Wenn das Gesetz sozialschädlicher ist als die Straftat
Warum § 265a Abs. 1 Var. 3 StGB abgeschafft werden muss
Wer in Deutschland ohne Fahrschein fährt, dem droht Gefängnis. Nachdem bereits vielfältige Reformbestrebungen (etwa hier, hier oder hier) gescheitert waren, schlägt die Bundestagsfraktion Die Linke nun ein Gesetz vor, mit dem der Straftatbestand der Beförderungserschleichung (§ 265a Abs. 1 Var. 3 StGB) ersatzlos gestrichen werden soll. In der Anhörung der Sachverständigen am 19. Juni 2023 wurde erneut deutlich: Die Sanktionierung von Fahren ohne Fahrschein ist ein Systembruch mit dem deutschen Recht mit verheerenden Folgen für die einzelne Person und die Allgemeinheit. Vernünftig, gerecht und wirtschaftlich sinnvoll ist nur die Entkriminalisierung.
Eine Sondernorm für öffentliche Verkehrsbetriebe
Seit langem kritisieren Rechtswissenschaftler*innen, dass die derzeit von den Gerichten angewandte Auslegung des § 265a Abs. 1 Var. 3 StGB einen Systembruch mit dem Strafgesetzbuch (StGB) darstellt und mit dem ultima-ratio-Prinzip des Strafrechts nicht zu vereinbaren ist.
Die Rechtsprechung sieht das Tatbestandsmerkmals des „Erschleichens“ bereits durch das bloße unbefugte Benutzen eines Verkehrsmittels verwirklicht. Nach dem BGH soll es für die Strafbarkeit ausreichen, dass sich eine Person allgemein mit dem Anschein umgibt, sie erfülle die nach den Geschäftsbedingungen des Verkehrsunternehmens erforderlichen Voraussetzungen. Die Literatur fordert hingegen mit Verweis auf andere Betrugsdelikte stets ein täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten, etwa durch eine Überwindung von Sicherungs- oder Kontrollvorkehrungen oder ein heimliches bzw. listiges Vorgehen (vgl. statt vieler MK/Hefendehl, StGB, 4. Aufl., § 265a Rn. 169).
Die weite Auslegung des BGH mag sich laut Bundesverfassungsgericht zwar noch in den Grenzen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes bewegen, das Bundesverfassungsgericht betont jedoch auch, dass die ordnungsgemäße Erfüllung zivilrechtlicher Ansprüche grundsätzlich kein vom Strafrecht geschütztes Rechtsgut ist.
Die Strafbarkeit der Beförderungserschleichung in ihrer jetzigen Handhabung ist damit ein “Unikum” im StGB, eine Sondernorm zum Schutz des Vermögens öffentlicher Verkehrsbetriebe, wie der Sachverständige Professor Hefendehl in der Anhörung erläutert. Alle anderen Straftatbestände, die an Zahlungspflichten anknüpfen, verlangen stets ein weiteres qualifizierendes Unrechtselement, etwa die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht im Falle des § 266a Abs. 1 StGB oder die Gefährdung des Lebensbedarfs des Unterhaltsberechtigten bei der Verletzung einer Unterhaltspflichtverletzung nach § 170b StGB.
Dass durch das Fahren ohne Fahrschein angeblich Gemeinwohlbelange berührt seien, weil die Unternehmen durch den Verzicht auf Vorab-Kontrollen “in Vorleistung treten” und Vertrauensschutz gewähren, verfängt nicht. Auch sonst kennt das Strafrecht keine erhöhte Schutzwürdigkeit, wenn freiwillig tatsächlich mögliche Vorkehrungen nicht getroffen werden, etwa das Fahrrad nicht angeschlossen wird. Eine “Täter-Opfer-Umkehr”, wie vom Sachverständigen Professor Kubiciel angenommen, liegt darin nicht. Zwar hat Kubiciel recht, wenn er konstatiert, dass sich grundsätzlich nichts am Unrecht der Tat ändert, wenn der Berechtigte seine Rechtssphäre besser hätte schützen können. Hier wird das Argument der “Vorleistung” oder des “Vertrauensschutzes” ja aber überhaupt erst zur Begründung der Strafbarkeit herangezogen. Darüber hinaus kommt der Verweis auf den Vertrauensschutz seltsam naiv daher. Näher liegt es, dass der Verzicht auf flächendeckende Zugangskontrollen auf rein wirtschaftlichen Erwägungen beruht. Wer ein solches wirtschaftliches Risiko eingeht, um Kosten zu sparen, sollte sich zum Eintreiben der Schulden jedoch nicht kostenlos am Justizsystem bedienen dürfen.
