Das letzte Wort ist ein entflogener Spatz
Die Lösung im Vertragsverletzungsverfahren zum PSPP-Urteil muss das Demokratieprinzip respektieren – und im Verfahrensrecht ansetzen
Etwas mehr als ein Jahr ist es her, seit das Bundesverfassungsgericht die Rechtfertigung des Europäischen Gerichtshofs für das Ankaufsprogramm der Europäische Zentralbank für Staatsanleihen als “nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich” verworfen hat (Ls. 2). Inzwischen erinnert die harte Formulierung an das Sprichwort vom entflogenen Spatzen, der sich nicht mehr einfangen lässt. Denn obwohl der Streit über das Anleihekaufprogramm mit viel gutem Willen beigelegt werden konnte, ist die Frage nach dem Vorrang des Unionsrecht aus der europapolitischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Dazu hat nicht nur der kräftige Beifall für das Urteil seitens der polnischen und der ungarischen Regierung beigetragen, sondern auch das Festhalten des Gerichts an seinem Prüfungsrecht für Kompetenzüberschreitungen der Unionsorgane in mehreren Folgeentscheidungen. Beides ist ebenso wenig verwunderlich wie das Abwarten der Kommission, die das Vertragsverletzungsverfahren erst eingeleitet hat, nachdem das Bundesverfassungsgericht im April den Weg für den Corona-Aufbaufonds freigemacht hatte.
Ob das EZB-Urteil richtig oder falsch war, ist dabei eine müßige Frage: Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts war es nach dem Grundgesetz zweifellos richtig, aus Sicht der Unionsorgane war es europarechtlich zweifellos falsch. Bei realistischer Betrachtung werden beide Seiten an ihrer Auffassung festhalten. Im Vertragsverletzungsverfahren (und in diesem Beitrag) geht es darum, ob und wie sich der Widerspruch rechtlich auflösen lässt. Hierfür sind grundsätzlich drei Wege denkbar, die der Generalanwalt beim EuGH Tanchev in seinen Schlussanträgen vom 17. Dezember 2020 in der Rechtssache C-824/18 (dort Tz. 84) noch einmal auf den Punkt gebracht hat:
Europarechtliche Optionen und verfassungsrechtliche Vorgaben
Die Bundesrepublik könnte zum einen eine Änderung der europäischen Verträge dahingehend herbeiführen, dass der Vorrang des Verfassungsrechts der Mitgliedsstaaten ausdrücklich anerkannt wird. Diese Lösung läuft auf die Legitimation eines Europas à la carte hinaus. Politisch mag es hierfür ungeachtet der Gefahren für den Zusammenhalt der Union vielerorts Zustimmung geben. In Anbetracht des Einstimmigkeitsprinzips für alle wesentlichen Vertragsänderungen ist dieser Weg aber völlig impraktikabel. Gleiches gilt auf absehbare Zeit für die Einrichtung eines neuen Kompetenzgerichtshofs, der sich anteilig aus Vertretern der Verfassungsgerichte der Mitgliedsstaaten und aus Richtern des Europäischen Gerichtshofs zusammensetzen würde.
Vor diesem Hintergrund verbleibt rechtsstaatlich nur die Alternative zwischen einer Änderung des nationalen Verfassungsrechts und dem Austritt aus der Union. Wenn man von politischen Randgruppen einmal absieht, ist ein Austritt Deutschlands aus der Union aus heutiger Sicht sicherlich undenkbar. Zudem bedürfte es hierfür wegen Art. 23 GG regelmäßig einer Änderung des Grundgesetzes. Daneben soll der Austritt aber auch ohne Verfassungsänderung möglich sein, wenn die Europäische Union den Anforderungen des Grundgesetzes dauerhaft nicht mehr genügt. Vor diesem Hintergrund muss der Austritt aus der Union für den Fall eines unlösbaren Konflikts als verfassungsrechtliche ultima ratio verstanden werden (so auch das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil, dort Tz. 233). Allerdings würde die richterliche Anordnung eines Austritts das Demokratieprinzip, das dem PSPP-Urteil zugrunde liegt, praktisch auf den Kopf stellen: Denn damit würde die wichtigste politische Entscheidung einer ganzen Generation von der vom Volk am weitesten entfernten Staatsgewalt getroffen werden.
