24 June 2023

Das Lächeln in ihrem Gesicht

Es gibt keinen konservativeren Gesichtsausdruck als das Lächeln. Es lächelt Musils Sektionschef Tuzzi über die Weltösterreich-Parallelaktionen seiner geistvollen Gattin und ihres keuschen Geliebten. Es lächelt Feuchtwangers Justizminister Otto Klenk über den verzweifelten Eifer des Rechtsanwalts Dr. Geyer. Es lächelt der Gentleman über die schrille Stimme der von ihm herabgewürdigten Frau und die Bildungsbürgerin über das spaßige Deutsch, in dem sich die Ausländer beschweren, und das Mitglied der guten Gesellschaft ganz generell über die Albernheiten und Aufgeregtheiten der Welt, wie sie eben nun einmal beschaffen ist. Das Lächeln paart Verbindlichkeit mit Humor und einem Tropfen Verachtung, ist mitnichten feindselig, weil man das gar nicht nötig hat, ist eine Geste freundlicher, gelassener, auf Distanz haltender Unüberraschtheit, die wie keine andere das zum Ausdruck bringt, was dem Konservativen am wichtigsten erscheint: ganz und gar bei sich zu sein.

Ich war in dieser Woche bei einem Vortrag des Münchner Staatsrechtlers Jens Kersten, der in der Berliner Humboldt-Uni die Thesen seines Buchs über die Möglichkeit eines ökologischen Grundgesetzes vorstellte. Etwa zur Hälfte des Vortrags, nachdem er den Vorschlag erläutert hatte, die Sozialbindung des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 GG um eine Ökologiebindung zu erweitern, unterbrach sich Kersten, um zu sagen: Er sehe da manche lächeln im Publikum. Kersten klang nicht besonders überrascht. Sie bräuchten sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, sagte er mit einem kleinen Lächeln seinerseits: “Außer mir vertreten diese Dinge höchstens dreieinhalb Kolleginnen und Kollegen. Die anderen 800 sind auf Ihrer Seite.”

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Kerstens Thesen sind gar nicht besonders radikal. Alles, was er fordert, ist der verfassungsrechtliche Nachvollzug der mitten in der Klimakatastrophe ohnehin unausweichlichen Erkenntnis, dass auch die so genannte Natur voller Akteure steckt, die es sich nicht länger gefallen lassen, zu bloßen Objekten menschlichen Handelns gemacht zu werden. Was dieser Nachvollzug bedeuten würde, an welchen Stellen in der Präambel, in den Staatsprinzipien, in den Grundrechten und im Staatsorganisationsrecht er welche Anpassungen erfordern würde, dazu hat er Vorschläge ausgearbeitet, sehr vernünftige, ausgewogene, gut begründete, über deren Stärken und Schwächen man natürlich diskutieren kann und sollte, die aber nichts auch nur entfernt Umstürzlerisches oder anderweitig Furchterregendes an sich haben.

Dieser Nachvollzug ist per se schon deswegen nicht radikal, weil der größte Teil der Verfassung ohnehin und seit jeher schon aus solcherlei Nachvollzug besteht. Akteure, die es sich nicht länger gefallen lassen, zu bloßen Objekten gemacht zu werden: ob das die Steuerzahler und Militärdienstleister des 18. Jahrhunderts waren, die Arbeiter des 19. Jahrhunderts, die Diskriminierten und Kolonisierten des 20. Jahrhunderts – sie alle haben in harten Kämpfen mit zäher Geduld dafür gesorgt, dass den jeweiligen Konservativen ihrer Zeit ihr arrogantes Lächeln zunehmend schwerer fiel, woraufhin zur Wiederherstellung ihres heiteren Gesichtsausdrucks schleunigst Verfassungsrecht erlassen, Repräsentation und Rechte eingeräumt, Rechtsrahmen geschaffen wurden, um mit den solchermaßen als Rechtssubjekte Anerkannten Politik machen und einigermaßen vernünftig zusammenleben zu können. Denn unter permanenter wechselseitiger Gewaltandrohung zu leben ist für alle Seiten auf die Dauer kein Vergnügen. Ein Argument, das zumal Konservativen auf das Zwingendste einleuchten müsste.

