Die Pandemie war nie weg
Während die vierte Welle der Coronavirus-Pandemie in Deutschland tobt, hat die zukünftige Ampelkoalition in der vergangenen Woche ein Eckpunktepapier vorgestellt, wie die rechtliche und politische Pandemiebekämpfung in den nächsten Monaten erfolgen soll. Der neu gewählte 20. Deutsche Bundestag wird am Donnerstag erstmalig über den seit gestern Abend verfügbaren Gesetzentwurf „zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ debattieren. Die politische und journalistische Debatte ist dabei von erheblicher Unkenntnis über den verfassungs- und infektionsschutzrechtlichen Rahmen geprägt, die insbesondere die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Bekämpfungsmaßnahmen in einer nur teilweise geimpften Bevölkerung fast vollständig verkennt.
Die gegenwärtige Debatte verwundert, weil sie die Faktizität des pandemischen Geschehens offenbar nicht zur Kenntnis nehmen will. In der Politik wird das beliebte Kinderspiel Guck-Guck zur Aufführung gebracht: Wenn wir uns die Augen zuhalten, sehen wir nichts mehr, und dann ist das Virus auch nicht mehr da.
Die epidemische Situation: Die vierte Welle in vollem Gange
Auch im November 2021 ist die Pandemie und ihre Bekämpfung noch immer abhängig von den inzwischen gut bekannten epidemiologischen Grundlagen: Das Coronavirus verbreitet sich exponentiell, und es wird hauptsächlich über Aerosole übertragen. Das Robert-Koch-Institut schätzt im aktuellen Wochenbericht vom 4.11.2021 die Gefährdungslage durch das Virus für die nicht-geimpfte Bevölkerung als “hoch” ein, für die geimpfte Bevölkerung als “moderat”. Insgesamt sei die Lage aber “sehr besorgniserregend”: Die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten könnten bald überschritten sein.
Vor einem Jahr, am Sonntag, den 08.11.2020, vermeldete das Robert-Koch-Institut 16.017 Neuinfektionen und 63 Todesfälle im Vergleich zum Vortag, die 7-Tages Inzidenz pro 100.000 Menschen lag bundesweit bei 135,6. Ein Impfstoff war zwar bereits entwickelt, seinerzeit aber noch nicht zugelassen. Nach dem DIVI-Intensivregister befanden sich damals 2.904 Personen in intensivmedizinischer Behandlung. Die Bekämpfungsverordnungen der Landesregierungen setzten zu diesem Zeitpunkt den sog. Wellenbrecher-Lockdown mit umfassenden nicht-pharmazeutischen Maßnahmen um.
Genau ein Jahr später, am Montag, den 08.11.2021, vermeldet das Robert-Koch-Institut 15.513 Neuinfektionen und 33 Todesfälle im Vergleich zum Vortag, die Sieben-Tages-Inzidenz pro 100.000 Menschen liegt bei 201,1. Zum Stichtag 02.11.2021 waren 66,8 % der Menschen in Deutschland vollständig gegen das Coronavirus geimpft, also zwei Drittel der Bevölkerung. Laut dem DIVI-Intensivregister befinden sich 2.616 Personen in medizinischer Behandlung, was dem Robert-Koch-Institut zufolge einem Anteil von 11,5 % der Betten an der Gesamtzahl der betreibbaren Intensivbetten entspricht. Die dem Robert-Koch-Institut bekannten Ausbrüche finden in Schulen, Kindertageseinrichtungen, aber zunehmend auch in Alten- und Pflegeheimen statt. In den ersten Bundesländern werden bereits wieder planbare, aber durchaus für die Betreffenden lebensnotwendige Operationen aus Mangel an Krankenhauskapazitäten verschoben (“Verschiebung elektiver Operationen”). Die Bekämpfungsverordnungen der Landesregierungen sehen aktuell neben Maskenpflichten und Abstandsgeboten überwiegend Hygienekonzepte, 2G- und 3G-Regelungen vor. Betriebsschließungen, Versammlungs-, Veranstaltungs- und Kontaktverbote gibt es nicht mehr. Die Impfkampagne stockt seit geraumer Zeit, während gleichzeitig bereits in größerem Umfang Boosterimpfungen (Drittimpfungen) notwendig sind, die aber wegen Überlastung der Hausarztpraxen bei gleichzeitiger Schließung der Impfzentren im Herbst nur zögerlich verabreicht werden können. Es kommt zunehmend zu Impfdurchbrüchen, bei denen an sich geimpfte Personen an Corona erkranken, besonders Ältere und vorerkrankte Personen, die im Frühjahr 2021 zuerst geimpft worden waren.