Mit der unmittelbaren Berufung auf das Demokratieprinzip hat das Bundesverfassungsgericht die Hürde für eine Verfassungsänderung als dem dritten rechtsstaatlichen Ausweg denkbar hochgelegt. Denn hierdurch genießt das Prüfungsrecht des Gerichts für Kompetenzverstöße der Unionsorgane zugleich den Schutz der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes und ist dem Zugriff des Gesetzgebers praktisch entzogen. Den absoluten Vorrang des Europarechts im Grundgesetz festzuschreiben, wäre deswegen nicht nur ein verfassungspolitisch problematisches Signal an den Europäischen Gerichtshof, sondern im Falle einer anschließenden Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auch rechtlich unhaltbar.
Schrittweise Verfassungserneuerung als alternative ultima ratio
Den Ausweg aus diesem Dilemma hat der Berichterstatter für das EZB-Urteil im zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, Peter M. Huber, vor dreißig Jahren erstmals vorgezeichnet: Ausgangspunkt ist Art. 146 GG, demzufolge “das deutsche Volk in freier Entscheidung eine neue Verfassung beschließen“ kann. Die Vorschrift wird inzwischen weitgehend so verstanden, dass hierfür ein Referendum erforderlich und dass auch eine partielle Verfassungserneuerung möglich ist. In dieselbe Richtung deutet das Lissabon-Urteil (dort Tz. 179 und zur Möglichkeit der unmittelbaren demokratischen Legitimation Tz. 236). Mit anderen Worten können Integrationsschritte, die den Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes überschreiten, nur durch Volksentscheid legitimiert werden.
Dass die Bundesregierung eine Volksabstimmung über eine Grundgesetzänderung zum allgemeinen Vorrang des Europarechts abhalten würde, ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit europapolitischen Referenden in anderen Mitgliedsstaaten nicht ernsthaft vorstellbar. Der Ausweg über Art. 146 GG lässt sich aber sinnvoll dahingehend weiterdenken, dass ein anderweitig unauflösbarer Konflikt zwischen Unionsrecht und Grundgesetz auch einzelfallbezogen im Wege der Volksbefragung bewältigt werden kann. Weil die Verträge ein Europa à la carte eben nicht zulassen, kann es dabei richtigerweise nur um die Frage gehen, ob Deutschland von seinem Recht zum Austritt aus der Union Gebrauch machen soll. Kommt die erforderliche Mehrheit für einen Austritt nicht zustande, dann impliziert dies, dass der umstrittene Rechtsakt der Union für das Volk als Träger der verfassungsgebenden Gewalt im Ergebnis akzeptabel ist.
Die zentrale Frage für die Ausgestaltung einer solchen Volksbefragung ist natürlich, ab welcher Mehrheit die Entscheidung für einen Austritt verbindlich wäre. Der beste Anhalt hierfür findet sich in den Vorschriften des Grundgesetzes über die Neugliederung des Bundesgebietes und dort insbesondere in Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG. Demnach ist für die Neubildung eines Bundeslandes durch Sezession die Zustimmung von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen im Gebiet des neuen Landes erforderlich. Die Analogie liegt deswegen nahe, weil der Austritt aus der Union nach dem derzeitigen Stand der europäischen Integration verfassungspolitisch einer Sezession durchaus vergleichbar wäre. Zudem korrespondiert das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit am ehesten den Anforderungen an die parlamentarische Zustimmung für einen Austritt aus der Europäischen Union aufgrund einer Änderung des Grundgesetzes. In Anlehnung an Art. 29 Abs. 6 GG sollte darüber hinaus wenigstens die Hälfte der Wahlberechtigten zum Bundestag für den Austritt ausgesprochen haben, um die notwendige demokratische Legitimation zweifelsfrei sicherzustellen.
Verfassungspolitisch liegt dem doppelt qualifizierten Mehrheitserfordernis das Verständnis zugrunde, dass die mit einer Sezession verbundene fundamentale Statusänderung dem tagespolitischen Spiel wechselnder Mehrheiten entzogen sein muss. Zugleich legitimiert das Sezessionsrecht als ultima ratio die territoriale Herrschaftsordnung des demokratisch verfassten Gemeinwesens. Dies gilt in besonderem Maße für die Europäische Union, deren Handeln die Lebensverhältnisse der Unionsbürger inzwischen umfassend mitgestaltet, ohne sich auf eine den Mitgliedsstaaten vergleichbare Verfassungstradition berufen zu können.
