Fehlverständnis des Neutralitätsgebots für den Staat
Zur Entscheidung des BVerfG zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen
Der 2. Senat des BVerfG hat mit Beschluss vom 14. Januar 2020 entschieden, dass ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen bei bestimmten Tätigkeiten verfassungsgemäß ist. Damit verkennt das BVerfG das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot für den Staat, das ein Identifizierungsverbot ist. Staat und Staatsbedienstete sind unterschiedliche Rechtssubjekte und Religionsausübung durch Staatsbedienstete ist Grundrechtsgebrauch. Den Grundrechtsgebrauch des Staatsbediensteten macht sich der Staat nicht a priori zu eigen. So auch im Fall des Kopftuchs der Rechtsreferendarin: Der Staat hat das Tragen des Kopftuchs weder veranlasst noch macht er es sich anderswie zu eigen. Er identifiziert sich nicht damit. Das BVerfG bringt das Neutralitätsgebot in Stellung, das jedoch tatbestandlich keine Anwendung findet. Die Schranke für die Religionsausübung für Staatsbedienstete findet sich vielmehr im verfassungsrechtlichen Mäßigungsgebot, das ein generelles Kopftuchverbot nicht rechtfertigen kann.
Rechtfertigungsgründe für den Eingriff in die Religionsfreiheit der Rechtsreferendarin
Ein Verbot für Rechtsreferendarinnen, religiöse Symbole oder Kleidungsstücke wie das „islamische Kopftuch“ bei Tätigkeiten zu tragen, bei denen sie als Repräsentantinnen des Staates wahrgenommen werden können, bewirkt einen Eingriff in ihre Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), der nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden kann. Als kollidierendes Verfassungsrecht sieht das BVerfG an: das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität, den Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die negative Religionsfreiheit Dritter. Im Zentrum steht das Neutralitätsgebot, von dessen Beeinträchtigung die Betroffenheit der beiden anderen verfassungsrechtlichen Schutzgüter abhängt.
Verkennung des Neutralitätsgebots
Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität ist ein verfassungsrechtliches Staatsfundamentalprinzip der Neuzeit. Damit der Staat Heimstatt aller BürgerInnen sein kann, ist er zu unbedingter Neutralität in weltanschaulich-religiöser Hinsicht verpflichtet. Das Neutralitätsgebot fordert zwar keine strikte Trennung von Staat und Kirche, verbietet dem Staat aber, sich mit einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft zu identifizieren. Das Neutralitätsgebot ist ein Identifizierungsverbot. Das ist ständige Rechtsprechung beider Senate des BVerfG, was der 2. Senat in seinem Beschluss vom 14. Januar 2020 zutreffend betont (Rn. 87 f.).
Wenn man den Beamten und Angestellten des Staates, wie es früher vertreten wurde, Grundrechtssubjektivität absprechen würde, wäre jede Religionsausübung durch Staatsbedienstete eine Handlung des Staates, die das Neutralitätsgebot verletzte. Eine solche Gleichsetzung von Staat und Staatsdienern ist aber längst überwunden. Seit langem steht fest, dass die beim Staat Beschäftigten eigenständige Rechtssubjekte sind und sich auf Grundrechte berufen können. Dies stellt auch der 2. Senat des BVerfG nicht infrage, sondern weist ausdrücklich auf die Grundrechtsberechtigung der Rechtsreferendarin hin (Rn. 79).
Weil die für den Staat tätigen Angestellten und Beamten eigenständige Rechtssubjekte mit Grundrechtsberechtigung sind, kann die grundrechtlich geschützte Religionsausübung durch Staatsbedienstete nicht mit dem Handeln des Staates gleichgesetzt werden. Es handelt sich um Grundrechtsausübung eines Rechtssubjekts, das vom Rechtssubjekt Staat zu trennen ist.
Dementsprechend ist der Kruzifix-Fall (s. BVerfGE 93, 1) anders zu behandeln als der Kopftuch-Fall und die weiteren Fälle des Tragens religiöser Symbole und Kleidungsstücke durch Staatsbedienstete. Installiert der Staat in seinen Einrichtungen religiöse Symbole, liegt religiöse Betätigung des Staates vor, die gegen das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot verstößt. Anders liegen die Dinge im Kopftuch-Fall. Hier geht es um die Grundrechtsausübung durch einen – vom Staat zu unterscheidenden – Rechtsträger, einen Grundrechtsträger. Die Grundrechtsausübung des Amtsträgers ist nicht gleichzusetzen mit dem Handeln des Staates.