Die aktuelle Situation kommt keinesfalls überraschend. Sie ist von verschiedenen Personen an verschiedenen Orten immer wieder vorhergesagt worden (erschütternd deutlich etwa von Christian Drosten Anfang September im Deutschlandfunk; deutlich zum selben Zeitpunkt auch Melanie Brinkmann im RND).
Der rechtliche Anlass: Das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite
Anlass der gegenwärtigen politischen Debatte ist nun freilich keineswegs die besorgniserregende pandemische Situation, sondern das Auslaufen des Beschlusses des Deutschen Bundestags zur Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zum 25.11.2021.
Die Rechtsgrundlagen für die Bekämpfung der Pandemie finden sich überwiegend im Infektionsschutzgesetz des Bundes, welches seit Beginn der Pandemie vielfältig geändert worden ist. Zu Beginn der Pandemie im März 2020 führten die Gesetzgebungsorgane des Bundes die epidemische Lage von nationaler Tragweite in § 5 Infektionsschutzgesetz ein: Für den Fall der Feststellung der Lage durch den Deutschen Bundestag wurde das Bundesministerium für Gesundheit umfassend zum Erlass von Vorschriften zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems ermächtigt (Kritik damals bei Möllers). Den Erlass von Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus (die sog. “Lockdowns”) durch die Landesregierungen betraf das nicht, sie waren (und blieben) ganz unabhängig von einem entsprechenden Feststellungsbeschluss des Deutschen Bundestages möglich.
Der Deutsche Bundestag stellte die epidemische Lage von nationaler Tragweite erstmalig am 27.03.2020 fest. Die Feststellung galt zunächst unbefristet. Durch Gesetzesänderung im März 2021 wurde die Geltung der Feststellung auf drei Monate befristet (vgl. § 5 Abs. 1 S. 3 IfSG in seiner aktuellen Fassung). Der Bundestag stellte am 26.03.2021, am 15.06.2021 und am 31.08.2021 jeweils die epidemische Lage von nationaler Tragweite fest. Nach aktueller Rechtslage läuft die Geltung der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den deutschen Bundestag zu Ende November 2021 aus.
Im November 2020 hatten die Gesetzgebungsorgane des Bundes auf vielfältige Kritik in Wissenschaft und Rechtsprechung reagiert und die Rechtsgrundlagen der Epidemiebekämpfung – also jene Normen, die die Landesregierungen zur Epidemiebekämpfung ermächtigten – geändert und diese auf neue Beine gestellt. Kern des Gesetzes war die Einführung eines (inzwischen mehrfach geänderten) § 28a IfSG, der den Erlass von Maßnahmen von der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite abhängig machte. Voraussetzung für eine Epidemiebekämpfung durch die Landesregierungen ist seither und bis heute die Feststellung des Bestehens einer epidemischen Lage durch den Deutschen Bundestag (zu den Konstruktionsfehlern des § 28a IfSG Kießling). Bereits seit September 2021 gibt es allerdings nach neuerlicher Gesetzesänderung für die Länder eine Abweichungsmöglichkeit: Nunmehr dürfen die Länder auch nach Auslaufen der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite von der Rechtsgrundlage des § 28a IfSG Gebrauch machen, soweit das Landesparlament dessen Anwendbarkeit feststellt (§ 28a Abs. 7 IfSG).
Nach Auslaufen der epidemischen Lage könnten die Landesregierungen also nach aktueller Rechtslage durchaus weiterhin Bekämpfungsmaßnahmen erlassen, sofern die Landesparlamente die Anwendung des § 28a IfSG feststellen.
Der geplante Neuregelung: Einfrieren des aktuellen Maßnahmenkatalogs
Auf eine Änderung des § 28a Abs. 7 IfSG haben sich die Koalitionsfraktionen im Eckpunktepapier und im nun vorliegenden Gesetzentwurf verständigt: Sie wollen den aktuellen Maßnahmenkatalog der Landesregierungen einfrieren und die Abweichungsmöglichkeit der Länder durch Beschluss des Landesparlaments abschaffen.