Vor diesem Hintergrund spiegelt das einfache Mehrheitserfordernis im Brexit-Referendum rückblickend noch einmal das ambivalente Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union wider. Für Deutschland, dessen verfassungspolitische Identität sehr viel stärker durch die europäische Integration geprägt ist, kann die maßgebliche Schwelle dagegen nur bei einer Zweidrittelmehrheit liegen. Käme die doppelt qualifizierte Mehrheit für einen Austritt dennoch zustande, dann wäre dies Ausdruck einer fundamentalen Entfremdung von der Union, die über den konkreten Anlass sicherlich weit hinausginge. So beunruhigend diese Vorstellung auch sein mag, könnte das Ergebnis in einer Demokratie legitimerweise nicht ignoriert werden.
Verfahrensrechtliche Umsetzung
Praktisch ließe sich der Ausweg über Art. 146 GG mit geringem Aufwand umsetzen, indem die Anordnung einer Volksbefragung über den Austritt für den Fall eines (ungeachtet verbesserter Verfahrensvorschriften) unlösbaren Konfliktes zwischen dem Grundgesetz und dem Unionsrecht als einzige prozessual zulässige Rechtsfolge vorgesehen würde. Eine solche Vorgabe würde dem Demokratieprinzip ebenso gerecht wie dem völkerrechtlich legitimierten Autonomieanspruch des Unionsrechts. Wegen der verfahrensrechtlichen Natur der Rechtsfolgenregelung und der Rechtfertigung der Austrittsfrage als verfassungsrechtliche ultra ratio müsste hierfür streng genommen nicht einmal das Grundgesetz angepasst werden. Eine Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht würde ausreichen.
Die neue Regelung sollte außerdem die Möglichkeit der richterlichen Anordnung einer Volksbefragung über zukünftige Änderungen der europäischen Verträge eröffnen. Denn auch hier ist vor dem Hintergrund der Entscheidungen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon regelmäßig mit einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Demokratieprinzips zu rechnen. Allerdings hätte jede Vertragsänderung letztlich weniger dramatische Folgen als ein Austritt. Zudem hätte eine Vertragsänderung typischerweise bereits das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren einer Verfassungsänderung durchlaufen. Beide Aspekte sprechen dafür, im Falle einer anschließenden Volksbefragung die Zustimmung der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichen zu lassen. Mit anderen Worten müsste der Gesetzgeber wenigstens die Hälfte der Wahlberechtigten hinter sich wissen, wenn er den durch das Demokratieprinzip und die Ewigkeitsklausel vorgegebenen Rahmen für weitere Integrationsschritte erweitern wollte.
Ob das Bundesverfassungsgericht von der Möglichkeit der Anordnung einer Volksbefragung in Zukunft tatsächlich Gebrauch machen würde, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Für die Zustimmung zu weiteren Integrationsschritten ist dies jedenfalls wahrscheinlicher als für die Austrittsfrage. Dennoch käme der vorgeschlagenen gesetzlichen Regelung gerade für schleichende Kompetenzerweiterungen der Union signifikante Bedeutung zu: Denn bereits das Risiko der richterlichen Anordnung einer Volksbefragung über den Austritt dürfte das Bewusstsein der Unionsorgane für die Vereinbarkeit ihrer Handlungen mit dem Verfassungsrecht der Mitgliedsstaaten deutlich schärfen. Umgekehrt würde das Bundesverfassungsgericht sich im Zweifel vermutlich darauf beschränken, die Bundesregierung zur Ausübung ihrer Rechte nach den europäischen Verträgen anzuhalten und eine Volksbefragung nur in Fällen anordnen, in denen sich der Eingriff in die verfassungsmäßige Ordnung ohne weiteres erschließt.
Durch den Erlass eines entsprechenden Gesetzes sollte sich das laufende Vertragsverletzungsverfahren kurzfristig einvernehmlich beenden lassen. Denn auf diese Weise hätten Bundesregierung und Parlament den Autonomieanspruch des Unionsrechts bestätigt, ohne dabei die eigenständige Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in Frage zu stellen. Die verfassungspolitischen Herausforderungen, denen sich die Europäische Union gegenübersieht, wären damit zwar erst im Ansatz bewältigt. Der eingangserwähnte Spatz wäre aber eingefangen und der Rechtsfrieden im Verhältnis zwischen Deutschland und der Union wiederhergestellt.