Diese grundlegende Unterscheidung zwischen den beiden Rechtssubjekten, zwischen Staat und Staatsbedienstetem, trägt auch die Entscheidung des 1. Senats des BVerfG zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen in staatlichen Schulen (BVerfGE 138, 296 (336 Rn. 104 und 340 Rn. 112)). Der 1. Senat weist zu Recht daraufhin, dass das Tragen des Kopftuchs durch Lehrerinnen Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit ist. Indem der Staat dies hinnimmt, macht er sich die Religionsausübung nicht zu eigen. Er identifiziert sich nicht mit der Religionsausübung der Lehrerinnen (BVerfGE 138, 296 (336 Rn. 104 und 340 Rn. 112: „keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben“)).
Von diesen Grundsätzen geht auch der 2. Senat des BVerfG in seinem Beschluss vom 14. Januar aus (Rn. 89). Er macht allerdings einen vermeintlichen Unterschied zwischen der Schule und dem Gericht aus. Anders als in der Schule nehme der Staat beim Gericht auf das „äußere Gepräge“ Einfluss, etwa durch Vorgaben zum Tragen von Roben, die Gestaltung des Gerichtssaals, das besondere Eintreten des Spruchkörpers in den Sitzungssaal sowie das Erheben bei wichtigen Prozesssituationen (Rn. 90). Wegen dieser „formalisierten Situation“ sieht der 2. Senat in der Religionsausübung einer Richterin oder Staatsanwältin im Gericht eine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots. Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden“ (Rn. 90).
In diesem Satz zeigt sich die grundlegende Schwäche des Beschlusses des BVerfG: Es geht nicht um die Zurechnung an den Staat, sondern um die Identifizierung durch den Staat. Das BVerfG subsumiert nicht unter seinen selbst gestellten Obersatz. In Rn. 88 seines Beschlusses heißt es, dass es dem Staat nach dem Neutralitätsgebot untersagt ist, „sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen … mit einem bestimmten Glauben … (zu) identifizieren“ (Hervorhebung nur hier). Das „äußere Gepräge“ und die „formalisierte Situation vor Gericht“, auf die sich der 2. Senat beruft, sind „von ihm ausgehende … Maßnahmen“. Würde der Staat das Tragen religiöser Symbole anordnen, ginge diese Maßnahme von ihm aus und berührte sie das Neutralitätsgebot. Das hier in Rede stehende Kopftuch ist aber keine Maßnahme, die vom Staat ausgeht. Es wird nicht vom Staat angeordnet, sondern beruht auf einer autonomen Entscheidung der Grundrechtsträgerin. Zwar ist das Tragen eines Kopftuchs durch Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen eine dem Staat „zuzurechnende Maßnahme…“. Darin liegt aber keine Identifizierung des Staates mit dem Kopftuch als religiösem Symbol. Eine Zurechnung von Maßnahmen der Staatsbediensteten an den Staat bewirkt für sich genommen noch keine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots, sondern es muss hinzukommen, dass der Staat sich mit der Maßnahme identifiziert (Beschluss, Rn. 88: „identifizieren“). Eine solche Identifizierung mit der Religionsausübung (Kopftuch) von Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen durch den Staat liegt aber nicht vor. Insoweit bestehen keine Unterschiede zwischen der Religionsausübung von Staatsbediensteten im Gericht und in der Schule (so aber Rn. 90).
Dass sich der Staat die Religionsausübung seiner Angestellten und Beamten nicht zu eigen macht und sich mit ihr also nicht identifiziert, zeigt die Parallele (partei-)politischer Äußerungen von Beschäftigten des Staates während ihrer Amtsausübung. Politische Betätigungen (z.B. das Tragen einer Plakette „Atomkraft Nein Danke“ oder von Symbolen einer politischen Partei) des Amtswalters während des Diensts macht sich der Staat auch nicht zu eigen. Verbote solcher politischen Äußerungen können unstreitig nicht unter Berufung auf das verfassungsrechtliche Gebot weltanschaulich-politischer Neutralität des Staates gerechtfertigt werden. Sie lassen sich nur im Einzelfall durch das verfassungsrechtliche Mäßigungsgebot legitimieren, das als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums Verfassungsrang hat (Art. 33 Abs. 5 GG) (vgl. hierzu noch unten).
Noch deutlicher wird die fehlende Identifizierung des Staates mit der Religionsausübung seiner Beschäftigten, wenn man den Blick auf die Religionsausübung von Beschäftigten privater Unternehmen lenkt. Würde sich der Staat mit dem Kopftuch der Rechtsreferendarin, Richterin oder Staatsanwältin identifizieren, gälte Gleiches für den privaten Arbeitgeber in Bezug auf ein islamisches Kopftuch seiner Beschäftigten. Im horizontalen Grundrechtsverhältnis müsste die negative Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) des Arbeitgebers betroffen sein. Das gälte jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber auf das „äußere Gepräge“ seiner Beschäftigten Einfluss nähme (z.B. durch Firmenkleidung). Eine Beeinträchtigung der negativen Glaubensfreiheit des Arbeitgebers liegt aber ersichtlich fern. Es ist ausschließlich die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Arbeitgebers betroffen (vgl. EuGH, NZA 2017, 373 (375): „Der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art. 16 der Charta anerkannt ist …“).