Jetzt also auch die Ökosysteme. Flüsse als Rechtssubjekte. Bäume, die klagen. Primaten als Personen. Das geht. Das wird längst praktiziert. Das ist kein utopischer Pipedream von irgendwelchen Spinnern. Das gibt es bereits. Da gibt es Rechtsprechung, Praxis, gelebte Erfahrung. Ecuador hat schon seit bald eineinhalb Jahrzehnten eine ökologische Verfassung. Das funktioniert. Und wer da ironisch die Lippen kräuselt, muss aufpassen, nicht als uninformiert, unbelesen und hinterwäldlerisch da zu stehen. Was man ja zumeist als honoriger Konservativer eher nicht so gerne möchte. Offenbar muss man diesen Latour gelesen haben, um da überhaupt, ohne sich zu blamieren, mitreden und in ungebrochenem Selbstbewusstsein weiterlächeln zu können. Also gut, seufzt der Konservative, lesen wir dann halt den Latour, sie sind ja gottseidank nicht so dick, seine Bücher. Und siehe, schon leuchtet das Lächeln der Erkenntnis auf seinen Lippen. Interessant ist das doch. Auch anschlussfähig für manches, was er in hohen Ehren hält, der Konservative. Das letzte Buch, das mit dem ökologischen Klassenkampf, das ist ein linksradikaler Schmarren. Aber die anderen? Gar nicht schlecht. Da werden sie die Ohren spitzen im Rotaryclub.

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Ich glaube, ich mache keinen Fehler, wenn ich vermute, dass die meisten Jurist*innen konservative Menschen sind. Vor dreißig Jahren, als ich in München Jura studierte, gab es viele dieser Vorschläge im Kern ja bereits längst, und selten sah man Menschen breiter lächeln als die Münchner Juraprofessoren dieser Epoche beim Sprechen über die Ideen dieser zauseligen ostdeutschen Bürgerrechtler. Sehr amüsant, was die da in ihre und dann ja wohl auch unsere Verfassungen reinschreiben wollen an Rechten der Natur und dergleichen, meine Herren! So blieb es bei der Staatszielbestimmung des 20a Grundgesetz, die die längste Zeit dieser dreißig Jahre auch genauso gut hätte nicht in der Verfassung stehen können, so wenig Unterschied hat sie gemacht. Drei Jahre ist es her, da konnte man ein Prachtexemplar von einem konservativen Lächeln auf den dünnen Lippen von Friedrich Merz sehen, als dieser bei Markus Lanz mit der Klimaaktivistin Luisa Neubauer aufeinander traf. Das Lächeln wurde dann im Laufe der Begegnung schnell schmaler und verschwand. Art. 20a GG ist, Karlsruhe sei Dank, eine Norm, die man als Jurist*in heute kennen muss. Es ändern sich die Zeiten, ob schnell genug, ist eine andere Frage, aber sie ändern sich. Und wer in nochmal dreißig Jahren lächeln wird, der Münchner Juraprofessor, der im Jahr 2023 den ersten Entwurf einer ökologischen Verfassungsreform für Deutschland vorgelegt hat, oder diejenigen, denen dazu damals nichts anderes eingefallen ist als ein süffisantes Grinsen – das werden wir dann ja sehen. (Wenn wir dann noch leben.)

