Der Rechtsstaat und die deutsche Staatsgrenze
In einer globalisierten Welt geraten nicht nur Menschen in Bewegung. Auch alte Gewissheiten müssen neu durchdacht werden – in der Politik ebenso wie im Recht, das durch Europäisierung und Internationalisierung in einen Zustand zunehmender Unübersichtlichkeit überführt wurde, der den heutigen Studierenden leidlich bekannt ist. Eine Folge dieser beträchtlichen Komplexität ist manch Missverständnis und auch Fehleinschätzung, die über die üblichen Meinungsverschiedenheiten im innerjuristischen Diskurs hinausgehen. Dies gilt gerade auch für das Asylrecht, dessen rechtliche Bearbeitung heute gänzlich anderen Rahmenbedingungen folgt als in den frühen 1990er Jahren.
Dieser geänderte Rechtsrahmen erfasst auch einen Ort, den wir seit unseren Schulzeiten als gleichsam natürliche Ordnungsstruktur kennen: die Staatsgrenzen, die als feine schwarze Linie die farblich klar abgestuften Länder schon in den Schulbüchern trennten und dies auf den Landkarten der Fernsehnachrichten bis heute tun. Diese kulturelle Vorprägung ist ein Grund, warum die Grenzsicherung im politischen Diskurs eine so prominent Rolle spielt. Sie dient gleichsam als Symbol für die Ausrichtung der Flüchtlingspolitik. Insofern geht es bei der politischen Forderung nach mehr Grenzsicherung immer auch eine diskursive Stärkung der Nationalstaatsidee – und umgekehrt.
Diese symbolische Bedeutung der Staatsgrenze verträgt sich nur schwer mit dem Umstand, dass diese heute von einer ganzen Reihe an Detailvorschriften erfasst wird. Grenzkontrollen sind längst keine Arkansphäre einer souveränen Exekutivgewalt mehr. Der Schengener Grenzkodex und die Dublin-III-Verordnung sind so komplex, dass man auch bei der wiederholten Lektüre immer etwas Neues findet. Dies ist mühsam, auf der Suche nach juristischen Antworten aber unumgänglich. Dies gilt auch für die Frage, ob Asylbewerber an der Grenze abgewiesen werden können. Hier ergibt die Erkundung des Rechtsmaterials manche Überraschung, die in der bisherigen Debatte zu kurz kommt.
Die europarechtliche Hegung der Staatsgrenze
In einem Interview mit der “Welt” betonte jüngst auch der Bundesinnenminister die Komplexität der Rechtslage mit Blick auf eventuelle Grenzschließungen. Über deren Zulässigkeit könne man „rechtlich lange diskutieren“, weil das deutsche Recht „in vielerlei Hinsicht vom europäischen überlagert“ werde. „Politisch“, so der Innenminister, hätte man sich „bisher jedenfalls dagegen entschieden.“ Einmal abgesehen davon, wie man die implizite Relativierung der Rechtsbindung durch politische Entscheidungen wertet, bringt der Innenminister das zentrale Problem auf den Punkt: die diffizile Rechtslage.
Am einfachsten ist noch der Hinweis, dass das deutsche Asylgrundrecht und damit auch die deutsche Drittstaatenregelung für den Umgang mit Flüchtlingen im Regelfall nur noch eine Nebenrolle spielt. Der Grund ist einfach: Die allermeisten Asylbewerber erhalten derzeit einen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention, die ebenso wie der sogenannte subsidiäre Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge als Europarecht gilt. Wer Grenzen schließen oder Flüchtlinge abweisen will, muss sich diesen Vorgaben stellen.
Hieraus folgt für die Einreise von Asylbewerbern, dass eine europarechtskonforme Zurückweisung oder Überstellung an andere Mitgliedstaaten den Regelungen der bekannten Dublin-III-Verordnung folgen muss, wie dies Hans-Jürgen Papier im Grundsatz vollkommen richtig schreibt. Auch trifft es zu, dass nach dieser Verordnung vielfach andere Mitgliedstaaten für Asylanträge zuständig sind. Allerdings ist dies nach den Dublin-Regeln zumeist nicht unser Nachbar Österreich, sondern die Länder an den Außengrenzen, also Griechenland, Kroatien oder Ungarn – und diese kooperieren derzeit nicht. Deutschland könnte also überstellen, in der Praxis passiert dies jedoch kaum.
Ein zentraler Unterschied zwischen der deutschen Drittstaatenregelung und dem Dublin-System besteht darin, dass letztere eine koordinierte Zurückweisung anstrebt. Ein Staat soll sich nicht einfach negativ für unzuständig erklären, weil dies die Gefahr birgt, dass andere dasselbe tun – mit der Folge, dass Flüchtlinge im Niemandsland zwischen den Staaten stranden. Eben dies wollte das Dublin-Übereinkommen nach den Erwägungsgründen verhindern. Deutschland kann andere Mitgliedstaaten positiv für zuständig erklären und überstellen. Wenn dies jedoch nicht geschieht, hat es, wie Roman Lehner ausführlicher darlegte, den Asylantrag grundsätzlich selbst zu prüfen. Das Konzept der Dublin-Verordnung in einfach: Deutschland muss überstellen oder selbst prüfen.