Im Ergebnis gilt somit, dass ein vom Staat vorgegebenes „äußeres Gepräge“ und die „formalisierte Situation vor Gericht“, auf die sich der 2. Senat beruft, keine andere Beurteilung des Kopftuchs von Staatsbediensteten im Gericht erlaubt als in der Schule. Hier wie dort ist zwischen der Grundrechtsausübung der Beschäftigten einerseits und dem Staat andererseits zu differenzieren. Der Staat macht sich die Grundrechtsausübung seiner Bediensteten nicht zu eigen und identifiziert sich nicht mit ihr. Das Neutralitätsgebot ist in beiden Fällen tatbestandlich nicht einschlägig. Das Neutralitätsgebot darf insbesondere nicht von einem Identifizierungsverbot in ein Zurechnungsverbot umgedeutet werden. Die Zurechnung genügt für sich genommen nicht für eine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots. Hinzutreten muss die Identifizierung des Staates mit der Religionsausübung, woran es beim Kopftuch der Rechtsreferendarin, Richterin und Staatsanwältin ebenso fehlt wie beim Kopftuch der Lehrerin.
Keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Justiz
Als weiteren Grund mit Verfassungsrang zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit durch das Kopftuchverbot nennt der 2. Senat des BVerfG die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (Rn. 91 f.). Das irritiert deswegen, weil an anderer Stelle des Beschlusses bezogen auf die „Garantie der richterlichen Unparteilichkeit“ (zu Recht) ausdrücklich steht, dass das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst für sich genommen nicht geeignet ist, Zweifel an der Objektivität der betreffenden RichterInnen zu begründen (Rn. 99). Ob neben der „Garantie der richterlichen Unparteilichkeit“ überhaupt noch Platz ist für die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als gesondertem Verfassungsgut, ist fraglich.
Dass das BVerfG die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als beeinträchtigt ansieht, mag darauf zurückzuführen sein, dass es von einer Betroffenheit des Neutralitätsgebots ausgeht. Und in der Tat: Identifizierte sich der Staat mit der Religionsausübung seiner Beschäftigten (Tragen des Kopftuchs) und wäre deshalb das Neutralitätsgebot berührt, wäre wohl auch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (sowie die Unparteilichkeit der Richter) betroffen. Ein weltanschaulich-religiös nicht neutraler Staat wäre weder Heimstatt aller BürgerInnen noch würde er seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zu einer objektiven und unabhängigen Justiz gerecht. In diesem Sinne lässt sich auch der 2. Senat des BVerfG verstehen (Rn. 92: „Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten“; „Vertrauen… in die Neutralität der Justiz“).
Da jedoch das Neutralitätsgebot des Staates beim Kopftuch der Rechtsreferendarin, Richterin und Staatsanwältin nicht einschlägig ist, ist auch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht betroffen.
Keine Betroffenheit der negativen Religionsfreiheit Dritter
Anders als das BVerfG meint, berührt das Kopftuch der Rechtsreferendarin auch nicht die negative Religionsfreiheit Dritter. Der 2. Senat begründet den Eingriff in die negative Glaubensfreiheit maßgeblich mit der Unausweichlichkeit der Situation im Gerichtssaal (Rn. 95). Die Unausweichlichkeit der Situation ist dann maßgebliches Kriterium für die Betroffenheit der negativen Religionsfreiheit, wenn der Staat religiöse Symbole – wie im Kruzifix-Fall – selbst anordnet. In diesem Fall kommt es für einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit darauf an, ob die Betroffenen über eine Ausweichmöglichkeit verfügen. Dagegen liegt bei einer Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots – etwa durch das Anbringen von Kruzifixen in bayerischen Behörden – ein Verfassungsverstoß unabhängig davon vor, ob der Einzelne die Möglichkeit des Ausweichens hat. Das Bestehen einer Ausweichmöglichkeit ist nur von Bedeutung für die Frage subjektiver Abwehransprüche aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
Die Unausweichlichkeit der Situation spielt für die Betroffenheit der negativen Religionsfreiheit hingegen keine Rolle, wenn es wie beim Kopftuch um die Religionsausübung eines Amtsträgers (Grundrechtsträgers) geht. Dementsprechend hat das BVerfG bezogen auf das Tragen eines religiösen Kopftuchs durch Lehrerinnen in staatlichen Schulen entschieden, dass die Einzelnen „kein Recht darauf (haben), von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen … und religiösen Symbolen verschont zu bleiben“ (BVerfGE 138, 196 (336 Rn. 104)). Das BVerfG betont ausdrücklich, dass dies auch in unausweichlichen Situationen gilt, in denen sich SchülerInnen befinden. Solange die Religionsausübung nicht „auf Veranlassung der Schulbehörde“, sondern aufgrund einer eigenen Entscheidung“ der LehrerIn erfolgt, haben die SchülerInnen kein Recht auf Schutz vor Konfrontation mit Andersgläubigen, sodass ihre negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht betroffen ist (BVerfGE 138, 196 (336 Rn. 104)).
