23 February 2023

Das Ende von Schengen?

Dänemarks Grenzkontrollen an der dänisch-deutschen Grenze verletzen EU-Recht

Anfang Januar gab es ein Jubiläum an der deutsch-dänischen Grenze: zum siebten Mal jährte sich die Wiedereinführung der Grenzkontrollen durch Dänemarks. 25-mal notifizierte die dänische Regierung die europäische Kommission seit Anfang 2016, dass an der Binnengrenze zu Deutschland weiterhin kontrolliert werde. In einem Gutachten im Auftrag von MEP Rasmus Andresen und der grünen Fraktion im EU-Parlament, das Anfang dieser Woche vorgestellt wurde, haben wir die Notifikationsschreiben Dänemarks am Maßstab des europäischen Rechts daraufhin untersucht, ob sie die Wiedereinführung und Aufrechterhaltung von Grenzkontrollen zu rechtfertigen vermögen. Immerhin ist die Freizügigkeit von Unionsbürger*innen (Art. 21 AEUV) eine zentrale Errungenschaft der EU. Wenige Ereignisse verkörpern die europäische Einigung so symbolträchtig wie der Abbau von Schlagbäumen an den Binnengrenzen zwischen Mitgliedstaaten.

Nicht nur Dänemark kontrolliert seit 2016 wieder an den Grenzen, auch Österreich, Frankreich, Deutschland, Norwegen und Schweden führten Grenzkontrollen wieder ein. Deutschland etwa kontrolliert bereits seit September 2015 die bayerische Grenze zu Österreich und verlängerte diese Kontrollen zuletzt bis zum 11. Mai 2023. Im Detail beschäftigt sich dieser Beitrag mit den Grenzkontrollen Dänemarks. Es ist jedoch anzunehmen, dass eine Analyse der Notifikationsschreiben der anderen Länder zu ähnlichen Ergebnissen führt. Diese Staaten legen die Axt an die Freizügigkeit im EU-Binnenraum.

Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder bloße Risiken?

Dänemark rechtfertigt die Wiedereinführung von Grenzkontrollen mit einem im Laufe der sieben Jahre immer länger werdenden Katalog an Gründen: 2016 begann es mit den Migrationsbewegungen infolge des syrischen Bürgerkrieges. Die damalige Regierung führte „militanten Islamismus“ als angebliche Bedrohung an. Später verwies sie auf organisierte Kriminalität. Mit dem Weltenlauf traten sodann die Covid-19 Pandemie sowie Fluchtbewegungen aus der Ukraine und Russland hinzu, und auch die Situation an der Außengrenze zu Weißrussland blieb nicht unerwähnt.

Der EuGH urteilte unlängst über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen in einem österreichischen Fall (Rechtssachen C-368/20 und C-369/20, Landespolizeidirektion Steiermark). In seinem Urteil vom April 2022 forderte der EuGH, dass Mitgliedstaaten die angeführten Gefahren „nachweisen“ müssen. Die Beweislast liegt also bei den Mitgliedstaaten. In den dänischen Notifikationsschreiben sucht man vergeblich nach konkreten Nachweisen für die behaupteten Gefahren. Regelmäßig geht es vielmehr um Risiken, die sich noch nicht zu Gefahren verdichtet haben.

Selbst wenn man aber unterstellt, dass solche Gefahren existierten, müsste Dänemark doch belegen, wie gerade Grenzkontrollen helfen, die behaupteten Gefahren zu verhindern. Daran äußerte die Reichspolizei bereits 2016 Zweifel. Wie just diese Woche bekannt wurde (Bericht der dänischen Tageszeitung Information), handelte es sich seinerzeit vor allem um einen symbolischen Akt, die der dänischen Bevölkerung signalisieren sollte, dass die dänische Regierung nicht untätig auf die syrischen Flüchtlinge wartet.

Der Schengen-Raum

Im Schengen-Raum, dem Dänemark 2001 beitrat, sind Grenzkontrollen abgeschafft. Das EU-Primär- und Sekundärrecht sieht wenige Ausnahmen vor, in denen Grenzkontrollen zeitlich begrenzt wieder eingeführt werden können.