Aus diesem Grund macht man es sich zu einfach, wenn man § 18 des Asylgesetzes, wie Udo di Fabio im Gutachten für die bayerische Staatsregierung, kurzerhand unterstellt, dass dieser eine Zurückweisung von Ausländern generell rechtfertige. Nach dem in der Norm ausdrücklich genannten § 26a des Asylgesetzes soll diese Option ja gerade nicht bestehen, wenn Deutschland nach EU-Recht für einen Asylantrag zuständig ist. Eben dies ist jedoch grundsätzlich der Fall, wenn eine Dublin-Überstellung scheitert. Insofern erfordert die bisherige Asylpraxis keinen „Geheimerlass“, aufgrund dessen manche § 18 AsylG ausgehebelt wissen wollen – und selbst wenn man die Vorschrift anders auslegte, wäre, mit Jürgen Bast, der Vorrang des Unionsrechts zu beachten. Eben dies meinte wohl auch der Innenminister, wenn er darlegt, dass vieles durch Europarecht überlagert sei.
Mögliche Rechtfertigung von Ausnahmen
Nun bedeutet die zunehmende Unübersichtlichkeit einer europäisierten Rechtsordnung auch, dass nicht jeder Verweis auf das Europarecht zwangsläufig dazu führt, dass einzelstaatliche Maßnahmen europarechtswidrig wären. Dies übersehen auch Christoph Möllers und Jürgen Bast in ihrer Replik zum Gutachten von Di Fabio. Es gibt eine Reihe von Anknüpfungspunkten, mit denen man eine Zurückweisung zu rechtfertigen versuchen könnte, ohne dass man hierzu den supranationalen Anwendungsvorrang des Unionsrechts punktuell oder insgesamt aus den Angeln heben müsste. All dies gilt für die Grenze zu Österreich ebenso wie für Zurückweisungen, die eine „Koalition der Willigen“ schon bald an der slowenisch-kroatischen Grenze beginnen könnte.
Unproblematisch ist noch die Situation, wenn jemand an der Grenze keinen Asylantrag stellt, sondern erklärt, dies in Schweden tun zu wollen. Mangels Asylantrag gilt hier die Dublin-Verordnung nicht, sodass die Bundespolizei nach dem Grenzkodex zurückweisen kann – wie dies aktuell auch vermehrt passiert. Mit etwas juristischer Spitzfindigkeit könnte man zudem zu argumentierten versuchen, dass an den Binnengrenzen überhaupt keine Asylanträge gestellt werden können. Eine „Grenze“ im Sinn des Artikels 3 der Asyl-Verfahrens-Richtlinie wären hiernach nur die EU-Außengrenzen, weil nach der ersten Einreise ein Asylantrag immer auch im Aufenthaltsstaat möglich ist.
Vor allem jedoch heißt es in Artikel 72 des EU-Arbeitsweisevertrags, dass die gesamte Justiz- und Innenpolitik „nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ berührt. Gewiss kann man über die richtige Auslegung dieser Norm trefflich streiten, und ich selbst vertrete die Auffassung, dass diese für andere Situationen gemacht ist. Eindeutig ist dies jedoch nicht. Es gibt durchaus Argumente, dass Artikel 72 AEUV jedenfalls punktuelle Abweichungen vom EU-Sekundärrecht erlaubt, freilich nur für bestimmte Situationen und nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitskontrolle.
Darüber hinaus erlaubt Artikel 3 Absatz 3 der Dublin-III-Verordnung ausdrücklich, einen Antragsteller „in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.“ Zwar dürfte es hierbei um eine direkte Rückführung in Länder gehen, die nicht der EU angehören (also etwa von Ungarn nach Serbien). Zudem wären Verfahrensgarantien einzuhalten, die eine sofortige Rückweisung komplizieren. Die Bestimmung passt also nicht direkt, man könnte jedoch erwägen, ob Deutschland sich wegen der derzeit rechtmäßigen Binnengrenzkontrollen sowie des systemischen Versagens des Dublin-Systems in anderen Ländern in einer Außengrenzsituation befindet. Zudem hat Deutschland immer die Möglichkeit, das Asylverfahren nach der Dublin-Verordnung an sich zu ziehen und die Antragsteller sodann nach einer gegebenenfalls kurzen Prüfung zurückzuschicken.
Noch einen Schritt weiter gehen Überlegungen, die eine Lösung jenseits des supranationalen EU-Rechtsrahmens verorten. So argumentiert Kay Hailbronner unter Verweis auf die völkerrechtliche Reziprozität, dass das Dublin-Regime jedenfalls vorübergehend unbeachtlich sei. Dies gefällt nicht jedem (auch mir nicht, ebenso wie Bast und Möllers), ist bei einer rein völkerrechtlichen Betrachtung freilich in sich konsistent. Gleiches gilt selbstredend für diejenigen, die eine Unbeachtlichkeit von Dublin nicht völkerrechtlich, sondern verfassungsrechtlich mit Blick auf die Staatssouveränität zu begründen suchen. In beiden Fällen wird Dublin von außen für unanwendbar erklärt.
