Wer rettet wen?
Karlsruhe und das „kirchliche Arbeitsrecht“
Sechs Jahre hat es gedauert und nun ist sie da: die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum sog. kirchlichen Arbeitsrecht. In der „Egenberger“-Entscheidung hat sich das BVerfG erstmals mit der Frage befasst, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen kirchliche Arbeitgeber die Einstellung eines Bewerbers davon abhängig machen dürfen, dass dieser einer bestimmten Kirche oder Konfession angehört. Das BVerfG, so viel lässt sich ganz knapp sagen, verfolgt auf diesem Rechtsgebiet traditionell eine kirchenfreundliche Linie. In den vergangenen Jahren aber hatten das Bundesarbeitsgericht (BAG) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) gleichsam die Bühne übernommen und so stellte sich die Frage, ob nun einiges oder gar alles anders werden würde im kirchlichen Individualarbeitsrecht, oder gar ein offener Konflikt zwischen BVerfG und EuGH ins Haus stehen könnte. Nun ist es weder zum einen noch zum anderen gekommen. Das BVerfG sucht und findet vielmehr einen Weg, seine Rechtsprechung in die Vorgaben des EuGH einzupassen und dabei dennoch in weiten Teilen seiner Linie treu zu bleiben.
Das „kirchliche Arbeitsrecht“ als Schöpfung des BVerfG
Der Beschluss hat eine lange Vorgeschichte. Um seine Bedeutung zu ermessen, bedarf es einiger Hinweise zur Ausformung des kirchlichen Arbeitsrechts durch das BVerfG.
Ausgehend von der Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1, 2 GG, und dem Selbstbestimmungsrecht, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 GG, hat das BVerfG kirchenspezifische Befugnisse im Arbeitsrecht vor allem in zwei Beschlüssen entfaltet: Zunächst im Jahr 1985 (BVerfGE 70, 138) und sodann in der sog. Chefarzt-Entscheidung aus dem Jahr 2014 (BVerfGE 137, 273) hat es – unter gesellschaftlich stark veränderten Rahmenbedingungen – den Kirchen von der Verfassung das Recht eingeräumt gesehen, nicht nur Arbeitnehmer auf der Grundlage privatrechtlicher Arbeitsverträge einzustellen. Auf der Grundlage des kirchlichen Selbstverständnisses steht es den Kirchen in der Sicht des BVerfG auch frei, die Religionszugehörigkeit zur Einstellungsvoraussetzung zu machen und im Arbeitsverhältnis eine „Loyalität“ zu verlangen, die in den Bereich des Privat- und des Intimlebens hineinreichen kann.
Im Ausgangspunkt sollte dies unterschiedslos für alle Beschäftigten gelten, vom Buchhalter (BVerfGE 70, 138) bis zum Chefarzt (BVerfGE 137, 273). Die Figur der „Dienstgemeinschaft“ stellt das dafür entscheidende Argument dar: In der Sicht beider Kirchen sind alle Beschäftigten an der Verfolgung des kirchlichen Sendungsauftrages beteiligt. So steht insbesondere die im übrigen Arbeitsrecht geläufige Kategorie des Tendenzträgers quer zum kirchlichen Selbstverständnis. Die Kirchen verwiesen in der Vergangenheit vielmehr darauf, dass sich die Dienstgemeinschaft nicht mit Differenzierungen zwischen den Arbeitnehmern in Abhängigkeit von den von ihnen übernommenen Aufgaben vertrage.
Angesichts des weiten Gestaltungsspielraums stellte sich die Schrankenfrage umso dringlicher: Zunächst hatte sich das BVerfG in seiner Entscheidung zur Abwägung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts mit Grundrechten der Arbeitnehmer undeutlich geäußert (BVerfGE 70, 138,172 (Rn. 74)), so dass in der religionsverfassungsrechtlichen Literatur von zahlreichen Stimmen vertreten wurde, eine Abwägung finde nicht statt, es sei denn, die kirchlichen Anforderungen verstießen gegen die Grundprinzipien der Rechtsordnung (in Gestalt des Willkürverbots, des Begriffs der guten Sitten und des ordre public). Diese Sicht ist Geschichte: In seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde im Chefarzt-Fall hat das BVerfG die Anforderungen an die Schrankenprüfung konkretisiert und sie zu einem zweistufigen Programm ausgebaut. Dabei soll es zunächst zu einer Plausibilitätskontrolle des kirchlichen Selbstverständnisses (zu den kirchenspezifischen Anforderungen und deren Gewicht usw.) und sodann zu einer offenen Gesamtabwägung kommen (BVerfGE 137, 273 Rn. 81, 112 ff. und 120 ff.). Im Rahmen dieser Abwägung soll dem Selbstverständnis der Kirche ein besonderes Gewicht beizumessen sein (Rn. 125).
