch scheint die Wahl der Personalvorschläge der AfD zum Ausschussvorsitz aber bereits aufgrund der Fraktionszugehörigkeit als solcher nicht gewollt.

Wenn für die Parlamentsmehrheit eine Besetzung von Leitungspositionen mit AfD-Kandidaten unabhängig von der Person des Kandidaten kategorisch ausgeschlossen wird, dann wäre es folgerichtig, auch die Geschäftsordnung dahingehend zu ändern und eine ungebundene Mehrheitswahl der Ausschussvorsitzenden zu ermöglichen. Bei dieser müssten dann AfD-Kandidaten nicht gewählt werden. Für das bisherige Unterlassen sind verschiedene Erklärungen denkbar: Entweder könnte tatsächlich weiterhin der Wille bestehen, sich die Wahl eventuell konsensfähiger AfD-Kandidaten offen zu halten. Daneben könnten politische Bedenken bestehen, in der Geschäftsordnung ausdrücklich mit einer langjährig bewährten Tradition der konsensualen Besetzung von Ausschussposten zu brechen; für die konsensuale Besetzung der Ausschussvorsitze nach Fraktionsstärke gibt es angesichts der generellen Bedeutung konsensualen Zusammenwirkens gewiss gute Gründe. Hinzu kommt von rechtlicher Seite das Problem, dass die reine ungebundene Mehrheitswahl der Vorsitze möglicherweise gegen das Grundgesetz verstößt: Insbesondere stellt sich die Frage, ob die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages so weit reicht, dass dieser alle Ausschussposten nach dem Mehrheitsprinzip besetzen kann, was im internationalen Vergleich durchaus üblich und auch in Deutschland nicht ausgeschlossen erscheint, oder ob einer solchen Regelung ein verfassungsunmittelbarer Anspruch der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auf gleichberechtigte Mitwirkung an der Besetzung der Vorsitze entgegenstünde. Darüber hat jedenfalls das Bundesverfassungsgericht bisher nicht entschieden. Die Berichterstatterin Christine Langenfeld deutete in der Verhandlung bereits an, dass die Entscheidung in diesem Verfahren auch der Maßstabsbildung für in der Zukunft zu erwartende ähnliche Fälle diene.


SUGGESTED CITATION  Ertelt, Benedict: Das Ende des parlamentarischen Konsensprinzips?: Zur mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen AfD-Ausschussvorsitz, VerfBlog, 2024/3/22, https://verfassungsblog.de/das-ende-des-parlamentarischen-konsensprinzips/, DOI: 10.59704/47cffae841d22446.

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