Dem Gesetzesentwurf zufolge soll bis zum 22. März 2022 die Pandemie nur noch mit dem aktuellen Maßnahmenkatalog bekämpft werden: Maskenpflicht, 2G- und 3G Regelungen, Hygienekonzepte, Abstandsgebote, Kontaktnachverfolgung und Auflagen für Schulen und Hochschulen (vgl. Art. 1 Nr. 3 Buchst. b des Gesetzentwurfes). Dies sind jene Maßnahmen, die sich momentan in den Bekämpfungsmaßnahmen der Länder finden (vgl. zum Beispiel die Bekämpfungsverordnung des Landes Schleswig-Holstein). Andere Maßnahmen wie Kontaktverbote und die weitergehende Beschränkung von Betrieben, Gaststätten, Versammlungen und (auch privaten) Veranstaltungen wären demnach ausgeschlossen.
Nicht von den geplanten Änderungen umfasst ist nach den Plänen der Ampel die Verwaltungszuständigkeit der Länder zur Epidemiebekämpfung. Denn für das unmittelbare Verwaltungshandeln sind die Bundesländer zuständig, wie sich aus Art. 83 GG ergibt. Die Länder und in ihnen zuvörderst die Landesregierungen sind und bleiben zuständig für die konkrete und tatsächliche Bekämpfung der Epidemie vor Ort. Der Bund ist seit jeher “nur” für die gesetzliche Grundlage der Maßnahmen zuständig. Dies gilt seit Anfang der Pandemie im Februar 2020 und wird sich auch jetzt nicht ändern.
Die gegenwärtig geltenden Bekämpfungsmaßnahmen sollen dem Willen der Ampelparteien zufolge als Obergrenze für die Pandemiebekämpfung festgeschrieben werden. Dies verwundert angesichts des eingangs geschilderten Verlaufes der vierten Welle, die sich kaum vom Herbst 2020 unterscheidet, obwohl inzwischen zwei Drittel der Bevölkerung geimpft sind. Die aktuellen Maßnahmen werden offensichtlich nicht ausreichen, um das pandemische Geschehen in den Griff zu bekommen.
Immerhin ist die Technik der Gesetzesänderung im Gesetzentwurf so gewählt, dass die während der Pandemie entwickelten Regelungsstrukturen in § 28a IfSG nicht zerstört werden. Auch in Zukunft werden die Landesregierungen zu weitreichenderen Maßnahmen ermächtigt sein, wenn eine Mehrheit im Deutschen Bundestag das Bestehen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite feststellt – eine Mehrheit, die sich verwunderlicherweise angesichts der momentan dramatischen Situation freilich gerade nicht findet.
Das politische Verfahren: Hängepartie in den Koalitionsverhandlungen
Hervorzuheben ist, dass die Gesetzesänderung diesmal aus den Fraktionen, also den Reihen des Parlaments und nicht der Bundesregierung kommt (Kritik zum Verfahren der letzten Gesetzesänderung im September 2021 hier). Ausweislich der Ankündigung auf der Website des Deutschen Bundestages soll der Entwurf diesmal in mehreren Lesungen diskutiert, mithin nicht eilig durchgeboxt werden. Machtzentrum der aktuellen politischen Bestrebungen sind jene Parteien und ihre Fraktionen im Bundestag, die voraussichtlich die künftige Bundesregierung stellen werden, und nicht mehr das kommissarisch tätige Kabinett Merkel. Ursache dürfte weniger ein neues Selbstverständnis des Parlaments sein als die Tatsache, dass die kommissarische Bundesregierung seit der Konstituierung des 20. Deutschen Bundestages am 26. Oktober 2021 über keine eigene Mehrheit mehr verfügt.
Die politische Situation: Föderale Machtkämpfe
Währenddessen spitzt sich die Lage der Pandemie in einigen Bundesländer zu. Insbesondere im Süden und Osten der Republik füllen sich die Intensivstationen.
Es war der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der vor ziemlich genau einem Jahr in bewundernswerter Klarheit gesagt hatte: “