Was wäre denn die Alternative? Die Antwort liegt auf der Hand: wem das Lächeln vergeht, der wird unangenehm. Die fossile, patriarchale, koloniale Basis der eigenen lächelnden Überlegenheit so massiv und unausweichlich streitig gemacht zu bekommen, wie es den Konservativen heutzutage widerfährt, ist eine enorme Zumutung, und wenn sich die nicht mehr wie früher einfach überlegen weglächeln lässt, dann macht einen das nur um so wütender. Aber wenn konservativ sein heißt, gelassen und bei sich zu bleiben, dann ist das permanente kulturkämpferisches Herumwüten und Aus-der-Haut-Fahren auf die Dauer keine Option. Was aus Konservativen wird, die ihr Lächeln gegen die Grimasse des Ressentiments eintauschen, dafür gibt es ja ringsum genügend Anschauungsmaterial. Wer will denn so enden wie die Republikaner oder die Tories.

Die CDU hat schon in den 80er und 90er Jahren das neoliberale Zähnefletschen der Reagan- und Thatcher-Ära nicht so recht mitmachen wollen, und als sie das Anfang der 00er Jahre mittels der von dem deutschen Juristen Paul Kirchhof und einem gewissen Friedrich Merz propagierten Bierdeckel-Steuererklärung nachzuholen trachtete, fing sie sich prompt eine traumatische Wahlniederlage ein. Die CDU ist nicht so. Sie ist eine Union. Sie vereint das Verschiedene. Sie ist der parteigewordene Kompromiss. Sie hat es geschafft, Protestanten und Katholiken unter einem Dach zu versammeln; das trägt sie buchstäblich im Namen, das ist ihr größter Stolz. Ihre größte Scham ist, dass es deutsche Konservative waren, die in den frühen 30er Jahren Adolf Hitler zur Kanzlerschaft verholfen haben. Das darf nie wieder passieren. Das wissen die meisten unter ihnen auch.

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An der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine W3-Professur für Öffentliches Recht und Energierecht zu besetzen. Bewerbungen werden bis zum 11. Juli 2023 erbeten. Alle weiteren Informationen finden Sie hier.

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Die Klimakatastrophe ist reale Gegenwart, die Anwesenheit der ehemals Kolonisierten ebenfalls. Auf dem Land, wo die Grünen mit ihrer urbanen Herablassung voll Inbrunst gehasst werden, erfahren die Leute die Wirklichkeit der Dürre, der Waldbrände, des Artensterbens sehr brutal und unmittelbar am eigenen Leib. Da ein paar glaubwürdige, durchdachte, vernünftige, konservative, postfossile Lösungen anzubieten, könnte in vielen ländlichen Gebieten zweifellos eine Menge Zug entfalten. In den Städten gibt es Hunderttausende tief religiöse, die ganz und gar konservative Wähler*innen muslimischen Glaubens, die nur darauf warten, von einer lächelnden, zuversichtlichen, konservativen, entschlossen nicht-autoritär-populistischen CDU eingesammelt zu werden. Was gibt es da noch zu überlegen?

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

Mehrere Hundert Menschen starben am 14. Juni bei dem Schiffsunglück von Pylos im Ionischen Meer.  NIAMH KEADY-TABBAL & ITAMAR MANN verurteilen die perverse Rechtfertigung der griechischen Regierung und die Normalisierung extremer Grenzgewalt.

Um die Unterstützung der Türkei für ihren NATO-Beitritt zu gewinnen, hat Schweden ein neues Antiterrorismusgesetz eingeführt, das die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt. Problematisch sei nicht der neue Straftatbestand per se, sondern repressiven Forderungen anderer Länder Folge zu leisten, warnt ESTER HERLIN-KARNELL.

Gegen den Regelungsvorschlag der EU-Kommission gegen das Artensterben  wird von der Agrarindustrie-Lobby heftig opponiert. Die rechtlichen Mythen, die über diesen Gesetzgebungsvorschlag im Umlauf sind, entlarvt NIELS HOEK.

Ungarn ist nicht demokratisch regiert, soll aber die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Welche legalen Möglichkeiten es gäbe, das abzuwenden, erläutert PETRA BÁRD.

