19 September 2011

Ein neues Grundgesetz: Warum eigentlich nicht?

Die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa ist mit dem Grundgesetz nicht zu machen. Diese Position hat das BVerfG in der Maastricht-Entscheidung vorbereitet, in der Lissabon-Entscheidung ausgesprochen und in der Euro-Rettungsschirm-Entscheidung fortgeführt: Die EU institutionell in die Lage zu versetzen, mit der Schulden- und Eurokrise fertig zu werden, scheitert an Art. 38 und 20 I, weil jeder Deutsche darauf klagen kann, dass alle Staatsgewalt vom Volk und zwar vom deutschen Volk ausgeht. Und daran kann auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nichts ändern, weil Art. 79 III, die bekannte “Ewigkeitsklausel”, das verbietet.

Ergo: Da geht es nicht weiter. Ende Gelände. Muss man sich was anderes einfallen lassen.

Aber stimmt das denn?

Art. 146 heißt Volksabstimmung

Mir hat heute das sehr lesenswerte, online leider nur in einer Schrumpfversion verfügbare Interview von Peter-Michael Huber, Richter im Zweiten Senat, in der Süddeutschen die Augen dafür geöffnet, dass die bisher von mir wenig geschätzte europapolitische Rechtsprechung des Senats tatsächlich segensreiche Auswirkungen haben könnte.

Huber bestätigt darin kühl die oben erwähnte Lesart der BVerfG-Rechtsprechung, dass das Grundgesetz es nicht erlaubt, die EU in die Lage zu versetzen, nationale Parlamente budgetär unter Kontrolle zu bringen. Wer der EU diese Kompetenz geben wolle, der müsse den Weg des Art. 146 gehen: eine neue Verfassung.

Eine neue Verfassung? Eine Nationalversammlung, eine dritte Republik, und unser geliebtes Grundgesetz wäre Geschichte?

Oh nein, erläutert der Verfassungsrichter weiter: Das Grundgesetz könne durchaus in fast allen Teilen bleiben, wie es ist. Man müsse nur in Art. 23 und in Art. 79 III klarstellen, dass dieser Schritt in Ordnung geht – und das Ergebnis dann einer Volksabstimmung unterwerfen. Nominell würde dann eine neue, vom Volk angenommene Verfassung an die Stelle des Grundgesetzes treten. Aber tatsächlich liefe es auf eine Volksabstimmung über die Stärkung Europas hinaus, wie sie andere Staaten in Europa seit Jahr und Tag abhalten, und auf nichts anderes.

Euroskeptizismus zieht in Deutschland nicht

Volksabstimmung über die Stärkung Europa? Um Gottes willen. Die kann doch nur verloren gehen in diesen Zeiten, und was dann?

Aber auch das stimmt nicht.

Euroskeptizismus zieht in Deutschland nicht. Das hat gestern die FDP erfahren müssen, die nach dem Versuch, die Anti-Euro-Stimmung in ihre Segel zu lenken, in Berlin auf das Niveau der Tierschutzpartei hinabgesunken ist. Natürlich gibt es eine Menge Unmut und Gezeter über die EU und die Eurokraten und überhaupt diese ganzen Stümper da oben. Aber das ist kein Euroskeptizismus, der dem der FPÖ-, Front-National- oder UKIP-Wähler vergleichbar wäre.

In Deutschland lässt sich die nationale Sache nicht gegen Europa in Stellung bringen. Die Bundesrepublik Deutschland hätte es ohne und außerhalb eines europäischen Einigungsprozesses nie gegeben. Niemand, der halbwegs bei Sinnen ist, kann sagen, hätten wir das mal gelassen mit der EU. Schon gar nicht aus Gründen der nationalen Selbstbestimmung: 1949, 1955 und 1990 war die Stärkung Europas die Bedingung der Möglichkeit für die Deutschen, überhaupt national selbstbestimmt zu werden. Nation und Europa sind in unserem speziellen Fall kein Gegensatz, und man muss die deutschen Wähler schon für sehr dumm halten, um zu glauben, dass ihnen das nicht irgendwie auch klar ist.

The case for Europe

Natürlich wäre ein Verfassungsreferendum über die Stärkung der EU in Deutschland gewinnbar – auch und vielleicht sogar gerade in diesen Zeiten. Natürlich könnten CDU, SPD und Grüne, unterstützt von Schmidt, Kohl, Schröder, Fischer und was weiß ich noch für welchen hoch respektierten Elder Statesmen und -women, die Deutschen davon überzeugen, dass es in ihrem höchsteigenen und ganz handfest materiellen Interesse ist, wenn künftig die EU den Griechen auf die Finger schauen kann beim Geldeinnehmen und -ausgeben.