Auch die Behauptung, dass ein System, das auf bauliche Zugangssperren mit digitalen Zugangskontrollen und dicht getakteten Fahrkartenkontrollen verzichtet, freiheitsfreundlicher sei als die Strafandrohung von Geld- und Freiheitsstrafen für Fahren ohne Fahrschein, irritiert (so auch Kubiciel). Zwar mögen sich manche Menschen ohne Drehkreuz freier fühlen, darin kann aber kaum ein solch bedeutsamer Gemeinwohlbelang gesehen werden, dass dieser mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt werden müsse.
Für die Rechtsprechung mag dieser Systembruch hinnehmbar sein – zumindest stellt er sich nicht als ein zwingendes Argument für die eine oder andere Auslegung dar. Für den Gesetzgeber besteht jedoch die Pflicht, für einen solchen Systembruch gute Gründe aufzubringen und sich stetig mit der Angemessenheit der Strafbarkeit gemessen an den heutigen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Eine Überprüfung der Notwendigkeit von Strafbarkeit muss umso gründlicher erfolgen, wenn es sich dabei – wie hier – um NS-Gesetzgebung handelt. Denn die zielte darauf ab, möglichst jedwedes pflichtwidrige Verhalten anzuprangern, wie die Sachverständigen Norouzi, Deutscher Anwaltverein e. V., und Hefendehl richtigerweise erinnern.
Besonders bedenklich ist, eine Sondernorm für bestimmte Vermögen beizubehalten, wenn das strafbewehrte Verhalten von der Mehrheit der Menschen nicht als überragend sozialschädlich empfunden wird und es sich vielmehr um ein Massendelikt handelt – bei dem eben nur einige wenige die Folgen des Strafrechts zu spüren bekommen.
Daher wird die Vereinbarkeit des § 265a Abs.1 Var. 3 StGB mit dem ultima-ratio-Prinzip seit langem bezweifelt – in der Anhörung u.a. auch vom RAV e.V. und dem Deutschen Richterbund e. V.. Nach dem ultima-ratio-Prinzip darf das Strafrecht nur als letztes Mittel des Rechtsgüterschutzes eingesetzt werden, und zwar nur dann, wenn ein “bestimmtes Verhalten in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.”
Das ist beim Fahren ohne Fahrschein kaum der Fall. Fast jeder und jedem ist es schon einmal passiert, ohne Fahrschein unterwegs gewesen zu sein – sei es weil man in der App nicht das Fahrradticket findet oder im Stress das Ticket zu Hause vergessen hat.
Die Schadenshöhe liegt in der weit überwiegenden Anzahl von Fällen bei unter 15 Euro (Polizeiliche Kriminalstatistik 2021, Tabelle 07 BKA). Darauf kommt es aber an bei der Bemessung des Unrechtsgehalts und nicht darauf, wofür die Verkehrsunternehmen das eingenommene Geld gerne ausgeben würden. Daher kann auch keine Sozialschädlichkeit konstruiert werden, in dem darauf verwiesen wird, dass Verkehrsunternehmen auch die Bestandserhaltung finanzieren müssen, wie etwa Kubiciel es in seiner Stellungnahme tut. Abgesehen davon ist die Bestandserhaltung durch eine Entkriminalisierung nicht gefährdet. Die Verkehrsunternehmen fordern gewöhnlich ein erhöhtes Beförderungsentgelt, was sich auch weiter auf dem Zivilrechtswege eintreiben ließe. Bezüglich der Menschen, die sich keinen Fahrschein leisten können und aus der Not heraus trotzdem fahren, ist kein Geld “verloren gegangen”. Hier kann nur der Staat helfen, etwa mit Sozialtickets, und sich so neben der Sicherung der gleichberechtigten Teilhabe an Mobilität auch den öffentlichen Aufgaben der Bestandserhaltung und Verbesserung des ÖPNV sinnvoll annehmen. Diese Zwecke verfehlt die jetzige Strafrechtspraxis.