Die Freizügigkeit ist einer der Grundpfeiler der europäischen Integration. Das EU-Primärrecht hält die Freizügigkeit im europäischen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts “ohne Binnengrenzen” prominent in Art. 3 Abs. 2 EUV fest. Art. 77 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. e AEUV ermächtigt die EU, eine Politik zu entwickeln, mit der sichergestellt wird, „dass Personen an den Binnengrenzen für alle Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit nicht kontrolliert werden“. Dennoch gibt es in Art. 72 AEUV einen sogenannten ordre public-Vorbehalt, wonach die primärrechtlichen Normen über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts „die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ nicht berühren. Dieser Vorbehalt hat Ausnahmecharakter, und dennoch erfolgende Beschränkungen der Freizügigkeit müssen verhältnismäßig sein.

Der Schengener Grenzkodex (SGK – VO 2016/399) regelt die Bedingungen des Überschreitens der Grenzen innerhalb der Mitgliedsstaaten des Schengen-Raums im Detail. Dabei sind Personenkontrollen an den Binnengrenzen grundsätzlich abgeschafft, so sieht es Art. 22 SGK vor. Die angesprochenen Ausnahmen sind in Art. 25 ff. SKG vorgesehen. Erstens regelt Art. 25 vorhersehbare Gefahren, die zu „außergewöhnlichen Umständen“ führen und „vorübergehende“ Wiedereinführungen von Binnengrenzkontrollen als „letztes Mittel“ erlauben, wenn „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ ist. Zweitens erlaubt Art. 28 SGK bei unvorhersehbares Gefahren die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, wenn „sofortiges Handeln erforderlich ist.“ Drittens regelt Art. 29 SGK „so außergewöhnliche Umstände“, dass das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährdet ist und deshalb Kontrollen an den Binnengrenzen nötig sind; in diesem Fall kann der Rat der EU auf Vorschlag der Kommission empfehlen, dass Mitgliedsstaaten wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einführen. Dies geschah 2016, als Reaktion auf die erhöhten Migrationsbewegungen in die EU als Folge des Bürgerkriegs in Syrien.

Festzuhalten ist, dass die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen immer zeitlich begrenzt ist: Die Fristen sind in Art. 25 SGK, Art. 28 und Art. 29 SGK klar geregelt. Kontrollen an Binnengrenzen können also immer nur für klar definierte und begrenzte Zeiträume wiedereingeführt werden. Zudem dürfen Grenzkontrollen immer nur als „letztes Mittel“ wiedereingeführt werden und müssen stets dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen, d.h. „in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.“ (Art. 25 Abs. 1 S. 2 SGK). Ein Mitgliedsstaat, der Grenzkontrollen wiedereinführen möchte, muss gemäß Art. 26 SGK deswegen die Bedrohung einerseits und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen andererseits abwägen.

Art. 27 SGK schließlich regelt das Verfahren der Notifikation an die europäische Kommission, das Mitgliedsstaaten befolgen müssen, wenn Grenzkontrollen wiedereingeführt werden sollen. Die Kommission wird so in Kenntnis gesetzt über die Grenzkontrollen und kann auf sie reagieren. Wir haben uns die Notifikationsschreiben der dänischen Regierung in den letzten sieben Jahren angesehen.

Vage Gefahren und unverhältnismäßige Kontrollen

Die dänische Regierung wechselte beständig die angegebenen Rechtfertigungsgründe und gab eine immer länger werdende Liste an „Gefahren“ an. Ähnlich argumentierte der französische Conseil d’État, als er zur Rechtmäßigkeit der wiedereingeführten Kontrollen von Frankreich an den Grenzen zu Belgien, Luxemburg, Deutschland, der Schweiz, Italien und Spanien zwischen dem 1. Mai 2022 und dem 31. Oktober 2022 urteilte. Der Conseil d’État befand, dass selbst wenn der von Frankreich angeführte Rechtfertigungsgrund der Sekundärmigration keine neue Bedrohung darstellen sollte, doch die anderen Gründe ausreichten, um eine erneute Verlängerung der Grenzkontrollen zu rechtfertigen. Damit ließ der Conseil d’État das Gießkannenprinzip zu. Dänemark agiert ähnlich und scheint zu hoffen, dass die europäische Kommission und die anderen Mitgliedstaaten einen oder mehrere der vielen genannten Gründe akzeptieren werden.

