Die Länderbremse
Warum die demokratischen Parteien jetzt eine gemeinsame Linie im Umgang mit der Schuldenbremse finden sollten
Mit dem Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 hat das Bundesverfassungsgericht sein Verständnis der finanzverfassungsrechtlichen Schuldenregeln geschärft und seine Großzügigkeit gegenüber dem Bundesgesetzgeber aufgegeben. Die Entscheidung des Gerichts, über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes hinaus – in einem Einzeiler (Rn. 230) – auch dessen Nichtigkeit festzustellen, führt dazu, dass nun Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro im Klima- und Transformationsfonds (KTF) fehlen. Der Umgang mit der in Art. 109 GG verankerten Schuldenbremse avanciert immer mehr zur Schlüsselfrage für die Zukunft der Republik.
Daran ändert auch nicht, dass Finanzminister Christian Lindner am 23. November erklärte, die Schuldenbremse durch einen Nachtragshaushalt für das Jahr 2023 „aussetzen“ zu wollen. Ein solcher muss sich gleichsam an den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäben messen lassen. Ob die beabsichtigte Feststellung einer noch zu benennenden Notlage den Bundeshaushalt – wie Lindner es formulierte – auf eine „verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage” stellt, ist aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht zum jetzigen Zeitpunkt kaum zu bewerten.
Eher unbemerkt von den in Berlin geführten Richtungskämpfen hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erhebliche Auswirkungen auf die Länder. Die Landeshaushalte sind selbst daran zu messen, ob sie den vom Bundesverfassungsgericht – mit Vorbildfunktion für die Verfassungsgerichte der Länder – konkretisierten Anforderungen gerecht werden. Ein Blick auf ausgewählte Landeshaushalte zeigt, dass Jahre fehlender Haushaltsmittel und andauernder verfassungsrechtlicher Streitigkeiten auf die Länder zukommen können.
Die Vorgaben des Verfassungsgerichts
Art. 109 Abs. 3 GG legt fest, dass neben dem Bund auch die Haushalte der Länder grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Dabei ist der Spielraum der Länder noch strikter begrenzt: Anders als für den Bund in Art. 115 GG ist den Ländern eine Verschuldung i.H.v. 0,35% des nominalen Bruttoinlandsprodukts nicht gestattet. Dieses Verbot der Nettoneuverschuldung wird durch die Verfassungen der Länder repliziert und hinsichtlich der Möglichkeiten ausnahmsweiser (Not-)Kreditaufnahmen ausgeformt. Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind zwei zentrale Leitlinien für die zukünftige Anwendung in den Ländern zu entnehmen:
Über den Wortlaut der Vorgaben aus Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG hinaus ist für Notkredite ein sachlicher Veranlassungszusammenhang zwischen einer außergewöhnlichen Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich. Um eine verfassungsrechtliche Überprüfung der Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit gesetzgeberischer Entscheidungen über eine Kreditaufnahme zu ermöglichen, entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz hohe Darlegungslasten für den Haushaltsgesetzgeber. Darzulegen sind – auch vom Landesgesetzgeber – insbesondere die Diagnose der außergewöhnlichen Notsituation sowie ihrer Ursachen; die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Notlage zu überwinden; und die begründete Prognose, wie dieses Ziel durch eine erhöhte Kreditaufnahme erreicht werden kann (Rn. 150). Stets sind Sinn und Zweck dieser Ausnahmeregelung im Blick zu behalten, denn sie soll die Handlungsfähigkeit des Bundes und der Länder zur Krisenbewältigung gewährleisten.
Daneben zwingt das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgeber auch bei der Aufnahme von Notkrediten zur Einhaltung des haushaltsrechtlichen Grundsatzes der Jährlichkeit und Jährigkeit, dem die Entscheidung des Gerichts einen verbindlichen Schrankencharakter beimisst. In der Errichtung juristisch unselbstständiger Sondervermögen, die ihre Wirkung über ein haushaltsrechtliches Rechnungsjahr hinaus entfalten, sieht das Gericht eine unzulässige Umgehung zwingender Vorgaben des Finanzverfassungsrechts.