Das ist im Gerichtssaal nicht anders. Der 2. Senat des BVerfG müht sich zwar, Unterschiede zwischen der Schule und dem Gerichtssaal herauszuarbeiten. Solche Unterschiede existieren aber nicht. Das BVerfG meint, dass sich in der Schule „gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll“, während „der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber“ trete (Rn. 95). Zum einen erschließt sich jedoch nicht, weshalb die Lehrerschaft „gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll“, die Richterschaft hingegen nicht. Zum anderen handelt der Staat auch in der Schule hoheitlich, was sich u.a. an der Schulpflicht, der Notengebung und den Versetzungsentscheidungen zeigt.
Da in beiden Bereichen, dem Gericht und der Schule, eine Situation der Unausweichlichkeit für die Verfahrensbeteiligten bzw. SchülerInnen besteht, hätte der 2. Senat des BVerfG auf der Grundlage seiner Annahme, dass die Unausweichlichkeit der Situation maßgeblich ist für die Beeinträchtigung der negativen Glaubensfreiheit Dritter, das Plenum des BVerfG anrufen müssen (s. § 16 Abs. 1 BVerfGG).
Konsequenz: Kopftuch- und Berufsverbot (auch) für Richterinnen und Staatsanwältinnen?
Unmittelbar betrifft der Beschluss des BVerfG zwar „nur“ eine Rechtsreferendarin, die zudem im konkreten Fall nicht gehindert war, ihr Referendariat „vollwertig abzuleisten“ (Rn. 105). Dass sie vorgesehene Regelleistungen nicht mit Kopftuch erbringen durfte, hatte keinen Einfluss auf ihre Bewertung. Gleichwohl hat der Beschluss Bedeutung weit über den Fall hinaus. Seine eigentliche Sprengkraft liegt in seinen Auswirkungen auf die klassischen juristischen Berufe der Richterin und Staatsanwältin. Wenn man mit dem BVerfG annimmt, dass das Tragen des Kopftuchs durch eine Rechtsreferendarin zum Schutz des Neutralitätsgebots für den Staat untersagt werden darf, könnte das Gleiche für Richterinnen und Staatsanwältinnen gelten. Das liefe auf ein „Berufsverbot“ hinaus.
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das BVerfG dem Neutralitätsgebot ebenso wie den weiteren mit den Grundrechten der Referendarin kollidierenden Verfassungsgütern (Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, negative Religionsfreiheit Dritter) keine absolute Geltung beimisst. Vielmehr verlangt das BVerfG eine umfassende Abwägung zwischen diesen drei Verfassungsgütern einerseits und den Grundrechten der Betroffenen (positive Glaubensfreiheit, Berufsfreiheit) andererseits (Rn. 90, 101 f.). Im Rahmen einer solchen Abwägung wäre zu beachten, dass ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Staatsanwältinnen das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ungleich stärker beeinträchtigte als ein Kopftuchverbot für die in Ausbildung befindliche und daher nur vorübergehend und lediglich in einzelnen Tätigkeiten betroffene Rechtsreferendarin. Daraus könnte folgen, dass ein „Berufsverbot“ für Richterinnen und Staatsanwältinnen unverhältnismäßig wäre. Auf der anderen Seite wären allerdings auch die kollidierenden Schutzgüter wie namentlich das Neutralitätsgebot durch ein Kopftuch von Richterinnen und Staatsanwältinnen deutlich stärker betroffen als durch ein Kopftuch von Rechtsreferendarinnen. Denn das klassisch-hoheitliche Auftreten der Justiz mit besonderer „Beeinträchtigungswirkung“, dem das BVerfG besondere Bedeutung zumisst (Rn. 95), manifestiert sich vor allem in der Ausübung von Staatsgewalt durch Richterinnen und Staatsanwältinnen und nicht so sehr im Handeln von Rechtsreferendarinnen, die nur punktuell und vorübergehend in einzelnen, einfach gelagerten Fällen unter der Aufsicht ihrer AusbilderInnen im Gerichtssaal zum Einsatz kommen.
