19 July 2021

Die Stunde des Gesetzgebers

Auswege aus der Eskalationsspirale im PSPP-Verfassungsstreit

Seit Jahrzehnten streiten sich Bundesverfassungsgericht und andere nationale Höchst- und Verfassungsgerichte auf der einen und der EuGH auf der anderen Seite über die Grenzen des Europarechts. Die längste Zeit war dieses Spannungsverhältnis zwischen nationaler und supranationaler Verfassungsgerichtsbarkeit, wenngleich stets heikel und konflikthaft, so doch auch ungeheuer produktiv: Das Kraftfeld zwischen diesen beiden Polen half, die Souveränitätsfrage in Europa in der Schwebe zu halten. So schuf es die Voraussetzungen, dass sich wie in einem Kondensator die heutige europäische Rechtsordnung auskristallisieren konnte.

Im vergangenen Jahr aber hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem PSPP-Urteil eine Dynamik in Gang gesetzt, die dieses Kraftfeld zur Entladung zu bringen und damit die gesamte Europäische Union irreparabel zu beschädigen droht. Die Kommission hat ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, an dessen Ende der EuGH die Bundesrepublik dazu verpflichten könnte, dieses Urteil aus der Welt zu schaffen. Deutschland würde, da sich das BVerfG bekanntlich auf das Ewigkeits-Dogma stützt, damit in ein unlösbares Dilemma gestürzt. Es verwundert nicht, dass im deutschen Staatsrecht unterdessen der Verdacht um sich greift, hier solle der EuGH als Richter „in eigener Sache“ und „auf kaltem Wege“ (Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle) die Souveränitätsfrage zugunsten der EU entscheiden.

Wie bisher darauf zu vertrauen, dass sich die Partner bzw. Kontrahenten im Verfassungsgerichtsverbund aus eigener Kraft aus dieser Eskalationsspirale befreien können, erscheint riskant. Tatsächlich legen dieser und weitere Konflikte (z.B. hier, hier und hier) gravierende Mängel in der Architektur des Verfassungsgerichtsverbunds offen – und zwar auf allen Seiten. Sowohl das Verfahren der Identitäts- und Ultra-Vires-Kontrolle vor dem BVerfG als auch das der Gültigkeitskontrolle vor dem EuGH weisen jedenfalls dann erhebliche normative und praktische Defizite auf, wenn es, wie vom BVerfG beanstandet, um tektonische Verschiebungen im europäischen Verfassungsgefüge geht. Beide Verfahren sind so strukturiert, dass sie mit dem Rücken zum jeweils anderen stattfinden. Sie bergen die Gefahr, dass sich beide Seiten in ihren jeweils eigenen Normen- und Tatsachenwelten verlieren und ihnen die Pluralität der Perspektiven im europäischen Verfassungsgerichtsverbund völlig aus dem Blick gerät. Diese Verfahrensdefizite zu beheben, kann nicht den Streithähnen selbst überlassen werden. Das ist die originäre Aufgabe des Gesetzgebers.

Für die Bundesregierung in ihrem oben erwähnten Dilemma liegt darin eine unerwartete Chance. Gemeinsam mit anderen Regierungen und den zuständigen Unionsorganen kann sie das Vertragsverletzungsverfahren dazu nutzen, eine umfassende rechtspolitische Diskussion anzustoßen, wie der Verfassungsgerichtsverbund gestärkt und verlorenes Vertrauen wieder aufgebaut werden kann.

Welche Impulse könnte die Bundesregierung konkret setzen?

Ultra-Vires- und Identitätskontrolle gesetzlich regeln

Das BVerfG behält sich seit vielen Jahren vor, auch EU-Rechtsakte daraufhin zu überprüfen, ob sie die Kompetenzgrenzen der EU überschreiten (ultra vires) und/oder die Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzen. Das Verfahren, in dem es dies tut, beruht im Wesentlichen auf Richterrecht. Dass das nicht so sein muss, hat das BVerfG 2009 selbst ausdrücklich formuliert: „Denkbar“, so der Zweite Senat in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag, sei „auch die Schaffung eines zusätzlichen, speziell auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnittenen verfassungsgerichtlichen Verfahrens durch den Gesetzgeber“.