Im gleichen Moment würde ein wesentlicher Teil des Unmuts, der sich in der Bevölkerung über die EU und die Politik generell angestaut hat, in sich zusammenfallen. Die Leute sagen, uns fragt ja keiner. Also, jetzt werden sie gefragt. Sie müssten Antwort geben, statt immer nur zu jammern. Sie müssten sich Rechenschaft geben, ob sie wirklich die D-Mark zurückhaben wollen oder ob sie sich das nicht doch vielleicht noch mal überlegen wollen. Sie müssten Verantwortung übernehmen und Position beziehen. Und ich kann keinen Grund erkennen, warum nicht mehr als die Hälfte sich dann am Ende doch für Europa entscheiden sollten.

Endlich würde offen debattiert werden über die Vorzüge und Nachteile der EU, über Demokratie und Selbstbestimmung. Wir würden aus dieser vermufften, verkrümmten Haltung herauskommen, dieser leisetreterischen Schleicherei, als müssten wir die Deutschen vor sich selber schützen, als wüssten wir es besser als sie, glaubten aber selber gar nicht recht an die Überzeugungskraft unserer Argumente.

Auch in den anderen EU-Ländern wäre das ein erfolgreiches EU-Referendum ein unglaubliches Signal. Die vermeintliche Erfahrungstatsache nach Frankreich, Holland, Irland und Dänemark, dass das Volk das eigentlich alles doof findet mit Europa, wäre deutlich relativiert.

Aber auch für unsere nationale Verfassungspolitik wäre das wie eine Erlösung. Der Zweiten Senat wäre von dem selbst geschaffenen Dilemma befreit, dauernd “nationale Selbstbestimmung” in Richtung Brüssel und Luxemburg bellen zu müssen, aber niemals zubeißen zu können. Das kann man ja auch nicht ewig machen, ohne an Autorität zu verlieren. Und Angela Merkel könnte zu guter Letzt zeigen, dass doch eine Kanzlerin in ihr steckt.

Also. Warum machen wir das nicht einfach?

Foto: Jim Shel, Flickr Creative Commons


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Ein neues Grundgesetz: Warum eigentlich nicht?, VerfBlog, 2011/9/19, https://verfassungsblog.de/ein-neues-grundgesetz-warum-eigentlich-nicht/, DOI: 10.17176/20181008-120417-0.

28 Comments

  1. Clemens Gleich Mon 19 Sep 2011 at 12:07 - Reply

    Ich sehe aktuell keinen echten Grund, das GG zu ändern, selbst wenn es natürlich machbar wäre. Warum braucht die EU aktuell mehr Rechte? Damit eine Stelle mit noch mehr Breiteneinfluss den Banken alles bezahlt, was sie selbst verkackt haben? Der aktuelle Einfluss der EU langt mir schon, und viele EU-Gesetzgebungsbeispiele zeigen mir, dass ich eher weniger Einfluss für Brüssel will, solange die Kompetenz dort derart unterirdisch ist.

  2. neuköllner Mon 19 Sep 2011 at 12:46 - Reply

    Ich finde auch, eine solche Debatte ist überfällig. Mir scheint die Kritik am BVerfG, gerade auch zuletzt nach dem Lissabon-Urteil, vielfach von der Furcht vor einer Volksabstimmung gespeist zu sein (auch wenn das natürlich kein Staatsrechtler so zugeben würde). Und gerade diese “Verdruckstheit” in dieser Frage hat mich immer sehr gestört. Statt die Chancen zu diskutieren, die ein solcher Schritt hätte, wird auf Veranstaltungen die Möglichkeit beschworen, dass ein zukünftig von vermeintlich moderneren, europafreundlicheren Richtern besetztes Gericht das Lissabon-Urteil (endgültig) einkassiert, eben damit der Weg über Art. 146 GG nicht gegangen werden muß. Aber mal abgesehen von taktischen Überlegungen(zu gewinnen wäre eine solche Abstimmung für die Befürworter sicherlich, vor allem, solange es noch keine starke antieuropäische Partei gibt, die die Gegner mobilisieren könnte): die große Frage ist doch wie immer, wer sonst noch in Europa diesen Weg in Richtung eines Bundesstaates zu gehen gewillt und in der Lage ist. Und was ist mit jenen, die es nicht sind? Deutschland könnte natürlich vorangehen und erst einmal nur die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen schaffen. Aber dann müßte die Bundeskanzlerin ihr politisches Schicksal mit einer Sachfrage verknüpfen, was doch eher schwer vorstellbar erscheint.

  3. Stefan H. Mon 19 Sep 2011 at 13:20 - Reply

    Glauben Sie wirklich, dass sich die Diskussion um eine neue Verfassung auf die Art. 23 und Art. 79 III beschränken ließe?
    Was ist mit Art. 102, wenn mal wieder ein Kinderschänderfall durch die Medien geistert? Oder dem gesamten Themenkomplex Föderalismus? Hätten die Bürger das Recht, selber Änderungsvorschläge zu machen?