Hinzu kommt: Hält man das Neutralitätsgebot – wie das BVerfG – für einschlägig, ließe sich mit gutem Grund an der Eignung (s. Art. 33 Abs. 2 GG) muslimischer Bewerberinnen für Staatsämter wie die Richter- und Staatsanwaltschaft zweifeln. Ebenso wie BewerberInnen, die sich nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung bekennen, für den öffentlichen Dienst ungeeignet sind, könnte die Eignung von BewerberInnen für den Staatsdienst bei mangelndem Bekenntnis zum Neutralitätsgebot fehlen (vgl. auch BVerfGE 108, 282 (305 Rn. 53) bezogen auf die Absicht einer Lehrerin, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen). Das Neutralitätsgebot ist ein Strukturprinzip unseres Verfassungsstaates, zu dem sich jeder Amtswalter ebenso bekennen muss wie zur verfassungsmäßigen Ordnung.
Schließlich: Folgte man dem BVerfG darin, dass das Neutralitätsgebot ohne Weiteres einer Abwägung mit anderen Verfassungsgütern wie der Religions- und Berufsfreiheit zugänglich ist, ohne dass ihm grundsätzlich Vorrang zukommt, würde die besondere Bedeutung und der herausragende Stellenwert des Neutralitätsgebots verkannt. Die Trennung von Staat und Religion, der säkulare Staat, ist ein Strukturprinzip der Neuzeit. Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität ist ein Fundamentalprinzip des Grundgesetzes. Der Staat kann nur dann Heimstatt aller BürgerInnen sein, wenn er sich im weltanschaulich-religiösen Bereich strikt neutral verhält und weder bestimmte Bekenntnisse privilegiert noch diskriminiert (Rn. 87 mit weiteren Nachweisen; zuletzt grundlegend Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, 2018, S. 95 ff.). Das Neutralitätsgebot hat eine elementare Befriedungsfunktion, es dient dem inneren (und äußeren) Frieden. Mit Blick auf diesen besonderen Stellenwert des Neutralitätsgebots als elementarem Strukturprinzip unserer Verfassung erscheint es in hohem Maße zweifelhaft, es ohne Weiteres zur Abwägung mit der Glaubens- und Berufsfreiheit des Einzelnen zu bringen. Eine solche Abwägung ohne prinzipiellen Vorrang des Neutralitätsgebots führte dazu, dass es bei besonderem Gewicht der Religions- und Berufsausübung im Einzelfall zurücktreten müsste. Ihm käme kein besonderer Rang in der Abwägung mit der Glaubens- und Berufsfreiheit zu, sondern diese Verfassungsgüter stünden sich grundsätzlich gleichrangig gegenüber. Das Neutralitätsgebot würde dadurch nur partiell und einzelfallabhängig verwirklicht werden. Das aber würde seinem Stellenwert als Struktur- und Elementarprinzip der Verfassung nicht gerecht. Das Neutralitätsgebot ist kein beliebiges Gut von Verfassungsrang, sondern ein elementares Strukturprinzip, dem in der Abwägung mit anderen Verfassungswerten besonderes Gewicht zukommt.
Dogmatisch richtiger Weg: Mäßigungsgebot als Schranke der Religions- und Berufsfreiheit
Auch wenn für das Kopftuch von Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen das Neutralitätsgebot ebenso wenig einschlägig ist wie die vom BVerfG genannten anderen Schutzgüter (Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, negative Religionsfreiheit Dritter), heißt das nicht, dass der Religionsausübung von Beamten und Angestellten des Staates keine Grenzen gesetzt sind. Anders als bei der Grundrechtsausübung im privaten Bereich unterliegt der Beschäftigte des Staates bei der Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes einem verfassungsrechtlichen Mäßigungsgebot. Die Ausübung eines öffentlichen Amts dient nicht der Entfaltung der individuellen Freiheit des Amtswalters, sondern der Erfüllung der mit dem Amt verbundenen öffentlichen Aufgabe. Die Betrauung mit einem öffentlichen Amt lässt zwar die Grundrechtsfähigkeit des Amtswalters unberührt. Er muss sich aber die zur Erfüllung seines Amts notwendigen Beschränkungen gefallen lassen. Hierzu gehört insbesondere die Verpflichtung, diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus der Stellung des Amtswalters gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amtes ergeben (vgl. § 60 Abs. 2 BBG).
Dieses Mäßigungsgebot gilt für Beamte als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG, wobei es regelmäßig auf politische Äußerungen von Beamten bezogen wird. Es ist seit jeher die bekannte und anerkannte Richtschnur, um politische Betätigungen von Beamten im Dienst zu beurteilen (z.B. Plakette „Atomkraft Nein Danke“). Das Mäßigungsgebot muss aber gleichermaßen zum einen für weltanschaulich-religiöse Äußerungen und Betätigungen gelten, weil auch insoweit eine sachgerechte Erfüllung des Amtes Zurückhaltung erfordern kann. Zum anderen muss das Mäßigungsgebot entsprechend für andere Beschäftigte des Staates Anwendung finden, also insbesondere auch für RichterInnen.