Damit blieb es bei einem weiten Gestaltungsspielraum der Kirchen, dessen konkrete Ausgestaltung gerichtlich lediglich auf Plausibilität hin zu überprüfen sein sollte. Dabei erschien die konkrete Kontrolle seitens des BVerfG äußerst zurückhaltend. Mit Blick auf die zweite Prüfungsstufe war aus der Warte des Verfassungsrechts zu fragen, ob sie einer offenen Gesamtabwägung, und damit einem verhältnismäßigen Interessenausgleich, nicht konstruktiv entgegenstand. Umso interessanter erscheint die Selbsteinschätzung des BVerfG im aktuellen Beschluss (Rn. 223).
BVerfG auf Kollisionskurs mit dem EuGH?
Die diskriminierungsrechtliche Perspektive spielte für das BVerfG – noch in der Chefarzt-Entscheidung 2014 – keine Rolle. Das Inkrafttreten des AGG hatte daran nichts geändert, wenngleich im Schrifttum von Anfang an Streit darüber bestand, ob mit § 9 AGG die Bestimmung der Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG, unionsrechtskonform umgesetzt worden sei.
Als das BAG den EuGH in der Sache Egenberger mit Beschluss v. 17.3.2016 im Wege der Vorabentscheidung anrief, kam Bewegung in die Angelegenheit. Das BAG ersuchte den EuGH um Beantwortung der Frage, ob Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG dahin auszulegen sei, dass ein Arbeitgeber bzw. die Kirche verbindlich selbst bestimmen kann, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstellt. Im Weiteren fragte das BAG, welche Anforderungen an die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Richtlinienbestimmung zu stellen seien.
In seinem Urteil v. 17.4.2018 judizierte der EuGH, wenn eine Kirche etwa eine Bewerbung mit der Begründung ablehne, die Religion sei nach der Art der betreffenden Tätigkeiten oder den vorgesehenen Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche, dann müsse dieses Vorbringen Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein können (Rn. 55). Im Übrigen gab es dem BAG seine Auslegung der Richtlinienbestimmung mit auf den Weg: „Zur Auslegung des Begriffs ‚wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung‘ in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG geht aus dieser Vorschrift ausdrücklich hervor, dass es von der ‚Art‘ der fraglichen Tätigkeiten oder den ‚Umständen‘ ihrer Ausübung abhängt, ob die Religion oder Weltanschauung eine solche berufliche Anforderung darstellen kann“ (Rn. 62). Die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung wegen der Religion hänge also vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit ab (Rn. 63).
Es lässt sich festhalten, dass es der Sicht des BVerfG bislang fremd war, die berufliche Anforderung mit der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung zu koppeln. Jedenfalls mit Blick auf das Verständnis von der Dienstgemeinschaft, das die Kirchen in der Vergangenheit entfaltet hatten, erscheint die zwingende Bindung an diese Kriterien als Fremdkörper. Im Hinblick darauf, dass das BVerfG die kirchliche Sicht – auf der Grundlage des Grundsatzes religiös-weltanschaulicher Neutralität – lediglich auf seine Plausibilität hin überprüft sehen will, erweist sich ein derartig verobjektivierendes Kriterium als systemfremd. Dieser Umstand löste im Schrifttum eine Debatte darüber aus, ob der EuGH ultra vires entschieden oder die Verfassungsidentität verletzt haben könnte.
Der Ausweg des BVerfG aus dem Konflikt
Mit Urteil v. 25.10.2018 gelangte das BAG ausgehend von den soeben skizzierten Maßgaben des EuGH zu dem Ergebnis, die Kirchenmitgliedschaft sei für die konkrete Referentenstelle keine gerechtfertigte berufliche Anforderung gewesen. Die Verfassungsbeschwerde gegen das BAG-Urteil stellte das BVerfG daher vor komplexe Fragen rund um das Verhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht.
Den Ausweg findet das BVerfG in den Gestaltungs- und Wertungsspielräumen, die es durch das Unionsrecht und die Auslegung seitens des EuGH eröffnet sieht. Gleich 25-mal verweist das Gericht auf diese Spielräume. Hatte sich das BVerfG in der Chefarzt-Entscheidung der Frage nach Abständen seiner Rechtsprechung insbesondere zu der des EuGH entzogen, hat das Gericht nun einiges nachgeholt. Das BVerfG nimmt an, die bindenden Anforderungen des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG in der Auslegung durch den EuGH ließen sich über eine unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Bestimmungen umsetzen. Dies führt das BVerfG im Ergebnis zu Anpassungen der zweistufigen Prüfung auf der Ebene der Schranken des Selbstbestimmungsrechts (vgl. Ls. 3 a)).
Die Implementierung der Maßgaben des EuGH in das Prüfprogramm des BVerfG
Auf der ersten Stufe kommt es zu einer offensichtlichen Neuausrichtung: In Übereinstimmung mit dem EuGH verlangt das BVerfG, dass sich aus der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung objektiv ein direkter Zusammenhang zwischen der beruflichen Anforderung – konkret der Kirchenmitgliedschaft – und der Tätigkeit ergibt (Ls. 3 b) sowie Rn. 212, 214, 217).