Strafgefangene demütigenden Durchsuchungen zu unterwerfen, ist rechtswidrig – aber Schadensersatz gibt es in Deutschland deshalb noch lange nicht. Das restriktive deutsche Staatshaftungsrecht muss aber die Europäische Menschenrechtskonvention im Auge behalten, so das Bundesverfassungsgericht. MARTEN BREUER analysiert den Beschluss.

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Vacancy for a Postdoctoral Researcher

The chair in Law and Artificial Intelligence at the Faculty of Law at the University of Tübingen, funded by the Carl Zeiss Foundation and held by Prof. Dr. Michèle Finck, LL.M., conducts research on legal issues related to artificial intelligence. There is currently one vacancy for a

Postdoctoral researcher in Law and Artificial Intelligence (m/f/d).

The position is full-time and for a period of three years. Remuneration is in accordance with the E 13 TV-L collective agreement.

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Wer in Deutschland ohne Fahrschein fährt, dem droht nach §265a StGB eine Gefängnisstrafe. HANNAH VOS & VIVIAN KUBE schätzen diese Regelung als schädlicher ein als die Straftat selbst. Vernünftig, gerecht und wirtschaftlich sinnvoll sei nur eine Entkriminalisierung.

Das deutsche Bundespolizeigesetz soll reformiert werden. ALEXANDER TISCHBIREK zufolge sei das Problem des polizeilichen Racial Profilings zwar erkannt worden, doch enthalte der Entwurf nur halbherzige Anstrengungen, um effektiv davor zu schützen.

Diese Woche erging das Urteil des BVerfG zur Gefangenenvergütung. Obwohl es auf den ersten Blick als im Sinne der Beschwerdeführenden erscheine, weiche es tatsächlich die Anforderungen an eine angemessene Anerkennung der Arbeit auf, so LARA MANN & JAQUELINE STEIN.

Den Beschluss des Landgericht Berlin zur Strafbarkeit von Klimaklebern untersucht ANNIKA DIEßNER und vermutet Unstimmigkeiten zwischen den Kammermitgliedern im Hinblick auf den Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Zuletzt: unsere Blogdebatte Nachhaltigkeit in Zeiten planetarer Krisen wurde in dieser Woche mit Beiträgen von CAROLIN HEINZEL, KATHARINA GELBRICH, LUCIA SOMMERER, ISA BILGEN, FELICITAS SOMMER, ANDREAS BUSER und ANDREAS NITSCHKE abgeschlossen.

*

Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal!

Ihr

Max Steinbeis

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SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Das Lächeln in ihrem Gesicht, VerfBlog, 2023/6/24, https://verfassungsblog.de/das-lacheln-in-ihrem-gesicht/, DOI: 10.17176/20230624-111058-0.

5 Comments

  1. Pyrrhon von Elis Sat 24 Jun 2023 at 06:24 - Reply

    Ich habe bereits in einem anderen Beitrag in der Diskussion hier zur “Natur als Rechtsperson” geschrieben, dass der damit verbundene Unmut maßgeblich in der Grundbehauptung begründet liegt, Naturerscheinungen als “Subjekte” oder “Personen” deklarieren zu wollen, wenn es bei der gesamten Thematik im Grunde genommen um nichts anderes als Interessenvertretung und Erweiterung von Einflussbereichen geht. Das gilt auch für die meisten Urteile und Gesetzgebungsvorhaben in Südamerika sowie anderen Ländern des globalen Südens mit ähnlichen Entscheidungen. Der Unmut besteht also, bei Lichte besehen, maßgeblich in einem Etikettenschwindel, nicht in konservativer Überheblichkeit.

    “Das funktioniert. Und wer da ironisch die Lippen kräuselt, muss aufpassen, nicht als uninformiert, unbelesen und hinterwäldlerisch da zu stehen.”