Negativbeispiele im Norden
Alle Länder nahmen die Corona-Pandemie zum Anlass für neue Kreditermächtigungen in unterschiedlicher Ausgestaltung; zahlreiche Länder errichteten unselbständige Sondervermögen mit unterschiedlichen Zielen. Die Auswirkungen des Urteils aus Karlsruhe lassen sich dabei danach unterscheiden, ob eine Umwidmung pandemiebedingter Kreditermächtigungen – wie für den KTF – erfolgte oder Kreditermächtigungen auf andere Begründungen gestützt wurden.
Eine dem Bund wesensgleiche Haushaltspraxis findet sich in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Der schleswig-holsteinische Landeshaushalt 2021 nahm eine Umwidmung von Einnahmen aus Notkrediten vor, die er ohne konkrete Darlegung eines Pandemie-Zusammenhangs nunmehr etwa für KI-Förderung, regionalpolitische Maßnahmen oder die Waldbewirtschaftung einsetzt. Zugleich erfolgte ohne Beachtung des Grundsatzes der Jährlichkeit eine über Notkredite finanzierte Rücklagenbildung vor.
Ähnliche Verschiebungen sind auch in Mecklenburg-Vorpommern festzustellen: Wie der Landesrechnungshof schon 2022 bemängelte, wurden Einnahmen aus Notkredite etwa für den Schulbau genutzt oder in ein langfristig angelegtes “Sondervermögen Universitätsmedizin” überführt. Die Laufzeiten der Investitionsprogramme, die teilweise bis zum Jahr 2030 reichen, verhindern eine jährliche parlamentarische Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben.
Für die beiden Nordländer bedeutet das Urteil aus Karlsruhe: Bei Normenkontrollanträgen dürften die Landeshaushalte nicht standhalten. In Mecklenburg-Vorpommern ist bereits ein Antrag der AfD-Fraktion anhängig; in Schleswig-Holstein könnte eine Kontrolle deshalb unterbleiben, weil gem. Art. 51 Abs. 2 SHVerf nur zwei Fraktionen gemeinsam eine abstrakte Normenkontrolle anstrengen können. Auffällig an der Haushaltspolitik der beiden Länder ist, dass an der verfassungswidrigen Umwidmung von Kreditermächtigungen alle im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien gestaltend mitwirken: die im Bund als Verfechter der Schuldenbremse auftretenden CDU und FDP in Regierungsverantwortung mit den Grünen in der damaligen Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein, SPD und Linke in Mecklenburg-Vorpommern.
Sondervermögen Klimaschutz
Der strenge Maßstab des Bundesverfassungsgerichts erfordert auch eine Überprüfung der Landeshaushalte, in denen juristisch unselbständige Sondervermögen mit verschiedenen Zwecken errichtet wurden.
In Berlin beschloss der (CDU-geführte) Senat im Juli ein aus Notkrediten zu finanzierendes Sondervermögen “Klimaschutz, Resilienz und Transformation“. Dieses soll „zusätzliche Maßnahmen […] finanzieren, die geeignet und erforderlich sind, um die energiepolitischen Abhängigkeiten des Landes Berlin insbesondere von fossilen Energieträgern schnell und spürbar zu verringern.”
Auch wenn die Notwendigkeit derartiger Investitionen wohl unbestritten ist, fehlt dem Gesetz die geforderte konkrete Darlegung der Kreditverwendung: „Zusätzliche Maßnahmen” sind eine so vage Beschreibung, dass nicht möglich ist, das Erreichen der verfolgten Ziele zu prognostizieren. Das Sondervermögen wurde zudem auf unbestimmte Zeit gebildet, nämlich bis sein Kreditrahmen ausgeschöpft ist. Als langfristiges Haushaltsinstrument ist es mit dem Jährlichkeitsgrundsatz in der Lesart des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar.
