Die andere Rechtsstaatlichkeitskrise
Menschenrechtsverletzungen an der polnisch-belarussischen Grenze
An der polnisch-belarussischen Grenze spielt sich ein Drama der Rechtsmissachtung ab, inzwischen mit mehreren Toten. Es ist dies die andere, leisere Rechtsstaatlichkeitskrise: die des entgegen klarer Vorgaben des Unionsrechts verweigerten Zugangs zu einem Asylverfahren; die der wiederholten Missachtung von einstweiligen Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Es ist eine unübersichtliche Situation, in der weißrussische Beamte Asylsuchende teilweise gezielt an die Grenzen bringen und vor allem nicht wieder nach Weißrussland zurückkehren lassen. So sind Menschen vielfach im Grenzgebiet gestrandet, mit Berichten von Misshandlungen und von fehlender Minimalversorgung, während Staaten auf beiden Seiten sie zurückweisen.
Einstweilige Maßnahmen des EGMR
Schon am 25. August 2021 erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstweilige Maßnahmen in zwei Fällen gegenüber Polen und Lettland. Die einstweilige Anordnung im Fall Ahmed u.a. gg. Lettland betraf 41 irakische Staatsangehörige an der lettischen Grenze zu Weißrussland; die Anordnung im Fall R.A. u.a. gg. Polen betraf 32 afghanische Staatsangehörige an der polnischen Grenze zu Weißrussland. In beiden Fällen wies der Gerichtshof den Staat an, die Antragssteller mit Essen, Wasser und Kleidung zu versorgen, sowie eine angemessene medizinische Versorgung sicherzustellen und, sofern möglich, zeitweise Unterkunft. Die einstweiligen Maßnahmen vom 25. August waren zurückhaltend; es war unklar, ob die Antragssteller sich bereits in den Vertragsstaaten befanden – ihre Situation („an der Grenze gestrandet“) war nicht genau bestimmt.
Die Maßnahme im Fall Ahmed u.a. gg. Lettland wurde am 15. September aufgehoben: 11 Personen war inzwischen die Einreise gewährt worden, die anderen befanden sich nicht mehr an der Grenze. Im Fall R.A. u.a. gg. Polen verlängerte und ergänzte das Gericht die einstweilige Maßnahme und forderte von Polen, die betroffenen Personen nicht nach Weißrussland auszuweisen und ihnen Kontakt mit ihren Anwälten zu gewähren. Polen scheint diese Anordnung nicht beachtet zu haben: nach Berichten wurden mehrere Personen dennoch zurückgeschoben.
Systematische Rechtsmissachtung
Diese Praxis Polens steht in einer Reihe mit dokumentierten Fällen, in denen Polen Schutzsuchenden systematisch Zugang zu Asyl verweigerte und einstweilige Anordnungen des EGMR missachtete. Der in diesem Jahr entschiedene Fall D.A. u.a. gegen Polen betraf drei Syrer, die mehrfach am Grenzübergang Terespol gegenüber polnischen Beamten um internationalen Schutz baten. Sie hatten sich einige Jahre in Weißrussland aufgehalten, dort aber nach eigenen Angaben keinerlei Möglichkeit, Schutz zu erhalten. Am Grenzübergang wurden sie jeweils abgewiesen. Der EGMR hatte dazu 2017 eine einstweilige Anordnung erlassen: die Antragssteller dürften vorerst nicht nach Weißrussland zurückgewiesen werden. Die polnischen Stellen missachteten die Anordnung. In einem Urteil vom 8. Juli 2021 stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 3 EMRK, sowie von Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls, dem Verbot von Kollektivausweisungen, fest. Dabei verurteilte er die „systematische Praxis“, Aussagen von Asylsuchenden in den offiziellen Dokumenten der Grenzbeamten verfälscht wiederzugeben. Die beantragte Verweisung des Falls an die Große Kammer ist noch anhängig.
Die systematische Praxis, Zugang zu Asylverfahren zu verweigern, hatte den Gerichtshof bereits im Urteil M.K. u.a. gegen Polen im Juli 2020 beschäftigt. Das Urteil betraf mehrere zusammengefasste Verfahren; in allen hatten russische Staatsangehörige aus Tschetschenien mehrfach am Grenzübergang Terespol polnische Beamte um internationalen Schutz ersucht. In allen Fällen wurden sie abgewiesen, in allen Fällen setzten die polnischen Stellen sich über vorläufige Anordnungen des EGMR, die Personen nicht nach Weißrussland zurückzuweisen, hinweg.