    Uninformiert, unbelesen und hinterwäldlerisch steht in der Regel derjenige da, der seinen Standpunkt (1) nicht anders als durch moralische Überlegungen heraus begründen kann. Das gilt umso mehr bei dieser Diskussion, die mit Konservatismus relativ wenig zu tun hat, auch wenn das stark impliziert wird. (2) Wer verpasst, darauf aufmerksam zu machen, dass die Bezeichnung der “Natur als Rechtsperson” irreführend ist.

    Der EGMR ist in seiner Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ehrlicher, wenn er sich bei der Herleitung von ökologisch angeleiteten Informationsansprüchen gegenüber staatlichen Stellen maßgeblich auf die Menschen in Katastrophenregionen bezieht, die aufgrund der Erosion ihrer natürlichen Umgebung ein Sonderopfer erleiden.

    Warum man diesen methodisch einleuchtenden Ansatz gegen einen wesentlich dümmeren und in der Sache falschen eintauschen sollte, sehe ich nicht ein.

    De lege ferenda ist es auch so, dass man, wenn man denn solche “Rechte der Natur” einführen möchte, auf irgendeine Weise Vertreter der Rechtsperson benennen muss. Darin liegt meiner Meinung nach eben der Sprengstoff dieser Konstruktion. Wenn man ein Popularklagerecht für die Einhaltung ökologischer Gesetzgebung einführen möchte, müsste man das einfach zugeben.

  2. Martin Borowsky Sat 24 Jun 2023 at 08:40 - Reply

    Lieber Herr Steinbeis, wieder ein Beitrag zur rechten Zeit.
    Das Thema Rights of Nature ist nicht nur in den deutschen Feuilletons, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Gestern Abend stapfte der Oldenburger Philosoph Tilo Wesche in der Sendung Aspekte durchs Wattenmeer, dem er eigene Rechte verleihen möchte. In diesem Jahr wird sein Grundlagenwerk „Die Rechte der Natur. Vom nachhaltigen Eigentum“ veröffentlicht und „Das ökologische Grundgesetz“ von Jens Kersten um den Blick der Philosophie ergänzen. Das aktuelle Sonderheft des Philosophie Magazin widmet sich der Natur. Übrigens ließ bereits Italo Calvino den „Baron auf den Bäumen“ über solche Rechte philosophieren und in seine „Verfassung für ein republikanisches Staatswesen“ schreiben.
    Ich habe den Eindruck, gerade junge Jurist:innen zeigen sich hier aufgeschlossen. Mehrere Dissertationen zum Thema sind bereits oder werden demnächst erscheinen, etwa von Andreas Gutmann, Jasper Mührel oder Jula Zenetti. Sie entwickeln die Überlegungen der Vordenker Christopher Stone („Should Trees have Standing?“), Klaus Bosselmann, und ja, Bruno Latour weiter.
    Was esoterisch klingen und ein Lächeln hervorrufen mag, ist längst zu einer weltweiten Bewegung geworden, mit einer Anerkennung von Eigenrechten der Natur auf verfassungsrechtlicher, gesetzlicher oder judikativer Ebene. Übrigens ein reverse legal transplant, eine Bewegung, die sich vom Globalen Süden und den ehemaligen Kolonien in den Norden ausbreitet, was auch das Interesse des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht geweckt hat. Im Oktober 2022 hat sich daher der XXIst General Congress der International Academy of Comparative Law unter dem Stichwort „Global Legal Pluralism – Rights of Nature“ dem Thema gewidmet.
    Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Diese Rechte sind dynamisch und wirkmächtig. In Ecuador hat das Verfassungsgericht im November 2021 in einer bahnbrechenden Entscheidung den Bergbau im geschützten Nebenwald Los Cedros gestoppt (Gustavo Prieto, VerfBlog 2021/12/10). In Spanien hat jüngst der Gesetzgeber der größten, von Überdüngung und Übertourismus bedrohten Salzwasserlagune Europas – Mar Menor – eigene Rechte verliehen (Jasper Mührel, VerfBlog 2023/2/28).
    Wer sich weiter informieren möchte, dem stehen einschlägige Webseiten zur Verfügung: http://www.rechte-der-natur.de, http://www.centerforenvironmentalrights.org oder http://www.therightsofnature.org.
    Sehr zu empfehlen:
    Craig Kauffman/Pamela Martin (Hrsg.), The Politics of Rights of Nature. Strategies for Building a More Sustainable Future, 2021 (open source).

