Der Brüsseler Testballon
Kommission betritt mit Klageschrift gegen Ungarns Anti-LGBTQ-Gesetz Neuland
Über das Amtsblatt der Europäischen Union vom 13. Februar 2023 eröffnete die Kommission der Öffentlichkeit den Blick auf eine gegen Ungarn am 19. Dezember 2022 beim EuGH eingereichte Klageschrift. Im Vertragsverletzungsverfahren begehrt sie die Feststellung eines Unionsrechtsverstoßes durch das vom ungarischen Parlament in 2021 verabschiedete Gesetz über ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern. Dessen Bestimmungen bewirken die Beschränkung des Zugangs von Kindern und Jugendlichen zu Medien, die Sexualität darstellen, die von heterosexuellen Erscheinungen abweicht, sowie Restriktionen bei der Darstellung von Geschlechtsumwandlungen und Transsexualität.
Die publizierte Klageschrift ist durch die Kommission zunächst klassisch abgefasst. Der Unionsrechtsverstoß wird im ersten Punkt auf die Verletzung sekundärrechtlicher Vorschriften, einer Grundfreiheit, sowie anwendbaren Grundrechten der EU-Grundrechtecharta gestützt. Einen neuen Weg schlägt die Kommission jedoch dadurch ein, dass sie den vorgebrachten Verstoß in einem zweiten Punkt auf Art. 2 EUV als solchen, das heißt auf die isolierte Bestimmung, stützt. Schließt sich der EuGH diesem Vorgehen an, könnte die Möglichkeit einer isolierten Rüge eines Verstoßes gegen die Grundwerte dem Vertragsverletzungsverfahren neue Durchsetzungskraft im Umgang mit Mitgliedstaaten verleihen, die vom gemeinsamen Wertefundament abgedriftet sind. Schließlich reichen die Grundwerte über den Anwendungsbereich des Unionsrechts hinaus. Sie scheinen daher grundsätzlich geeignet, durch Kommission und EuGH – aber auch andere Mitgliedstaaten (Art. 259 AEUV) – durchsetzbare normative Vorgaben auch für mitgliedstaatliche Kompetenzräume zu errichten, für die das Unionsrecht in seinem Anwendungsbereich solche weder enthält, noch im Kompetenzbereich ermöglicht. Welches diese normativen Vorgaben sind, bleibt mit Blick auf die inhaltliche Unbestimmtheit der Grundwerte zudem schwer vorhersehbar.
Aus der Rechtssache C-769/22 könnte damit mehr als eine Antwort über die Unionsrechtskonformität des ungarischen Anti-LGBTQ-Gesetzes folgen. Der EuGH steht vor grundlegenden Fragen der supranationalen (Durchsetzungs-)Reichweite des Unionsrechts und damit des föderalen Verhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten.
Klage der Kommission gegen das Anti-LGBTQ-Gesetz Ungarns
Konkret stützt die Kommission ihre Rechtseinschätzung im ersten Punkt auf eine Verletzung von Vorschriften aus der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt, der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste und auch der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV, sowie der Grundrechte aus Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Die Grundfreiheiten – genauer: die Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 Abs. 1 AEUV – hatte sie gegen Ungarn etwa bereits im Zusammenhang mit dem 2017 erlassenen NGO-Transparenzgesetz erfolgreich in Stellung gebracht, welches für aus dem Ausland unterstützte NGOs ab einem bestimmten Schwellenwerte Registrierungs-, Melde- und Offenlegungspflichten entstehen ließ. Der EuGH stellte Mitte 2020 die Unionsrechtswidrigkeit dieser Regelungen fest. Die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte (Art. 7, 8 und 12 GRCh) nach Art. 51 Abs. 1 GRCh begründete der EuGH über die Berufung Ungarns auf geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe im Rahmen der Grundfreiheitenprüfung.
Mit ihrer Klageschrift scheint die Kommission also bekanntes Terrain zu beschreiten, indem sie ihre Rechtseinschätzung auf die Verletzung sekundärrechtlichen Fachrechts, sowie auf die Verletzung von Grundfreiheiten und über Art. 51 Abs. 1 GRCh für die Mitgliedstaaten anwendbare Grundrechte stützt. In diesem ersten Punkt der Klageschrift wird daher angesichts des Vorwurfs auch noch nicht erkennbar, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Auseinandersetzung im Verhältnis der Kommission zu einem dem europäischen Integrationsprozess als solchem offen gegenüber stehenden Mitgliedstaat handelt, die nun gerichtlich durch den EuGH abschließend geklärt werden soll, sondern sich für Ungarn und dessen Entwicklungspfad ein größeres Bild ergibt, in dem die vorliegende Rechtssache nur ein bloßes Teilstück bildet.
