20 January 2023

Der Boden unter den Füßen

Es ist eine ausgesprochen merkwürdige physische Erfahrung, im Schlamm festzustecken. Normalerweise bemerkt man den Boden ja kaum, auf dem man sich bewegt. Man stößt sich einfach ab von ihm, und wenn der Fuß wieder auf ihm landet, ist er da, fest und zuverlässig, und gibt Halt und Widerstand. Und wo das mal nicht so ist, im Sand, im Schnee, im Schlick, da bleibt er wenigstens passiv. Rutscht weg. Verflüssigt sich. Entzieht sich.

Anders der Schlamm. Der ist nicht passiv. Der packt zu. Hält ihn fest, den Fuß. Saugt ihn regelrecht an. Er schließt sich um deine Ferse, lehmig und zäh, und lässt sie nicht mehr los. Er zieht dir buchstäblich die Schuhe aus. Je mehr du ziehst und strampelst und deinen Fuß zu befreien versuchst, desto tiefer drückst du den anderen Fuß hinein in ihn. Da stehst du dann, bis zu den Knöcheln einzementiert, und kannst mit einem Mal nicht mehr weg. Da stehst du, breitbeinig und wackelig, und greifst ins Leere, bestenfalls in Weiche, Nachgiebige, wenn du mit den Händen um Halt fuchtelst. Und wenn einer kommt und dich schubst, dann fällst du einfach um.

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Ich war in Lützerath am vergangenen Samstag, wie letzte Woche angekündigt. Nicht in dem Dorf selbst, aber in Sichtweite, ein paar Schritte vor der Polizeikette. Die Polizei wies uns per Lautsprecher an, das Feld zu räumen, und als wir das nicht taten, richteten sie ihren Wasserwerfer auf uns, dessen Strahl der eisige Januarwind aber direkt wieder hinter die Polizeilinie zurücktrieb zum Jubel der Demonstrierenden. Die Polizei rückte vor, wir wichen zurück, und irgendwann sah man in dem aufgeweichten Feld überall breitbeinige, wankende Gestalten um ihr Gleichgewicht und Fortkommen kämpfen, manche schwarz behelmt, uniformiert und gepanzert, manche nicht.

Auf den Videos sieht das bisweilen lächerlich aus. Aber dort auf dem Feld war niemandem zum Lachen. Das war kein Protestkarneval, der seine Energie aus dem Spott über das zieht, wogegen er protestiert. Nichts davon. Das war auch kein Aufruhr. Hier standen die Demonstrierenden und wollten durch nach Lützerath oder doch jedenfalls das Feld nicht räumen, auf dem sie standen. Und dort stand die Polizei, um sie daran zu hindern bzw. dazu zu zwingen. Auf Krawall und Knüppelei, so mein Eindruck, war keine der beiden Seiten aus. Die heiße, flirrende Atmosphäre, die sonst in solchen Konfrontationen dem Gewaltausbruch vorausgeht, habe ich dort überhaupt nicht verspürt (sonst wäre ich gar nicht erst so nah rangegangen). Die vorherrschende Emotion war nicht Wut und Empörung, sondern – so hat es meine Tochter Theresa ausgedrückt, die auch dabei war – Traurigkeit. Das war kein heißes Gefühl. Das war anders. Lehmig eher, und zäh.

Dann ist da die Abbruchkante. Der Boden, auf dem du stehst, bricht ab. Da, wo das Feld weitergehen müsste, ist nichts mehr. Da geht es 40 Meter in die Tiefe. Da ist nur noch Leere, auf viele, viele Kilometer. Tagebau heißt das, was jenseits der Abbruchkante passiert. Das, was da zu Tage gefördert wird, ist der gleiche Stoff, der sich auch unter uns befindet, die wir da auf dem Feld durch den Schlamm stapfen. Unter unseren Füßen der Boden, unter dem Boden der Kohlenstoff, fossilisierte Biomasse, seit Millionen von Jahren tief verborgen und sicher abgetrennt von der Erdatmosphäre und seit 50 Jahren wieder ans Tageslicht heraufgebaggert mit diesen unfassbar riesigen Maschinen in diesem unfassbar riesigen Nichtvorhandensein von Boden namens Braunkohletagebaugebiet Garzweiler II. Der Boden, auf dem wir stehen. Noch ist er vorhanden. Aber ist er das? Er bricht ab. Auf ihn ist kein Verlass. Noch einen Fingerschnips, dann sind die Bagger da.