Im Ergebnis versucht sich das BVerfG mit der Einbettung verobjektivierender Prüfungspunkte in seine Zweistufenprüfung an der Quadratur des Kreises (Rn. 215–220): Seine Maßgaben dazu, welche Darlegungen seitens der Kirchen mit Blick auf das Kriterium des „direkten Zusammenhangs“ zwischen der beruflichen Anforderung und der Tätigkeit erfolgen müssen, geraten notwendigerweise anspruchsvoll. Sie werden für die Arbeitsgerichte künftig gewiss zu einer Herausforderung. Der Hinweis, in der Kontrolle „lieg[e] keine theologische Bewertung des von der Religionsgemeinschaft vorgetragenen Anliegens“ (Rn. 217), erscheint mehr als eine Beschreibung dessen, was sein muss, als dessen, was ist, wenn man bedenkt, dass jeder „objektive“ Zugriff auf religiöse Selbstverständnisse scheitern muss.
Auch die zweite Stufe (Gesamtabwägung) soll eine gewisse „Konturierung“ erfahren. Hier soll eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sein: Die berufliche Anforderung soll „im Hinblick auf die konkrete Tätigkeit für die Wahrung des religiösen Selbstverständnisses verhältnismäßig sein“ müssen. (Ls. 3 c), Rn. 221–225). Das BVerfG will dabei unverändert daran festhalten, dass dem religiösen Selbstverständnis insoweit ein besonderes Gewicht beizumessen sei (Ls. 3 c) und Rn. 199, 225). Offenbar soll dies aber nicht länger absolut gelten, sondern davon abhängen, wie groß die Bedeutung der betroffenen Position für die religiöse Identität der Religionsgemeinschaft nach innen und/oder außen ist (Rn. 225). Damit wird die Prüfung gleichsam wiederum verobjektiviert. Dennoch wirft das (eingeschränkte) Festhalten an seiner bisherigen Linie angesichts des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Fragen auf.
Fazit und Ausblick
Einige „Klimmzüge“ muss das BVerfG absolvieren, um die Maßstäbe des EuGH in das eigene Prüfprogramm zu integrieren. Am Ende behält es eine kirchenfreundliche Schlagseite. Künftige Entscheidungen des EuGH werden zeigen, ob der Gerichtshof seine Auslegung der Richtlinienbestimmung verstanden und hinreichend berücksichtigt sieht.
Für den konkreten Einzelfall überzeugt die Sicht der Richterinnen und Richter des BVerfG. Dem BVerfG ist beizupflichten, wenn es feststellt, dass das BAG eine in sich nicht konsistente Prüfung vorgenommen (vgl. Rn. 274, 280 f.) und die ihm eröffneten Spielräume nicht genutzt hat (vgl. Rn. 270, 272, 282). So hat auch das BAG den Zusammenhang zwischen der beruflichen Anforderung (Kirchenmitgliedschaft) und den Umständen der Ausübung der Tätigkeit selbst festgestellt (Rn. 274, 277). Dass es dennoch annahm, für die ausgeschriebene Position sei die berufliche Anforderung der Kirchenmitgliedschaft nicht gerechtfertigt i. S. d. § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG, kann nicht verfangen. Auch der EuGH erkennt Konstellationen an, in der die glaubwürdige Vertretung der Kirche nach außen Ungleichbehandlungen wegen der Religion rechtfertigen könne (dazu auch Rn. 282).
Im Ergebnis ist allerdings zu sehen, dass die Kirchen längst nicht mehr für alle Tätigkeiten pauschal die Kirchenmitgliedschaft verlangen: Ob die Kirchenmitgliedschaft als Einstellungsbedingung gefordert ist, richtet sich in den 2023 bzw. 2024 reformierten Regelwerken maßgeblich nach der Art der Tätigkeit und den Umständen der Ausübung der Tätigkeit, siehe Art. 6 Kath. GrO sowie § 4 RL.EKD. Wenn das BVerfG der pauschalen Forderung der Kirchenmitgliedschaft mit seinem Beschluss eine Absage erteilen will (Rn. 219), kommt es zu spät. Dass nun Karlsruhe die Kirchen gerettet habe, wie beck-aktuell titelt, mag man auf den ersten Blick so sehen. In gewisser Hinsicht haben aber auch die Kirchen mit ihren Reformen Karlsruhe aus einem Dilemma errettet.
Für die Beschäftigten bei den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden – rund 1,8 Millionen Menschen – sowie für Bewerber verbleiben wie so oft in diesem Rechtsgebiet Rechtsunsicherheiten. Als ungeklärt muss insbesondere die Frage gelten, ob die Kirchen weiterhin – pauschal – die Einstellung von Personen, die aus der Kirche ausgetreten sind, ablehnen können (s. Art. 6 Abs. 5 Satz 2 Kath. GrO). Unsicherheiten bestehen auch in anderer Hinsicht fort – etwa mit Blick auf kirchenspezifische Loyalitätsanforderungen (dazu etwa der weitere Vorlagebeschluss des BAG an den EuGH v. 1.2.2024) oder den Umfang des Weisungsrechts kirchlicher Arbeitgeber (dazu aktuell das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm v. 8.8.2025, gegen das die Berufung anhängig ist (LAG Hamm – 18 SLa 685/25).