So legte das Europäische Parlament 2018 dem Rat einen Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV vor, der auf Grundlage einer umfassenden Betrachtung der in Ungarn zu beobachtenden (verfassungs-)rechtlichen und politischen Entwicklungen, auf die Feststellung einer eindeutigen und schwerwiegenden Gefährdung der Werte auf die sich die Union gründet, gerichtet war. Das Europäische Parlament ergänzte seine Erwägungen jüngst durch eine neue Entschließung vom 15. September 2022 und sprach Ungarn durch die Einordnung als ein „hybride[s] System der Wahlautokratie“ den Zustand einer Demokratie ab.
Bisherige Aktivierung von Art. 2 EUV am Beispiel der Rechtsprechung zu Polens Justizreform
Dass die Grundwerte des Art. 2 EUV in der Rechtsprechung des EuGH in den letzten Jahren zunehmend Bedeutung erhielten, zeigt sich gerade im Umgang mit Polen und den hier insbesondere die richterliche Unabhängigkeit polnischer Richter unterminierenden Justizreformen. In seiner wegweisenden Entscheidung vom 27. Februar 2018 (Associação Sindical dos Juízes Portugueses) verknüpfte der EuGH den Wert der Rechtsstaatlichkeit aus Art. 2 EUV mit der auf das unionale Rechtsschutzsystem bezogenen Norm des Art. 19 EUV und beurteilte Maßnahmen zur Einsparung öffentlicher Gelder an diesem zusammengesetzten Maßstab. Der EuGH sah Art. 19 EUV, der die gerichtliche Kontrolle innerhalb der Unionsrechtsordnung auf die Schultern des EuGH, aber auch der mitgliedstaatlichen Gerichte verteilt, als eine Konkretisierung von Art. 2 EUV und hier des Wertes der Rechtsstaatlichkeit an. Er machte diesen auf diesem Wege für das Vertragsverletzungsverfahren handhabbar und zum tauglichen Ausgangspunkt für die Feststellung, dass die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes durch die mitgliedstaatlichen Gerichte, die in ihrer institutionellen Eingliederung in das europäische Rechtsschutzsystem funktional als Unionsgerichte fungieren, die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit voraussetzt. Die bei den Mitgliedstaaten verbliebene Kompetenz für die institutionelle Ausgestaltung der Justiz unterliegt folglich Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, die von ihnen zu erfüllen sind. Der vom EuGH gezogene Bogen zu Art. 2 EUV verdeutlicht die Verknüpfung zwischen einer rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechenden Justiz und der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Zugleich ermöglicht es dem EuGH, die Werte inhaltlich aufzuladen und fortzuentwickeln. Bereits diese Entscheidung ist von herausragender Relevanz und wegweisend.
Auf dieser dogmatischen Grundlage war es der Kommission und dem EuGH möglich, Teile der polnischen Justizreformen wie etwa die Herabsetzung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gericht (C-619/18) und den ordentlichen Gerichten (C-192/18),1) sowie die Errichtung einer Disziplinarkammer am Obersten Gericht (C-791/19) im Vertragsverletzungsverfahren anzugreifen und am Maßstab der sich innerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts ergebenden Verpflichtungen zur Gewährleistung institutioneller Mindestvoraussetzungen in der Justizstruktur zu messen. Es erscheint möglich, dass der EuGH diesen Ansatz auch im jüngst angekündigten Verfahren in Bezug auf den polnischen Verfassungsgerichtshof wieder aufgreift. Die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Xero-Floor, in der dieser ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK durch eine verfassungsgerichtliche Entscheidung unter Mitwirkung eines verfassungswidrig ernannten Richters feststellen konnte, könnte die Verletzung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV i.V.m. Art. 2 EUV hier untermauern.
Der Testballon
Der Testballon, den die Kommission mit ihrer Klage gegen das Anti-LGBTQ-Gesetz nun hat steigen lassen, liegt allerdings gerade in der isolierten Rüge eines Art. 2 EUV-Verstoßes.2) Bisher hat die Verknüpfung von Art. 2 EUV mit einer weiteren Norm aus den Verträgen einerseits für konkretere Maßstäbe gesorgt und andererseits gerade auch einen Bezug zum Anwendungsbereich des Unionsrechts hergestellt. Der Bezug zum Anwendungsbereich bewirkt die Anknüpfung an bestimmte Verpflichtungen, denen sich die Mitgliedstaaten durch den Vertragsschluss freiwillig unterworfen haben – wie etwa die Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes – und zwar auch dort, wo Rechtssetzungskompetenzen nicht übertragen oder nicht ausgeübt wurden. Art. 2 EUV wirkt hingegen wie zuvor festgestellt über den Anwendungsbereich hinaus3) und ist daher prima facie in der Lage, auf der gesamten Bandbreite mitgliedstaatlicher Rechtsgestaltung Maßstäbe zu setzen. Da dem Gedanken eines Anwendungsbereichs die beschränkte Reichweite normativer Vorgaben inhärent ist, kann von einem „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ möglicherweise nicht mehr gesprochen werden.