Die seinerzeitige Anregung des BVerfG könnte die Bundesregierung jetzt aufgreifen und Änderungen im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) in die Wege leiten. Zu denken wäre insbesondere an folgende Punkte:

  • Die Zulässigkeit einer auf Ultra-vires- und Identitätskontrolle gerichteten Verfassungsbeschwerde könnte daran geknüpft werden, dass sich die Beschwerdeführer_innen auf eine Verletzung ihrer Grundrechte des Grundgesetzes und der EU-Grundrechtecharta berufen. Ganz generell als Staatsbürger_in und Wähler_in von einem EU-Rechtsakt betroffen zu sein, reicht für eine zulässige Verfassungsbeschwerde nicht länger aus, damit sich die Ultra-Vires- und Identitätskontrolle nicht zu einer faktischen europapolitischen actio popularis entwickelt.
  • Die betroffenen Unions- und Verfassungsorgane einschließlich der Fraktionen des Bundestages, insbesondere die EU-Kommission, könnten zwingend am Verfahren beteiligt werden (wie in früherer Zeit bereits mehrfach erfolgreich praktiziert).
  • Vor einer Ultra-Vires- bzw. Identitätskontroll-Entscheidung muss der EuGH Gelegenheit bekommen, Position zu beziehen, wie das BVerfG bereits in der Honeywell-Entscheidung festgestellt hat. Gesetzlich ist das BVerfG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV dazu aber bislang nur in wenigen Konstellationen verpflichtet. Daher könnte der deutsche Gesetzgeber die Verpflichtung zur Vorlage in allen diesen Fällen im BVerfGG verankern und auf den Fall erstrecken, dass nach einem bereits durchlaufenen Vorlageverfahren die Antworten des EuGH noch weitere Fragen aufwerfen bzw. offen lassen oder das BVerfG Zweifel daran hat, dass der EuGH sämtliche relevanten Tatsachen gewürdigt hat.
  • Mit Blick auf die große Tragweite einer Feststellung einer Ultra-Vires- oder Identitätsverletzung sowie auf die vielfach unterschiedlichen Sichtweisen des Ersten und Zweiten Senats könnte eine solche Entscheidung dem Plenum vorbehalten werden.

Um dem irreführenden Vergleich mit der Unterwerfung des polnischen Verfassungsgerichts von vornherein jede Grundlage zu nehmen, sollte die entsprechende Änderung des BVerfGG im Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit unter Einschluss der Opposition beschlossen werden. Damit Manipulationen an den Verfahrensgrundlagen des Gerichts auch für die Zukunft ausgeschlossen sind, sollte die Änderung des BVerfGG generell an die qualifizierten Zustimmungserfordernisse aus Art. 79 Abs. 2 GG gebunden werden (Ergänzung von Art. 94 Abs. 2 GG).

Gültigkeitsvorlage vor dem EuGH reformieren

Das BVerfG, so betonen die Verteidiger_innen des PSPP-Urteils mit großem Nachdruck, will mehr Kontrolle durch den EuGH, nicht weniger. Darin liegt der maßgebliche Unterschied zu dem, was das so genannte „Verfassungsgericht“ in Polen mit Blick auf den Vorrang des Europarechts und unter ausdrücklicher Berufung auf das angebliche Vorbild Karlsruhe in diesen Tagen treibt. Insoweit – darauf wird man sich im aktuellen Konflikt verständigen können – hat das BVerfG durchaus einen Punkt. Das Verfahren der Gültigkeitsvorlage vor dem EuGH ist jedenfalls dann eklatant unzulänglich, wenn es um die Verfassungsgrundlagen der Union geht. Es stammt aus Zeiten, in denen der EuGH keine verfassungsgerichtlichen Funktionen besaß, sondern im Wesentlichen Fragen der Handelspolitik und des gemeinsamen Marktes zu prozessieren hatte. Diese Defizite sind zu einem erheblichen Teil für das korrosive Misstrauen verantwortlich, das im europäischen Verfassungsgerichtsverbund überhand zu nehmen droht.

Ansatzpunkte für eine Reform des europäischen Prozessrechts wären zum Beispiel:

  • die Intensivierung und Ausweitung des Prüfungsumfangs. Der EuGH sollte, anstatt sich wie bisher auf die vom Vorlagegericht explizit aufgeworfenen Fragen beschränken zu müssen, umfassend in dem Verfahren aufgeworfene Recht- und Tatsachenfragen prüfen können. Dabei ist auch an eine stärkere Ausdifferenzierung der Prüfungsmaßstäbe für das Ermessen der EU-Institutionen zu denken.
  • Sämtliche nationalen Höchst- bzw. Verfassungsgerichte sollten das Recht erhalten, Stellung zu nehmen, wenn eines von ihnen den Gerichtshof wegen Ultra-Vires- oder Identitätsbedenken anruft (insbesondere wenn es um Kompetenz-, Grundrechts-, Subsidiaritäts- und Demokratiefragen geht).
  • Der Gerichtshof sollte umfassend Beweis erheben und die betroffenen Unionsorgane verpflichten, ihre einschlägigen Akten zu übermitteln.
  • Die Ressourcen, die dem Gerichtshof für grundsätzliche Verfassungsfragen zur Verfügung stehen, sollten gestärkt werden. Zu denken ist auch an eine Abgabe der Vorabentscheidungskompetenz in ausgewählten Bereichen an das EuG (Art. 256 Abs. 3 AEUV).
  • Dissenting Opinions sollten in verfassungsrechtlichen Verfahren ermöglicht werden. Erfahrungsgemäß trägt dies dazu bei, dass die Urteile besser und nachvollziehbarer begründet werden.
  • Die schriftliche und mündliche Anhörung von Verbänden und Sachverständigen sollte ermöglicht werden.