“Die neue Universalität”, schrieb in seinem ,terrestrischen Manifest’ 2017 der große, letztes Jahr verstorbene Bruno Latour, “ist das Empfinden, dass einem der Boden unter den Füßen wegsackt”. Der Verlust des Bodens unter den Füßen ist die eine Erfahrung, die alle gemeinsam teilen, Migranten und Patrioten, Kolonisierte und Kolonisatoren, Arbeiterin und Kapitalist, von der aus ihrer Wohnung gekündigten Familie in Berlin bis zu Elon Musk in seiner Weltraumrakete. Ihr Terrain ist bedroht, das, worauf sie stehen, worin sie zu Hause sind, was ihnen Halt gibt, wovon ihr Fuß sich abstößt und worauf er wieder landet. Die Schlussfolgerungen sind radikal unterschiedlich. Deshalb der Konflikt. Aber die Erfahrung, aus der sie gezogen werden, ist im Kern die gleiche.

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Am Sonntag sind wir nach Essen weitergefahren, an den Anfang des preußisch-deutschen Karbonzeitalters sozusagen, wo die zu längst zu Kulturdenkmälern gewordenen Fördertürme in den Himmel ragen. Wir haben die Villa Hügel besucht, das aus unfassbaren Mengen Karbonenergie geronnene, grotesk scheußliche Möchtegern-Downton-Abbey der Familie Krupp. Wir waren in der Zeche Zollverein, wo im Jahr 1965, als Präsident Johnsons Scientific Advisory Council zum ersten Mal vor dem “vast geophysical experiment” warnte, den fossilen Kohlenstoff von 500 Millionen Jahren innerhalb weniger Jahrzehnte in die Atmosphäre zu jagen, noch mehrere Millionen Steinkohle aus dem Boden geholt wurden. Dem Ruhrgebiet wurde der Boden unter den Füßen weggezogen, als sich die Nachfrage der westlichen Welt nach fossiler Energie weg von der Kohle und hin zum Öl verlagerte. Wie viel der Kohlebergbau mit dem Aufstieg der westlichen Demokratie und der Shift zum Öl mit deren Zerfall und Zerstörung zu tun hatte, kann man bei Timothy Mitchell nachlesen. Die meisten ölfördernden Staaten haben unterdessen noch viel desaströser als jedes westliche Kohlerevier den Boden unter den Füßen verloren. Was die Millionen von Geflüchteten aus dem Irak und aus Syrien betrifft, in schrecklich buchstäblichem Sinne.

Der Boden unter unseren Füßen ist nicht der stabile und indifferente Untergrund, auf dem wir die moderne Welt ins Grenzenlose bauen. Er ist nicht Natur. Er ist Akteur. Die Erde schlägt zurück. Lützerath sei das falsche Symbol, sagt unser grüner Bundesklimaschutzminister. Da wäre ich nicht so sicher.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA & PAULINE SPATZ:

PHILIPP ESCHENHAGEN & ENNIO FRIEDEMANN betrachten die rechtliche Lage im Fall Lützerath, kommen zu dem Ergebnis, dass die legislativen Spielräume für einen (vorübergehenden) Stopp des Kohleabbaus in Lützerath nicht völlig ausgeschöpft sind und kritisieren daher das Lützerath-Narrativ der Grünen.

ANTONIA BOEHL bespricht den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, die Verfassungsbeschwerde gegen die Nichteinführung eines Tempolimits nicht anzunehmen und schlägt die Einführung von überindividuellen Verfahrensmöglichkeiten im Bereich von Art. 20a GG im Bundesverfassungsgerichtsgesetz gem. Art. 93 Abs. 3 GG vor.

TJARDA TIEDEKEN bezieht Stellung zum Vorhaben, das sogenannte Containern zu entkriminalisieren. Der verfahrensrechtlich ansetzende Vorschlag, so der Tenor, sei eine Übergangslösung, dauerhaft wäre aber eine Änderung der materiellen Rechtslage wünschenswert.

PATRICK R. HOFFMANN äußert sich in Bezug auf die geplante Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Seiner Ansicht nach sprechen gute Gründe sowohl dafür, Mehrstaatigkeit hinzunehmen, als auch dafür, das Aufenthaltserfordernis auf fünf Jahre abzusenken.

Im Januar 2022 trat in das erste landeseigene Versammlungsgesetz Nordrhein-Westfalens in Kraft. KATHARINA LEUSCH schaut sich das Gesetz an und ist nicht überrascht, dass nun dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben wurde.

FABIAN MICHL & JOHANNA MITTROP ordnen den Entwurf der Ampelkoalition zur Wahlrechtsreform ein und schauen dabei insbesondere darauf, wie konsequent er den Abschied von der Personenwahl umsetzt.

Es ist eine ungeschriebene Regel der Demokratie, Wahlrechtsänderungen „tunlichst“ im Konsens zu treffen. Aber was, wenn das nicht möglich ist? UWE VOLKMANN macht sich Gedanken darüber, was eine Wahlrechtsänderung mit einfacher Mehrheit bedeuten würde.

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The Department of European Studies at the University of Amsterdam has a vacancy for an Assistant Professor in Climate Change Law and Governance, whose work lies at the intersection of climate change and EU economic law and governance, and who would be keen to work in an interdisciplinary and international Department. Teaching duties will include BA and MA courses on internal market law/EU trade law, and EU climate change law more specifically.