Dieses Mäßigungsgebot kommt als Schranke für die Grundrechtsausübung im öffentlichen Dienst zum Tragen und kann deshalb Eingriffe in die Grundrechte der Religions- und Berufsfreiheit der Amtswalter rechtfertigen. Es erlaubt aber kein generelles Verbot religiöser (ebenso wie politischer) Betätigung im Dienst, sondern zielt auf eine dem Amt angemessene, auf das jeweilige Amt bezogene (Selbst‑)Beschränkung im Einzelfall. Für das Tragen eines islamischen Kopftuchs im öffentlichen Dienst folgt daraus, dass es grundsätzlich mit dem Mäßigungsgebot vereinbar ist. Etwas anderes gilt nur, wenn im Einzelfall die Betreffende in Wahrnehmung ihres Amtes für ihren Glauben werben würde oder durch ihr Auftreten andere zu beeinflussen versuchte (vgl. BVerfGE 138, 296 (337 Rn. 105)). Anders als das Neutralitätsgebot, dem als fundamentalem Strukturprinzip für den Staat prinzipiell Vorrang zukommt vor anderen Verfassungsgütern, ermöglicht das Mäßigungsgebot eine umfassende Güterabwägung ohne prinzipielle Vorrangregel. Ihm kommt in der Abwägung mit der Religions- und Berufsfreiheit nicht grundsätzlich Vorrang zu.
Fazit
Was bleibt nach dem Beschluss des BVerfG vom 14. Januar 2020? Das BVerfG hat mit der Aktivierung des Neutralitätsgebots für das Tragen des islamischen Kopftuchs durch eine Rechtsreferendarin einen falschen Pfad eingeschlagen. Es verkennt damit den Inhalt des Neutralitätsgebots, das kein „Zurechnungsverbot“ (s. aber BVerfG, Rn. 90), sondern ein Identifizierungsverbot ist. Staat und Staatsbedienstete sind unterschiedliche Rechtssubjekte. Religionsausübung durch Staatsbedienstete ist Grundrechtsausübung, die sich der Staat nicht a priori zu eigen macht. Er identifiziert sich nicht damit. Daher ist im Fall des Kopftuchs der Rechtsreferendarin das Neutralitätsgebot tatbestandlich nicht einschlägig.
Dieser Irrweg kann auch nicht dadurch korrigiert werden, dass das BVerfG das Neutralitätsgebot zur Abwägung mit den Grundrechten der Religions- und Berufsfreiheit der Referendarin stellt. Ein solcher Ansatz wäre nur zulässig, wenn dem Neutralitätsgebot bei der Abwägung prinzipiell Vorrang zukäme. Das führte dazu, dass die Glaubens- und Berufsfreiheit regelmäßig zurückträten, und zwar nicht nur im Fall der Rechtsreferendarin, sondern auch für Richterinnen und Staatsanwältinnen.
Der dogmatisch richtige Weg ist, als verfassungsimmanente Schranke der Glaubensfreiheit das Mäßigungsgebot (vgl. Art. 33 Abs. 5 GG) heranzuziehen. Es eröffnet die Möglichkeit einer umfassenden Güterabwägung ohne Vorrangregel und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Ein generelles Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen oder gar für Richterinnen und Staatsanwältinnen ist durch das Mäßigungsgebot nicht legitimiert und deshalb verfassungswidrig.
Bleibt zu hoffen, dass Karlsruhe in einer weiteren Entscheidung den eingeschlagenen Pfad des Neutralitätsgebots wieder verlässt und sich auf den Weg des Mäßigungsgebots begibt. Nur dann kann man jungen Musliminnen mit dem Wunsch, Richterin oder Staatsanwältin zu werden oder ein öffentliches Amt in der allgemeinen Verwaltung zu bekleiden, weiterhin zum Studium der Rechtswissenschaft raten.
Demnächst erscheint der Richter oder Staatsanwalt mit Parteiabzeichen im Gerichtssaal. Das gab es in Deutschland schon mal.
Politische Überzeugungen erfahren nach dem Konzept des Grundgesetzes freilich nicht den gleichen – sehr hohen! – Schutz wie religiöse Überzeugungen.
Sie bringen es auf den Punkt: Das Kopftuch verwischt diese Grenze, da es gerade kein rein religiöses Symbol, sondern (auch) eines der kulturellen Unterdrückung von Frauen darstellt. Dass ein Verfassungsgericht dies im Ergebnis nicht festzustellen vermag, zeigt die Problematik besonders anschaulich auf.