Die Herrschaft des Rechts in der EU stärken

Eine Diskussion und ggf. Umsetzung dieser Vorschläge könnte nicht nur der Bundesregierung helfen, eine Anrufung des EuGH im anhängigen Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden. Sie würde überdies das Ziel, dem dieses Verfahren dient, viel effektiver und eleganter erreichen als es ein Urteil des EuGH je könnte – das Ziel nämlich, den europäischen Verfassungsgerichtsverbund in etwas (zurück) zu verwandeln, das die Herrschaft des Rechts in Europa stärkt und nicht schwächt.

Diese ist im Augenblick so akut und fundamental bedroht wie wohl noch nie in der Geschichte der europäischen Integration. Das polnische „Verfassungsgericht“, das wegen seiner in offenem Verfassungsbruch besetzten Richterstellen und seiner vollständigen Unterwerfung durch die Parteien der aktuellen Regierungskoalition diesen Namen nur noch zwischen Anführungszeichen verdient, hat in dieser Woche entschieden, dass Anordnungen des EuGH ultra vires sind und die polnische Regierung nicht binden, soweit sie die Unabhängigkeit der Justiz betreffen. Auf die Ultra-Vires- und Identitätskontrolle des deutschen BVerfG wird dabei ausdrücklich als Vorbild verwiesen. Das ist materiell zwar unberechtigt, zeigt aber um so deutlicher, dass das Karlsruher Gericht mit dem PSPP-Urteil eine Dynamik der Delegitimierung des EU-Rechts und der EU-Institutionen ausgelöst hat, die es nicht beherrschen kann.

In dieser Situation könnte es wie ein Befreiungsschlag wirken, wenn auf nationaler wie europäischer Ebene der Gesetzgeber das Heft des Handelns ergreift. Nicht nur die Kommission, sondern auch viele nationale Regierungen haben mit der abwartenden Lethargie, mit der sie den Zerfall der Rechtsstaatlichkeit in Polen wie in anderen EU-Mitgliedstaaten begleitet haben, erheblich dazu beigetragen, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Mit einer Reform des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes könnten beide Seiten einen Teil des Schadens reparieren und gleichzeitig deutlich machen, dass Herrschaft des Rechts nicht notwendig bedeutet, sich einem gouvernement des juges zu beugen.


SUGGESTED CITATION  Karpenstein, Ulrich; Steinbeis, Maximilian: Die Stunde des Gesetzgebers: Auswege aus der Eskalationsspirale im PSPP-Verfassungsstreit, VerfBlog, 2021/7/19, https://verfassungsblog.de/die-stunde-des-gesetzgebers/, DOI: 10.17176/20210720-020141-0.

7 Comments

  1. Donald Rworkin Mon 19 Jul 2021 at 21:08 - Reply

    Sehr gute Vorschläge. Was noch fehlt: Abschaffung der Wiederwahlmöglichkeit der EuGH-Richter, das macht sie nämlich abhängig und gefügig in der ersten Wahlperiode, weil sie mit Wiederwahl liebäugeln werden – auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichtes sind Richter, die auf Zeit mit Wiederwahlmöglichkeit gewählt werden, weniger unabhängig. Stattdessen, wie beim Bundesverfassungsgericht: eine einzige Wahl, auf zum Beispiel zehn Jahre, ohne Möglichkeit der Wiederwahl.

    • Ulrich Karpenstein Tue 20 Jul 2021 at 21:36 - Reply

      Ja, das ist sicher richtig und wichtig. Allerdings setzte das wohl eine Änderung des Primärrechts voraus.

  2. schorsch Tue 20 Jul 2021 at 00:33 - Reply

    Ich befürchte, die vorgeschlagene Reform des BVerfGG würde lediglich die Nachteile aller anderen Optionen auf sich vereinen:
    1. Auch ein gesetzlich kodifiziertes Ultra-vires-Verfahrens wäre unionsrechtswidrig. Mehr noch: Die Kodifizierung könnte selbst Anlass für ein (weiteres) VVV sein. Wenn die Kommission den eingeschlagenen Kurs konsequent weiterverfolgen will, ist sie beinahe gezwungen auch insoweit ein VVV einzuleiten.
    2. Gleichzeitig muss/kann/wird die gesetzgeberische Reform der Ultra-vires-Kontrolle als eine gesetzgeberische Sanktion für eine problematische Entscheidung und damit als Gängelung unabhängiger Richter verstand