Wie gesehen, erlaubt das Unionsrecht bei Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Ein bloßes Risiko reicht demgegenüber nicht aus. Besonders in den letzten beiden Notifikationen vom 11. Mai 2022 und dem 14. Oktober 2022 blieb die dänische Regierung sehr vage, was die konkreten Gefahren betrifft. So schrieb sie, dass der größere Strom von Migrant*innen und Vertriebenen kurzfristig dazu führen könnte, dass Personen, die eine Bedrohung für Dänemark darstellen könnten, in den Schengen-Raum einreisen könnten, oder nicht ausgeschlossen werden könne, dass russische Bürger*innen, die sich der Mobilmachung entziehen wollen, womöglich eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen. Diese Spekulationen sind nirgendwo nachgewiesen. Wenn solche Formulierungen Grenzkontrollen rechtfertigen könnten, dann könnten wir den Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen gleich abschaffen. Es ist schlicht unmöglich, stets alle Risiken angeblicher Bedrohungen auszuschließen. Anders gewendet: Wenn größtmögliche Sicherheit der Fluchtpunkt ist, dann sollte am besten niemand mehr Grenzen überqueren.

Wie oben beschrieben, muss die Wiedereinführung von Grenzkontrollen immer zeitlich begrenzt und verhältnismäßig sein. Bei Grenzkontrollen, die seit sieben Jahren kontinuierlich andauern, sind die im Schengen-Kodex vorgesehenen Fristen samt und sonders längst überschritten. Der Europäische Rat, die EU-Kommission und der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments haben jeweils schon dazu aufgerufen, die Kontrollen an den Binnengrenzen endlich wieder aufzuheben und den Schengen-Raum wiederherzustellen.

Doch die Notifikationen der dänischen Regierung halten auch unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit nicht stand. Der legitime Zweck der Grenzkontrollen ist aufgrund der beschriebenen Vermischung von tatsächlichen Gefahren und bloßen Risiken höchst fragwürdig. Die Geeignetheit der Grenzkontrollen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerade zu wahren, hat Dänemark in den Notifikationen nicht hinreichend belegt. Die Frage nach der Erforderlichkeit der Kontrollen, ob es also mildere, aber gleich effektive Mittel gibt, beantwortete Dänemark zuletzt pauschal damit, dass polizeiliche Kontrollen an den Grenzen nicht ausreichten, ohne auszuführen wieso nicht. Die systematische Einschränkung der Freizügigkeit von Unionsbürger*innen, um vor bloß behaupteten Gefahren zu schützen, steht in keinem angemessenen Verhältnis. Dies gilt besonders in einer hoch integrierten Region wie Nordschleswig und Süddänemark, wo seit dem Versailler Vertrag dänische und deutsche Minderheiten auf beiden Seiten der Grenze leben.

Warum die EU-Kommission untätig bleibt und was ihre Pläne sind

Die Praxis der fünf Mitgliedsstaaten, die Grenzkontrollen immer wieder zu verlängern, obwohl keine konkrete und neue Gefahr nachgewiesen wird, ist nicht mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar. Dennoch ist die EU-Kommission bisher untätig geblieben und hat kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

Aktuell wird der Reformvorschlag zu einem neuen Schengener Grenzkodex im Europäischen Parlament diskutiert. Die Reform soll den Mitgliedsstaaten noch mehr Möglichkeiten geben, Grenzkontrollen wiedereinzuführen und zu verlängern sowie die von den Mitgliedsstaaten seit 2016 angegebenen Gründe explizit als Bedrohungen in den Schengener Grenzkodex aufnehmen. Damit versucht die Kommission anscheinend, Konflikte mit den Mitgliedsstaaten zu vermeiden, indem sie die momentan rechtswidrigen Praktiken legalisiert, anstatt ihrer Aufgabe als Hüterin der Verträge gerecht zu werden.

Personenfreizügigkeit ist eine der wichtigsten Errungenschaften der EU. Die Untätigkeit der Kommission gegenüber eindeutigen Rechtsverletzungen einiger Mitgliedsstaaten wie Dänemark droht, diese ernsthaft und langfristig zu beschädigen.


SUGGESTED CITATION  Mangold, Anna Katharina; Kompatscher, Anna: Das Ende von Schengen?: Dänemarks Grenzkontrollen an der dänisch-deutschen Grenze verletzen EU-Recht, VerfBlog, 2023/2/23, https://verfassungsblog.de/das-ende-von-schengen/, DOI: 10.17176/20230223-185238-0.

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