Eine Richterin mit Kopftuch, etwa weil diese entprechend tendenziös religiös tätig zu sein sucht, im Einzlfall gemäß einem Mäßigungsgebot, besonders aus laufenden Gerichtsverfahren, aus einem Richteramt entfernen zu wollen oder hier zu versuchen, auf solche Richterin mäßigend einzuwirken, kann sich eventuell “spaßig” gestalten. Dies besonders mit angesichts von grundgesetzlich garantiert geschützter richterlicher Unabhängigkeit.
Man muss die Entscheidung des BVerfG nicht teilen. Zum Kruzifix-Urteil sehe ich persönlich auch einen Widerspruch. Lösen würde ich persönlich den über eine Abkehr vom Kruzifix-Urteil, nicht umgekehrt. Aber das mag man so oder so sehen.
Problem ist: Das BVerfG in dieser Zeit zu einer Entscheidung über diese Frage zu zwingen, hat fast zwangsläufig zu dieser Entscheidung geführt.
Man stelle sich vor, die Klage zur Sterbehilfe wäre in einem Jahr mit mehreren Mordserien an Behinderten, Alten und kranken Kindern eingereicht worden. Parallel zum Verfahren hätte sich nur mit dem Thema Lebensschutz eine fundamental-religiöse Partei in mehreren Landtagen und dem Bundestag etabliert, die eine Mehrheitsbildung erheblich erschwert und damit den Fortbestand einer funktionierenden Demokratie gefährdet.
Schlichtweg der falsche Zeitpunkt.
—
Der Artikel geht von einer faktisch grenzenlosen Reichweite der Religionsfreiheit aus, die nur durch andere Grundrechte einschränkbar sei, nicht zur Aufrechterhaltung des Staatswesens.
Was ist denn mit einer Religion, die das Zahlen von Steuern ablehnt?
Der Anspruch des Staates auf Steuern ist kein Grundrecht – und könnte es auch nie sein. Nach der Linie des Artikels müsste dann die Steuerpflicht entfallen – wohl für alle Bürger, da das Steuerrecht in seiner Gesamtheit dann nichtig wäre.
—
“Wenn man mit dem BVerfG annimmt, dass das Tragen des Kopftuchs durch eine Rechtsreferendarin zum Schutz des Neutralitätsgebots für den Staat untersagt werden darf, könnte das Gleiche für Richterinnen und Staatsanwältinnen gelten. Das liefe auf ein „Berufsverbot“ hinaus.”
Für mich sieht das eher nach einer typischen Berufsausübungsregel aus. “Du darfst den Beruf ausüben, aber nur unter der Bedingung, dass Du bei Auftritt in der Öffentlichkeit das Kopftuch abnimmst.”
Wer dann seine Religiösität über die Berufswahl stellt, darf das ja gerne tun. Wer aus religiösen Gründen nicht töten möchte, sollte auch nicht Soldat werden. Wer staatliche Ordnung ablehnt, ist als Polizist nicht geeignet. Wer aus religiösen Gründen keine Schweine berühren möchte, ist als Veterinär nicht einsetzbar. Wer ohne seinen NPD-Button, ein umgehängtes Hakenkreuz oder das Nudelsieb auf dem Kopf nicht aus dem Haus gehen mag, ist für einige Funktionen im Staat schwerlich geeignet.
Sehr geehrter Leser, das GG kennt kein Opportunitätsgebot, genau so wenig sollten Richterinnen und Richter sich davon leiten lassen. Argumentativ sehr hilflos wirken auch Ihre zum Schluss angeführten Beispiele.
Eine pragmatisch-lösungsorientierte Frage, die an anderer Stelle leider nicht beantwortet worden ist:
Warum wäre “eine dem Amt angemessene, auf das jeweilige Amt bezogene (Selbst‑)Beschränkung im Einzelfall” denn hier nicht das Tragen einer Perücke oder Mütze, jedenfalls einer nicht symbolisch-religiösen Kopfbedeckung während der Sitzung? Das sollte für diejenigen Musliminnen, die von einer unbedingten religiösen Pflicht zur Bedeckung ihres Haars in der Öffentlichkeit ausgehen (was die meisten ja nicht tun – so viel zum vermeintlichen “Berufsverbot” für alle Musliminnen), ein tragbarer Kompromiss sein. Zumal der Anteil der Arbeitszeit einer Richterin oder Staatsanwältin, der im Gerichtssaal verbracht wird, bekanntlich klein ist.
Das ist eine religionswissenschaftliche Frage. Letztlich würde ein objektiver Dritter aber auch in der Perücke/Mütze ein Religionssurrogat sehen.
Zum Anteil der Arbeitszeit im Gericht: Auf der Grundlage des Urteils des BVerfG müsste man fragen, ob das Tragen des Kopftuchs nicht auch in den Amtszimmern untersagt werden kann. Zwar wäre dann die negative Religionsfreiheit im Regelfall nicht berührt. Die Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots bliebe aber unberührt; sie hängt nicht davon ab, ob ein Dritter die Identifizierung des Staates mit der Religionsausübung bemerkt.