  4. Stefan H. Mon 19 Sep 2011 at 13:22 - Reply

    Noch als Ergänzung: Was ist mit den Elementen direkter Demokratie, die schon seit Jahrzehnten diskutiert werden? Das wäre doch auch eine gute Gelegenheit, oder nicht?

  5. blub Mon 19 Sep 2011 at 14:43 - Reply

    Hach, die vereinigten Staaten von Europa, eine schwierige Sache. ich weiß nicht ob es tatsächlich so viel Sinn macht für so viele unterschiedliche Völker und Mentalitäten die gleichen Regeln zu erlassen. Ich halte es zwar für absolut notwendig und sinnvoll wenn europäische Staaten kooperieren, aber für eine gemeinsame Verfassung sind wir als Europäer noch nicht bereit. Langfristig bleibt uns allerdings kaum eine andere Möglichkeit wenn wir uns politisch gegen die USA, Russland, China und Indien behaupten wollen. Wir brauchen das gemeinsame politische Gewicht um nicht von den anderen Staaten auseinandergetrieben zu werden. Aber dazu braucht es Einigkeit, nicht nur unter den Politikern, auch unter den Völkern, und die ist nicht gegeben. Aber es wäre schön mal darüber abstimmen zu können, demzufolge gebe ich Herrn Steinbeiss recht. Warum nicht einfach mal abstimmen?

    Aber hier kommt das zweite ABER und das ist leider ein sehr großes. So sehr ich ein gemeinsames Europa begrüßen würde, in der jetzigen Form ist es untragbar. Denn die EU ist undemokratisch. Neue Gesetze oder Gesetzesänderungen werden ausschließlich von der europäischen Kommission vorgeschlagen. Das Parlament darf einfach nur noch zustimmen oder ablehnen oder ein bisl dran rum doktorn. Die Vertreter der Kommission werden aber _ernannt_ und sind nicht _gewählt_. Es gibt keine Möglichkeit sie los zu werden, es gibt keine Möglichkeit die Ämter neu zu besetzen. Deshalb halte ich ein gemeinsames Europa mit der jetzigen bürokratischen Struktur undenkbar für ein demokratisches Volk. Allen voran die Wahl des Vorgesetzten der Kommission, der in einer geheimen Wahl gewählt wird. Wahlen von Volksvertretern müssen _immer_ öffentlich sein, denn wie soll man sonst überprüfen dass die Vertreter das Volk vertreten und nicht eigene Interessen?

    Die Gesinnung der Kommission kann man an den Gesetzesvorschlägen ablesen die sie erlässt. Der ESM z.b. ist eher ein Instrument einer Diktatur als das einer Demokratie. Einige Punkte die es für eine Demokratie disqualifizieren:
    – Willkürliche und unbegrenzte Festlegung der Haftungshöhe der Mitgliedsstaaten.
    – Absolute rechtliche Immunität für die Juristische Person ESM und aller ihrer Besitztümer.
    – Absolute juristische Immunität alle ihrer Angestellten
    – Keine Möglichekeit für die Mitgliedsstaaten auszutreten(unwiederrufliche Teilnahme)

  6. Malte S. Mon 19 Sep 2011 at 16:42 - Reply

    So lange die EU quasi exekutiv dominiert wird und maßgeblich auf die Förderung des Binnenmarktes ausgerichtet ist, kommt eine Übertragung echter Hoheitsrechte im Wege der Verfassungsänderung nicht in Betracht. Denn damit wäre zugleich der Kernbestand der Demokratie beeinträchtigt.

    Die Akzeptanz der EU hat im Übrigen in meinem Umfeld – viele Akademiker, aber auch viele Leute mit einer Lehre – in den letzten Jahren durch und durch abgenommen. Und das liegt nicht an der zu geringen Beteiligung, sondern an der Überbürokratisierung und realitätsfernen Entscheidungsfindung, die mittlerweile selbst dem IQ<50-Bürger bewußt ist.

  7. crackpille Mon 19 Sep 2011 at 20:43 - Reply

    Ganz meine Meinung; neben der verfassungsrechtlichen Seite gibt es IMHO auch gute politische Gründe dafür:

    http://kinderfresserbar.blogspot.com/2011/07/ein-gespenst-geht-um-in-europa.html

  8. O. Sauer Mon 19 Sep 2011 at 23:27 - Reply

    @Max Steinbeis: Volle Zustimmung. Im äußersten Südwesten der Republik war man mit (damals noch Vize-)Präsident Voßkuhle, Richter (damals noch nicht a.D.) Broß, Richter a.D. Böckenförde und Richter Masing auf diesem Stand allerdings bereits sechs Tage nach Verkündung des viel und unverstanden geschmähten Lissabon-Urteils.

    Link: http://podcast2.ruf.uni-freiburg.de/ub/casts/09/universitaetsbibliothek/2009_07_06_Jura_60_Jahre_Grundgesetz_HD_lo.m4v