Für die Kommission wäre eine solche Erweiterung des Vertragsverletzungsverfahrens über diesen universellen Maßstab ein erheblicher Zugewinn im Umgang mit rechtsautoritär abdriftenden Staaten, damit dem Schutz des gemeinsamen Wertefundaments und folglich dem Bestand und der Funktionsfähigkeit der Europäischen Union selbst. Mit Blick auf mitgliedstaatliche Souveränitätsansprüche scheint dieses Vorgehen hingegen heikel, da es potentiell dem Narrativ einer übergriffigen Europäischen Union und damit Desintegrationsprozessen in nationalistisch regierten Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn Vorschub leisten könnte. Auch könnten Verfassungsgerichte der übrigen, wenn auch grundsätzlich integrationsfreundlichen und wertkonformen, Mitgliedstaaten auf den Plan gerufen werden. Parallelen zur extensiven Auslegung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechtecharta in der Rechtssache Åkerberg Fransson4) könnten entstehen. Es kann daher mit Spannung erwartet werden, ob der EuGH sich der Kommission anschließt und diesen Ansatz aufgreift oder seinen souveränitätsschonenderen Weg durch Verknüpfung der Werte mit weiteren und hinsichtlich ihrer Maßstäbe konkreteren Normen des Primärrechts weiterverfolgt. Im letzten Fall würde die weitere Ausgestaltung der Verträge die Durchsetzung der Werte durch die Kommission mittels Vertragsverletzungsverfahren begrenzen. Das Potential, die Werte mit weiteren Vertragsnormen in Verbindung zu bringen, erscheint jedoch noch keineswegs ausgereizt. Selbst wenn sich der EuGH der Kommission in ihrem Vorgehen nicht anschließt, verspricht C-769/22 also Neues (etwa: Konkretisierung der Menschen- einschließlich Minderheitenrechte durch EMRK und/oder GRCh? Wie verhält sich dies zu Art. 51 I GRCh?).
Fazit
Die isolierte Durchsetzung der Grundwerte des Art. 2 EUV mit dem Mittel des Vertragsverletzungsverfahrens hat jedenfalls das Potential, das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten neu zu strukturieren, aber auch – sehr wünschenswert – zur Sicherung des gemeinsamen Wertefundaments bedeutend beizutragen. Die Rechtssache C-769/22 zu Ungarns Anti-LGBTQ-Gesetz kann daher für die immer wieder beschworene Wertegemeinschaft der nächste Entwicklungsschritt sein, bei dem der EuGH, ähnlich wie in den für die Unionsrechtsordnung wesensprägenden Entscheidungen Van Gend & Loos und Costa/ENEL, diese auf eine nächste Stufe hebt. Ihr Sachverhalt erscheint jedenfalls wie dafür gemacht. Der Erfolg der Klage hängt davon jedenfalls nicht zwingend ab, kann er sich doch – insoweit klassisch – auch aus einem Verstoß gegen besagte Normen des sekundärrechtlichen Fachrechts, der Grundfreiheiten und anwendbaren Unionsgrundrechte ergeben. Das Risiko für die Kommission ist gering.
References
↑1 | Die Klage griff hier auch hinsichtlich eines Verstoßes gegen Art. 157 AEUV, sowie Art. 5 lit. a und Art. 9 Abs. 1 Lit. f der Richtlinie 2006/54/EG durch, siehe EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.11.2019, C-192/18, Kommission ./. Polen, Rn. 58 ff., 84. |
---|---|
↑2 | Kommission, Klage v. 19.12.2022, C-769/22, Kommission ./. Ungarn, (2): „indem Ungarn die unter (1) genannten Vorschriften erlassen hat, hat Ungarn gegen Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union verstoßen“. |
↑3 | Siehe etwa: Möllers/Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, S. 107, die insoweit vom „eigentlichen Regelungskreis des Unionsrechts“ sprechen; zur nicht auf den Anwendungsbereich des Unionsrechtsrechts beschränkten Reichweite des an Art. 2 EUV anknüpfenden Art. 7 EUV-Verfahrens, gerade auch in Gegenüberstellung zum Vertragsverletzungsverfahren im Bereich des Grundrechtsschutzes: Kommission, Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament zu Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union. Wahrung und Förderung der Grundwerte der Europäischen Union, KOM(2003) 606 endgültig, S. 5 f. |
↑4 | Zur Reaktion des BVerfG: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, Rn. 91. |