Sondervermögen Ukraine-Krieg
In einer ähnlichen Situation befinden sich verschiedene Länder, die Sondervermögen mit der Bewältigung der Folgen des Ukraine-Kriegs rechtfertigten und mit Einnahmen aus Notkrediten ausgestattet haben. In NRW wurde zur Deckung der finanziellen Folgen des Ukraine-Kriegs ein Sondervermögen i.H.v. fünf Milliarden Euro eingerichtet. Die schwarz-grüne Landesregierung stellt sich aktuell auf den Standpunkt, anders als der Bund in § 2 Abs. 1 ihres Krisenbewältigungsgesetzes einen klaren Sachzusammenhang zwischen Notsituation und finanzieller Mehrbelastung hergestellt zu haben. Ein genauer Blick in das Gesetz zeigt jedoch, dass das Sondervermögen Ausgaben umfasst, die nur einen mittelbaren Bezug zur Krisensituation in Folge des russischen Angriffskriegs aufweisen.
Auch “Maßnahmen zur Abfederung der direkten und indirekten negativen Folgen der Energiekrise insbesondere aufgrund von Preissteigerungen” sowie “Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und -erzeugung, die kurzfristig […] zur Stabilisierung der nordrhein-westfälischen Volkswirtschaft angesichts des durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgelösten Angebotsschocks beitragen” (§ 2 Abs. 2), sollen vom Sondervermögen erfasst sein. Mit Blick auf die strengen Anforderungen an die Darlegung „spezifisch notlagenbedingter Maßnahmen” i.S.d. Bundesverfassungsgerichts (Rn. 135) ist die Konstruktion in Nordrhein-Westfalen verfassungsrechtlich zumindest zweifelhaft.
So ist ein von SPD und FDP gemeinsam (sic!) vor dem Verfassungsgerichtshof Münster eingeleitetes Verfahren mit Spannung zu erwarten. Dass die SPD- und FDP-Fraktionen im größten Bundesland gemeinsam eine Normenkontrolle anstrengen, während die Parteien auf Bundesebene keine Übereinstimmung über die Interpretation der Schuldenbremse finden, verdeutlicht, wie willkürlich die Parteien mit dem Instrument umgehen.
Ähnlich verhält es sich im rot-rot-grün regierten Bremen, in dem ein laufendes Verfahren vor dem Staatsgerichtshof auf einen Antrag der CDU als Oppositionsfraktion zurückzuführen ist. Das Bremer Haushaltsgesetz 2023 stellt in § 16 fest, dass „wegen der Klima-/Energiekrise und den Auswirkungen des Ukraine-Krieges […] eine außergewöhnliche Notsituation” gegeben sei und ermächtigt den Stadtstaat zur Aufnahme von Krediten i.H.v. ca. drei Milliarden Euro. Insoweit die von der Kreditermächtigung erfassten Maßnahmen sowie der genaue Verwendungszweck gesetzlich nicht ausdrücklich benannt werden, scheint der Landesgesetzgeber den hohen Darlegungsanforderungen, die das Bundesverfassungsgericht statuierte, nicht nachgekommen zu sein; in diese Richtung weist auch ein Gutachten von Christoph Gröpl für die Bremer CDU.
Handlungsoptionen der Länder
Unabhängig von den verschiedenen Erscheinungsformen des Einsatzes von Notkrediten zeigt sich, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch zahlreichen Landeshaushalten ihre Rechtfertigung entzieht. Wie der Bund stehen sie vor der Frage, welche Handlungsoptionen den Ländern neben einem Schritt Richtung Austeritätspolitik bleiben. Als verfassungsrechtlich “sicherer” Weg ist die Auflösung von Sondervermögen denkbar. Die Gesetzgebr können entsprechende Gesetze aufheben und bereits aufgenommene Kredite zurückführen. Indes bleibt zu beantworten, wie in einem solchen Fall ohne die Aufnahme neuer Kredite dringend notwendige investive Ausgaben getätigt werden sollen.