Zweck verfehlt: Die Strafpraxis trifft vor allem arme Menschen und Menschen in Krisen und überlastet das Justizsystem
Betroffen von einer Verurteilung wegen Fahren ohne Fahrschein sind – wie der Journalist und Buchautor Ronen Steinke bereits vielfach berichtet hat – in ganz erheblichem Umfang arme und hilfsbedürftige Menschen und Obdachlose. Dies liegt vor allem daran, dass nicht aus jedem Fahren ohne Fahrschein eine Anzeige beziehungsweise die Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens resultiert. Vielmehr reagieren die Strafverfolgungsbehörden erst dann, wenn Betroffene das erhöhte Beförderungsentgelt, das nach einer Kontrolle ohne Ticket fällig wird, nicht an die Verkehrsbetriebe zahlen. Im Klartext heißt dies: Wer genügend Geld hat, kauft sich von strafrechtlichen Ermittlungen frei. Wer weder das Geld hatte, sich ein Ticket zu kaufen, noch das erhöhte Beförderungsentgelt in Höhe von 60 Euro zahlen konnte, wird verurteilt.
Die Verurteilung erfolgt dabei häufig im Strafbefehlsverfahren, ohne dass eine mündliche Verhandlung stattfindet, in der sich Richter*innen ein Bild von der betroffenen Person und insbesondere zu ihrer Schuldfähigkeit machen könnten. § 265a StGB sieht einen Strafrahmen von einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vor. Während die Verhängung einer Geldstrafe den Regelfall darstellt, gibt es immer wieder Urteile, die bei Wiederholungstäter*innen sogar kurze Freiheitsstrafen als unerlässlich und mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ansehen. Pro Jahr sind es insgesamt circa 7000 Menschen, die wegen Fahren ohne Fahrschein ins Gefängnis kommen. Die meisten von ihnen verbüßen eine Ersatzfreiheitsstrafe. Die Ersatzfreiheitsstrafe tritt nach § 43 StGB an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe, wobei ein Tagessatz einem Tag Haft entspricht.
Im Ergebnis müssen dementsprechend viele Menschen, die sich in prekären Lebenssituationen befinden, für Zeiträume von wenigen Monaten in Haft. Die kurze Haft, die aus guten Gründen die absolute Ausnahme darstellen soll, wird in Bezug auf das Fahren ohne Fahrschein damit zur Regel. Die kurzen Haftstrafen führen nicht zur Resozialisierung, sondern tragen im Gegenteil zur Entsozialisierung der Betroffenen bei. Zudem werden sich Menschen in finanziell prekärer Lage auch nach einer Verurteilung wegen § 265a StGB die Tickets nicht leisten können. Im Gegenteil bewirkt die mit einer Verurteilung einhergehende Verschlechterung ihrer finanziellen Situation, dass ihnen normkonformes Verhalten noch weniger möglich ist als zuvor.
Neben den gravierenden Auswirkungen für die einzelnen betroffenen Personen verursacht die Kriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein den Steuerzahler*innen jedes Jahr Kosten in dreistelliger Millionenhöhe. Im Jahr 2021 gab es laut Strafverfolgungsstatistik bundesweit über 43.000 Gerichtsverfahren zu § 265a StGB. Pro Fall liegt der Aufwand für die Staatsanwaltschaft im Schnitt bei 76 Minuten, hinzukommen die tatsächlichen Sitzungsstunden. Bei Gerichten fallen im Schnitt 157 Minuten für ein Urteil an, Rechtspfleger sind mit einem Fall zwischen 22 und 110 Minuten beschäftigt (Zahlen nach Bögelein/Wilde (in Vorbereitung): Was kostet den Staat die Verfolgung von § 265a StGB?). Diese Ressourcen fehlen an anderen Stellen, etwa bei der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität, darauf wies auch Prof. Mosbacher im Rahmen der Anhörung hin. Hinzukommen weitere Kosten für die Ersatzfreiheitsstrafe. Fahren ohne Fahrschein macht circa ein Viertel aller Ersatzfreiheitsstrafen aus. Ein Tag in Haft kostet laut Bundesregierung zwischen 126,02 und 218,94 Euro.
“Fauler Kompromiss” – Fahren ohne Fahrschein als Bußgeldtatbestand löst die Probleme nicht
Auch die “Herabstufung” zur Ordnungswidrigkeit löst das soziale Problem nicht. Rechtsdogmatisch handelt es sich auch dabei um einen Systembruch.