    • Andreas Paulus Mon 26 Jun 2023 at 09:13 - Reply

      Lieber Herr Steinbeis,
      für die Aussage, beim Wohl der Allgemeinheit in Art. 14 Abs. 2 GG gehe es auch um die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, brauchen wir keine subjektiven Rechte der Natur. Das dürfte mit einer systematischen Auslegung von Art. 14 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20a GG auch zu schaffen sein. Und mit der Klagebefugnis von Naturschutzverbänden im Verwaltungsrecht wird der advokatorische Schutz der Natur auch schon gewährleistet. Vielleicht lächelt mancher Verfassungsre chtler auch deshalb, weil das zum Großteil schon geltendes Recht ist?
      Warum der Schutz der Natur nicht konservativ sein sollte, erschließt sich mir im übrigen nicht, obwohl ich selbst kein Konservativer bin.

      • Martin Borowsky Mon 26 Jun 2023 at 22:38 - Reply

        Sehr geehrter Herr Paulus,
        das klingt gut. Geltendes Recht. Damit lässt sich in der Rechtspraxis argumentieren. Könnten Sie bitte noch Judikate und Präzedenzfälle benennen, auf die wir Praktiker uns ggf. berufen könnten?
        Besten Dank!

  3. M G Sat 24 Jun 2023 at 16:12 - Reply

    “Und wer da ironisch die Lippen kräuselt, muss aufpassen, nicht als uninformiert, unbelesen und hinterwäldlerisch da zu stehen.”

    Aha, ein einfaches Lächeln macht einem nun unbelesen? Und dass der Begriff des “Hinterwäldlers” tief klassistisch ist, sollte einem eigentlich bewusst sein. Die Gefahr einer solchen Sprache für die Egalität der Sozialklassen wurde hier aufgezeichnet: https://www.migazin.de/2017/05/30/bildungsrassismus-klassismus-und-sozial-protektionismus/

    “Auf der Mesoebene unterdrücken Angehörige einer „höheren Klasse“ diejenigen, die einer „niedrigeren“ Klasse angehören, als Gruppe, indem sie negative Vorurteile gegenüber ihnen aufbauen. „Helfershelfer“ sind dabei die Massenmedien. […] So kommt es, dass die Mehrheit des aus der akademischen Mittelschicht stammenden „Bildungspersonals“ in Europa „Ihresgleichen“ und ihre „Sprösslinge“ am Sprachcode, am Bildungsabschluss, an der Kleidung etc., trotz zunehmender Pluralisierung der Lebensstile und Sozialmilieus, erkennt und bewusst oder unbewusst favorisiert. Gerade in Ländern, in denen sich die „Lehrer“ einbilden, die Schüler (z.B. in Deutschland) nicht erziehen zu müssen, wird die Klasse und somit auch der Habitus als unveränderbares „Sozialmakel“ angesehen und aktiviert bewusst oder unbewusst „sozialrassistische“ oder klassistische Strategien des „Sozial-Protektionismus“ zum Erhalt der vermeintlich eigenen „Klasse“ oder „sozialen Gruppe“. Dadurch haben es Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und einkommenschwächeren Haushalten aufgrund ihre Habitus und des Sozialrassismus doppelt oder dreifach schwer. Sie müssen auch bei gleich guten Leistungen mehr Überzeugungsarbeit bei den Lehrer leisten als jene aus „besseren Schichten“.”

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