Es ist offenbar, dass alle aufgeführten Varianten mit erheblichen rechtsdogmatischen Unsicherheiten verbunden sind und teils spitzfindig argumentieren. Eben diesem Unterfangen sollten sich jedoch gerade diejenigen stellen, die sich dagegen wehren, dass man § 18 des deutschen Asylgesetzes ohne weitere Umschweife entnimmt, dass dieser eine Zurückweisung rechtfertige. In einem Punkt hatte der Innenminister zweifellos recht: Über die europarechtliche Überlagerung lässt sich trefflich streiten.
Migrationspolitik und rechtliche Bindung
Die aufgeführten Argumente für eine rechtmäßige Grenzschließung sind dogmatisch alles andere als wasserdicht, würden der Bundesregierung aber genügend juristische Munition geben, um zumindest den Vorwurf des offensichtlichen Rechtsbruchs abzuwehren. Für politische Zwecke reichte dies wohl aus, weil eine Grenzschließung kurzfristig wohl vor allem erfolgte, um politischen Druck auf die EU-Partner auszuüben und gegenüber der eigenen Bevölkerung als handlungsfähig zu erscheinen.
Angesichts der teils offenen Missachtung des europäischen Asylrechts in vielen Ländern, ist es nachvollziehbar, dass rechtliche Argumente es derzeit schwer haben. Dies gilt umso mehr, als auch die Nichtregierungsorganisationen das Dublin-System über Jahre hinweg diskursiv zu entlegitimieren versuchten, teils unter Berufung auf die Menschenrechte, teils als offene Forderung nach einer politisch motivierten Aussetzung. Dies erklärt, warum derzeit nicht jeder überzeugt ist, wenn man auf Wortlaut und Geist der Dublin-Verordnung verweist. Wer die Rechtsbindung an der Grenze durchsetzen will, muss immer auch darauf hinwirken, dass das Asylsystem insgesamt funktionsfähig bleibt.
Dass wir über Sinn und Zweck der Rechtsbindung an der Staatsgrenze diskutieren, ist für sich genommen ein Krisensymptom. Es geht dabei nicht nur um die Flüchtlingspolitik, sondern um die Zukunft einer entterritorialisierten Rechtsordnung insgesamt. Hierbei ginge es nicht nur um die technischen Finessen des Dublin-System. Vor allem wenn Flüchtlinge im Hinterland aufgegriffen und zurückgeschoben würden, würden schnell auch die Grundrechte eingefordert, die das Bundesverfassungsgericht und der EGMR zuletzt mehrfach gegen Dublin-Überstellungen aktivierten. Spätestens dann wäre die Grundsatzfrage gestellt, ob die Grenzen mitten in Europa wieder ein rechtsfreier Raum sind, an dem eine ungebändigte Staatssouveränität wie im Ausnahmezustand agiert.
Insoweit ist es eine gute Neuigkeit, dass das aktuelle Dublin-System schon bald der Vergangenheit angehören könnte. Auf den faktischen Zusammenbruch wird die Kommission in Kürze mit einem grundlegenden Reformvorschlag reagieren, der einen jeden Flüchtling möglichst schnell einem bestimmten Mitgliedstaat positiv zuweisen möchte. Dies könnte, abhängig von der Ausgestaltung im Detail, auch die unbefriedigende Situation beenden, dass die faktische Reisefreiheit im Schengen-Raum die Asylzuständigkeitsregeln aushebelt. Dieses Ziel sollte jedoch verfolgen, wer erreichen will, dass die deutsche Staatsgrenze auch künftig nur auf der Landkarte eine feste schwarze Linie ist.
Update 9. Februar 2016
P.S.: Mit Blick auf einen aktuellen Beitrag unter FAZ.net, der auf diesen Blogpost verweist, der kurze Hinweis auf diejenige Bestimmung, die eine „prozedurale“ Ersatzzuständigkeit der Bundesrepublik begründet, wenn die Überstellung in den nach den „materiellen“ Zuständigkeitskriterien an sich verantwortlichen Mitgliedstaat scheitert. Diese prozedurale Ersatzzuständigkeit folgt nicht aus der materiellen Auffangklausel nach Artikel 3 Absatz 1 oder 2 Dublin III-Verordnung (wie im genannten Artikel unterstellt), sondern ergibt sich aus Artikel 29 Absatz 2 Dublin III-Verordnung. Mittelbar in diesem Sinn übrigens auch ein Urteil des EuGH zur Verantwortung des Aufenthaltsstaats für die Unterbringung und Verpflegung vor einer Überstellung an den an sich zuständigen Staat.
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