Der Unterschied zwischen einer Ordnungswidrigkeit und einer Straftat ist nach überzeugenderer Ansicht das zu schützende Rechtsgut. Bußgeldtatbeständen ist das besondere Interesse der Allgemeinheit an der Vermeidung des sanktionierten Fehlverhaltens gemein, etwa das Interesse der Allgemeinheit an der gegenseitigen Achtung und Rücksichtnahme im Straßenverkehr (KK-OWiG, Einleitung Rn. 115, beck-online). Kommen durch rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr auch Sachen oder Menschen zu Schaden, greift das Strafrecht. Das Ordnungswidrigkeitenrechtz regelt mithin das angemessene Verhalten im “Vorfeld” zum Schutze der Allgemeinheit. Bußgeldtatbestände greifen dann, wenn die Allgemeinheit von dem Fehlverhalten trotz Fehlens eines konkreten Opfers bereits besonders betroffen ist. Ein solches “Vorfeld” gibt es in Bezug auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein nicht. Es gibt kein Verhalten, dass das Risiko von Rechtsverletzungen derart erhöht, dass die Allgemeinheit bereits im Vorfeld betroffen ist. Es gibt schlicht kein Risiko für die Allgemeinheit.
Daher trägt auch ein Vergleich zum Falschparken nicht. Falschparken birgt im Vergleich zum Fahren ohne Fahrschein gravierende Gefahren und Nachteile für die Allgemeinheit. Es kann Menschenleben kosten. Fahren ohne Ticket schmälert hingegen nur den Gewinn einzelner Unternehmen.
Die Gefahr der Inhaftierung besteht bei einer Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit zudem weiterhin. In Betracht kommt Erzwingungshaft nach §§ 96 ff. des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG). Die Erzwingungshaft trifft auch mittellose Menschen. Zwar darf sie nach dem Gesetz nicht angeordnet werden, wenn der Betroffene seine Zahlungsunfähigkeit dargetan hat oder Umstände bekannt sind, aus denen sich die Zahlungsunfähigkeit ergibt, worauf Mosbacher in der Anhörung mehrfach hinwies. In aller Regel ist dem Gericht zur Zahlungsunfähigkeit jedoch nichts bekannt, der Beschluss zur Erzwingungshaft ergeht ohne mündliche Verhandlung. Eine schriftliche Anhörung vor Anordnung der Erzwingungshaft wird bei Menschen, die sich in prekären Lebenssituationen befinden, häufig nichts ergeben. Möglicherweise erreicht sie das Anhörungsschreiben nicht, anderen ist es aus psychischen Gründen nicht möglich, ihre Zahlungsunfähigkeit schriftlich darzulegen. Außerdem ist die Schwelle der Zahlungsunfähigkeit in Bezug auf Ordnungswidrigkeiten sehr hoch. Erzwingungshaft soll auch gegenüber einkommens- und vermögenslosen Betroffenen, die von Arbeitslosengeld leben, wegen kleinerer Bußgeldbeträge festgesetzt werden dürfen.
Die auch von den Sachverständigen vielfach vorgetragene Sorge, dass beim Ausbleiben einer staatlichen Sanktion keine Tickets mehr gekauft werden, bedarf der Begründung. Es liegen keinerlei Statistiken vor, die diese Annahme stützen würden. Naheliegend scheint dagegen, dass sich die meisten Menschen nicht aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen einen Fahrschein kaufen, sondern aufgrund ihres Willens, sich rechtskonform zu verhalten, sowie aus Sorge vor dem sonst drohenden erhöhten Beförderungsentgelt.
Mobilität ist Teilhabe
Menschen, die sich kein Ticket leisten können, können nicht schlicht zu Fuß gehen, wie der Abgeordnete der FDP Stephan Thomae sichtlich beschämt die Sachverständigen fragte. Es ist vor allem ein soziales Problem, in diesem Punkt waren sich alle Sachverständigen einig und auch darin, dass der Status Quo so nicht haltbar ist. Das Justizsystem und der öffentliche Haushalt werden belastet und Ressourcen verschwendet, die anders investiert, etwa in Sozialtickets, gerechte Zugangsbedingungen und bessere Infrastruktur ermöglichen könnten. Und vor allem, wie der Sachverständige Hefendehl hervorhebt, kann eine Strafnorm keinen Bestand haben, die mehr Sozialschädlichkeit bewirkt, als sie verhindern soll.
Die Ampel sollte die Chance nutzen und an dieser Stelle ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlösen. Dort heißt es: “Wir überprüfen das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche und legen einen Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz.”