Menschen als Waffen?
Die Praxis, Menschen an der Grenze den Zugang zu einem Asylverfahren zu verweigern, ist also nicht lediglich eine der letzten Monate. In den letzten Monaten ist aber die Zahl der über Weißrussland in die EU kommenden Asylsuchenden stark gewachsen. Es ist vielfach die Rede von der weaponization, der „Verwaffentlichung“ von Flüchtlingen. Der weißrussische de facto-Präsident Lukashenko hat nach den EU-Sanktionen gezielt Fluglinien zur Einreise geöffnet und Asylsuchende zur Weiterreise in die EU ermutigt. Teilweise wurden Personen direkt an die litauische, lettische oder polnische Grenze gebracht. Im Juli verabschiedete das litauische Parlament eine Resolution, in der von einer hybriden Aggression die Rede ist und der Einsatz von Streitkräften an der Grenze sowie der Bau einer physischen Barriere als Optionen genannt werden.
Der Ausdruck einer „hybriden Aggression“ zielt ebenso auf das weaponizing, dem „zu Waffen machen“ von Asylsuchenden. Nun ist es nichts Neues, dass die Kontrolle über Migrationsbewegungen zwischen Staaten als Druckmittel eingesetzt wird. Im März 2020 erklärte der türkische Präsident Erdoğan, „die Schleusen“ für die so genannten Migrationsströme öffnen zu wollen. Vorangegangen war dem das EU-Türkei-Abkommen 2016, mit welchem die EU versuchte, die Migration von Schutzsuchenden nach Europa weitgehend zu unterbinden. Und auch vor Erdoğan und Lukashenko gab es Versuche, Migration politisch zu instrumentalisieren.
Deutlich wird dabei eine Leerstelle des internationalen Flüchtlingsrechts: dass dieses natürlich auch zwischenstaatliche Fragen aufwirft. Das Flüchtlingsrecht schaut überwiegend auf ein bilaterales Verhältnis zwischen Migrierendem bzw. Schutzsuchendem und Staat. Dass die Fragen von Flüchtlingsschutz damit nicht ausreichend abgebildet sind, zeigt sich in der wachsenden Debatte um Verantwortungsteilung.
Dennoch ist der Ausdruck der weaponization eine gefährliche Irreführung. Menschen sind keine Waffen und die versuchte Instrumentalisierung gelingt nur, wenn die andere Seite tatsächlich die Ankunft von Schutzsuchenden als Aggression zu betrachten gewillt ist. Das „Verwaffentlichen“ von Personen erfordert also beide Seiten. Es ist ein durch Handlung und Diskurs im Konzert erzeugtes Phänomen. Die tatsächlichen Handlungen, Menschen einreisen zu lassen oder zur Grenze zu bringen, werden bedeutsam erst in Kombination mit einem begleitenden Diskurs, welcher diese Menschen zu einer bewusst gesteuerten Gefahr oder Last erklärt.
An den menschen- und flüchtlingsrechtlichen Vorgaben ändert eine solche Instrumentalisierung gar nichts. Nicht an der in der Asylverfahrensrichtlinie niedergelegten Pflicht, Schutzsuchenden Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren. Nicht an den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention bezüglich Versorgung und Nicht-Zurückweisung. Daneben sollte man sich in Erinnerung rufen, dass carrier sanctions kein Naturzustand sind. Die Öffnung von Fluglinien für Asylsuchende mit Touristenvisum mag konkret in schlechter Absicht geschehen; die systematische, durch ökonomische Sanktionen bewehrte Schließung von Fluglinien gerade für diejenigen, welche aus einem Land zu fliehen versuchen, kann aber auch nicht als die große Errungenschaft im Geiste effektiven Flüchtlingsschutzes gelten.
Über Naivität
Letztlich kann die Rede von „Verwaffentlichung“ dazu missbraucht werden, die Ankunft von Schutzsuchenden in eine Situation der „Selbstverteidigung“ umzudeuten. So formulierte es denn auch Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Er forderte, mit EU-Geldern Polen zu helfen, einen Zaun zu bauen. Man solle nicht naiv sein, es ginge hier um einen „hybriden Krieg“. Nun, man sollte tatsächlich nicht naiv sein und meinen, dies sei das erste Mal, dass Schutzsuchende zum Spielball in Staatenkonflikten würden. Man solle nicht so naiv sein, zu denken, dass diejenigen, die das Recht verabschiedeten, welches Polen nun an der Grenze bricht, nicht um die komplexen Herausforderungen des Flüchtlingsschutzes wussten.