Deadline for applications is 17 February 2023.

Please click here for more information.

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ANNE SANDER & ELISABETH FALTINAT machen radikalisierte Richter*innen in Deutschland zum Thema ihrer Diskussion. Sie stellen zwei Fallstudien über den Einsatz von Disziplinarmaßnahmen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit vor und geben Hintergrundinformationen zum spezifisch deutschen Kontext.

LAURENT PECH beleuchtet den derzeitigen Zustand der polnischen Justiz und kommt zu dem Schluss, dass der jüngste diesbezügliche (verfassungswidrige) Gesetzesentwurf dazu dient, den Zusammenbruch der polnischen Rechtsstaatlichkeit weiter zu kaschieren.

AEYAL GROSS beleuchtet die derzeitige verfassungsrechtliche Situation in Israel, indem er vorgeschlagene Änderungen an der Verfassung skizziert, die Paradoxien des derzeitigen Gesetzes erläutert und auf den einzigartigen ethnisch-nationalen Kontext dieses “demokratischen Rückschritts” hinweist.

Auch ELI SALZBERGER analysiert die Gesetzesentwürfe in Israel mit Besorgnis und warnt davor, dass “ein Systemwechsel” bevorstehen könnte – mit einer immensen Zunahme von Menschenrechtsverletzungen, gegen die es keine wirksamen rechtlichen Möglichkeiten gäbe.

Die europäischen Telekommunikationsnetzbetreibenden fordern von Facebook, Google etc. einen “fairen Anteil” an ihren Infrastrukturkosten. KONSTANTINOS KOMAITIS sieht einen möglichen neuen regulatorischen Ansatz der Europäische Kommission, der seiner Meinung nach einen Zusammenbruch des Internets in Europa zur Folge haben könnte.

PHILIPP HACKER, ANDREAS ENGEL & THERESA LIST untersuchen die entstehende Regulierungslandschaft rund um große KI-Modelle und machen Vorschläge für einen rechtlichen Rahmen, der der KI-Community, den Nutzer*innen und der Gesellschaft im Allgemeinen dient.

Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen weist KAHFI ADLAN HAFIZ auf den prekären Zustand der Unabhängigkeit der indonesischen Justiz hin. Er warnt insbesondere davor, dass die Mitglieder des Verfassungsgerichts vor die Entscheidung gestellt werden könnten, eine freie und faire Wahl zu ermöglichen oder ihre Jobs zu verlieren.

In der sechsten Folge unseres RuleOfLaw-Podcasts mit dem Deutschen Anwaltverein spricht LENNART KOKOTT mit JAMES MACGUILL und FLORIAN GEYER über den Stand der Berufsfreiheit von Rechtsanwält*innen in der Europäischen Union.

So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis

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SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Der Boden unter den Füßen, VerfBlog, 2023/1/20, https://verfassungsblog.de/der-boden-unter-den-fusen/, DOI: 10.17176/20230121-100005-0.

2 Comments

  1. Martin Borowsky Sun 22 Jan 2023 at 13:38 - Reply

    Lützerath. BRD noir ff.
    Unsere rebellischen Töchter. Meine jüngste Tochter: „Eure Generation und die der Großeltern hat die Erde zerstört.“
    Traurigkeit. Bei aller sonntäglichen Hoffnung.
    Heute Wiedereinweihung eines Taufsteins in der Kirche von Nottleben bei Gotha. 800 Jahre europäische Histoire.
    Werden hier in 800 Jahren noch Kinder getauft werden? Wird das auf 639 Jahre angelegte John-Cage-Orgel-Projekt in Halberstadt sein Ende – 2640 – erleben?
    Oder wird der Dontlookupismus die Oberhand behalten, die Erde nach Extraktion der letzten Rohstoffe von Kratern übersät?
    Wächst das Rettende auch?
    Vielleicht hilft auch hier das credo qia absurdum …

  2. Nana Mon 30 Jan 2023 at 10:35 - Reply

    Die Kritik der jüngeren Generationen an uns Alten ist völlig gerechtfertigt. Wir haben auf ganzer Linie versagt, weil wir Sklaverei, Ausbeutung und Zerstörung geduldet haben, um uns eine ‚kleine heile Welt‘ vorgaukeln zu können.

    Bei allem Respekt für den Einsatz der Aktivistinnen und Aktivisten in Lützerath: Können wir uns ein paar Minuten nehmen, um an die Menschen zu denken, die mit ihrem ‚Einsatz‘ unsere „saubere“ Vierte Industrielle Revolution möglich machen müssen?

    Bitte wiederholt nicht unsere Fehler! Auch Ihr werdet keine bessere Welt auf dem Buckel der Unterdrückten schaffen können!

    ‚Cobalt Red: How the Blood of the Congo Powers Our Lives‘ von Siddharth Kara, ab morgen im Buchhandel erhältlich.

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