Ein weiterer Ansatz wird im Saarland erprobt: Hier errichtete die SPD-Regierung im Dezember 2022 einen 3 Milliarden Euro schweren “Transformationsfonds” als Sondervermögen, um den Strukturwandel mit kreditfinanzierten Investitionen in Infrastruktur, Industriepolitik und Innovation in den nächsten zehn Jahren vorantreiben. Mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kündigte die Landesregierung Anpassungen an, denen zufolge der Landtag in den kommenden Jahren jährlich über das Bestehen einer finanzverfassungsrechtlichen Notsituation entscheiden solle. An die Stelle mehrjähriger Kreditermächtigungen treten so unter Wahrung des Jährlichkeitsprinzips auf ein Jahr begrenzte Ermächtigungen; jedenfalls dieser Verstoß dürfte für die Zukunft geheilt werden. Dennoch dürfte auch dieser Ansatz den Anforderungen des Art. 109 GG jedenfalls langfristig nicht genügen: Jährlich eine außergewöhnliche Notsituation festzustellen, führt zum Gewohnheitszustand. Bei langfristig absehbarem Investitionsbedarf ändert auch das jährliche Feststellen einer Notlage nichts daran, dass es sich um langfristige Entwicklungen handeln, die über die Konjunkturkomponente in Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG und nicht über die Notfallregelung zu bewältigen sind.
Die Schuldenbremse als politischer Spielball
Festzuhalten ist, dass zahlreiche Landeshaushalte in ihrer aktuellen Fassung nicht die hohen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen. Für den Fall verfassungsgerichtlicher Kontrollen ist damit zu rechnen, dass die jeweiligen Landesverfassungsgerichte die aufgenommenen Notkredite – erst Recht im Falle einer Umwidmung von Corona-Krediten – für verfassungswidrig erklären. Wie der Bund müssen die Länder langfristige Lösungen entwickeln, wie sie verfassungskonform investive Ausgaben tätigen können.
In den Ländern zeigt sich auch eine parteipolitische Beliebigkeit im Umgang mit der Schuldenbremse. Die Positionierung zur Schuldenbremse scheint nicht abhängig von der politischen Position, sondern von der Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition, Parteiunabhängig greifen die Landesregierungen zu haushälterischen Notlösungen, was die Notwendigkeit von Investitionen nur unterstreicht. Oppositionsparteien aller Couleur instrumentalisieren wiederum das Vorgehen. Stetige Klagen führen, wie nun zu sehen, zu konkretisierten Anforderungen, mit denen sich die Oppositionsparteien den Ast absägen, auf dem sie zukünftig sitzen wollen. Bezeichnend für dieses Verhalten ist, dass die schwarz-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein in Reaktion auf die verfassungsgerichtliche Entscheidung genau diejenige Lösung wählte, den die CDU auf Bundesebene durchaus polemisch angreift: Den erneuten Beschluss einer haushälterischen Notlage.
Die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Gestaltung stellt alle demokratischen Parteien in den Ländern vor gleiche Herausforderungen. Der Blick in die Länder macht noch deutlicher, dass gemeinsame Lösungen gefunden werden müssen. Nicht verwunderlich ist also, dass auch CDU-Ministerpräsidenten nun eine Reform der Schuldenbremse fordern. Ein Lösungsansatz wurde auf diesem Blog bereits aufgezeigt: Eine Anpassung der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse kann neue Spielräume schaffen und lange offene Fragen zur Berechnung des Produktionspotenzials klären. Eine reformierte Konjunkturkomponente kann im Gegensatz zu Notkrediten langfristige investive Ausgaben ermöglichen. In die Konjunkturkomponente könnte zur Erweiterung des Spielraums der Länder auch für sie eine anteilige Kreditaufnahme im Verhältnis zu ihrem jeweiligen BIP integriert werden. Grundsätzlich ist zu hinterfragen, dass die Schuldenbremse alle Schulden als gleichermaßen schlecht betrachtet. Wird die Schuldenbremse weiter parteipolitisch instrumentalisiert, wird sie nicht für langfristige Stabilität und Generationengerechtigkeit in Bund wie Ländern sorgen können.
Hinweis: Die Autoren haben 2021 an einem Gutachten zum Landeshaushalt Schleswig-Holsteins mitgewirkt.