Danke für die Antwort! Zu beiden Punkten ein Kommentar/eine Frage:
Eine objektive Dritte könnte m.E. in einer Perücke gar nichts und in einer neutralen Mütze auch schwerlich ein religiöses Symbol sehen. Warum soll das eine religionswissenschaftliche Frage sein? Es geht (mir) um Kompromissbereitschaft. Nach Ihrer Ansicht wäre das unter dem Mäßigungsgebot zu diskutieren.
Außerhalb des Sitzungssaals ist das „äußere Gepräge“ nicht geregelt und ergäbe sich nach den Maßstäben des BVerfG (Sie zitieren selbst die insoweit zentrale Rn. 90) keine Identifikation des Staats mit einem religiösen Symbol, oder?
Religionswissenschaftlich deshalb, weil m.E. zu klären wäre, ob das Tragen des Kopftuchs als nach außen sichtbares religiöses Zeichen wichtig ist. Und zur Perücke: Es ist doch gerade Ausdruck der im Grundgesetz geschützten Religionsfreiheit, seine Religion auch nach außen sichtbar auszuüben. Klar, beim Mäßigungsgebot kann das im Einzelfall eine Rolle spielen, das sehe ich auch so.
Zum Sitzungssaal: Ja genau, weil z.B. in der Schule der Staat das „äußere Gepräge“ nicht vorgebe und keine “formalisierte Situation” bestehe, sei dort Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs erlaubt. So versucht sich der 2. Senat von der Entscheidung des 1. Senats zum Kopftuch von Lehrerinnen abzusetzen, was mich nicht überzeugt.
Der Kommentar beruht m. E. teilweise auf unbegründeten Annahmen:
1. Weshalb sollte eine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots zwingend eine Identifizierung des Staates mit dem Verhalten des Amtsträgers voraussetzen? Warum sollte nicht bereits ein zurechenbares Verhalten genügen? Es wird in dem Kommentar lediglich behauptet, “Das Neutralitätsgebot darf insbesondere nicht von einem Identifizierungsverbot in ein Zurechnungsverbot umgedeutet werden.” Hierfür fehlt indessen jede Begründung.
2. Weshalb sollte eine Identifizierung nicht bereits durch eine Zurechnung erfolgen? Wenn dem Staat in einem derart formal geprägten, klassisch hoheitlichen Raum das Verhalten der Referendarin zugerechnet wird und er dies hin nimmt, identifiziert er sich damit auch.
Unabhängig davon stellt sich die rein praktisch-politische Frage, ob es wirklich wünschenswert und im Einklang mit dem Geiste der Verfassung wäre, wenn jeder Richter nach Belieben politische und sonstige Überzeugungen in der Robe zum Ausdruck bringen können sollte. Ein Richter mit massivem, 30 cm langem Kreuz sichtbar über der Robe? Mit Kreuztätowierung im Gesicht? Mit “refugees welcome/not welcome” ala Button? Freilich kann auf die besondere Bedeutung der Religionsfreiheit verwiesen werden, letztlich überzeugend erscheint eime solche Differenzierung in dem vorliegenden Kontext hingegen nicht.
Wenn ich den Beitrag zutreffend verstehe, liegt die zentrale Kritik der Autoren in folgender Aussage des Senats begründet:
“In diesem Satz zeigt sich die grundlegende Schwäche des Beschlusses des BVerfG: Es geht nicht um die Zurechnung an den Staat, sondern um die Identifizierung durch den Staat. Das BVerfG subsumiert nicht unter seinen selbst gestellten Obersatz.”
Man kann das aber auch anders sehen. Das BVerfG sagt in der zitierten Rn. 90 lediglich, dass sich die Verletzung des Identifizierungsverbots nur nach objektiven Kriterien bemisst. Es kommt auf den objektiven Betrachter an, dessen Grundrecht in dem zu betrachtenden Moment durch den Staat verletzt sein kann. Wie könnte der Staat das Identifizierungsverbot auch sonst überhaupt verletzen? Setzt Identifizierung nicht zwangsläufig immer das subjektive Verhalten einer natürlichen Person voraus, die für ihn hoheitliche Aufgaben (also auch: die Einhaltung eben jenes Verbotes) wahrnimmt? Der Beitrag beantwortet dies so:
“Würde der Staat das Tragen religiöser Symbole anordnen, ginge diese Maßnahme von ihm aus und berührte sie das Neutralitätsgebot.”
Eine Handlung ist aber eben gerade auch – und so verstehe ich das BVerfG – die Duldung, die Unterlassung, schlicht: die von außen als solche wahrzunehmende Identifizierung. Identifizierung setzt keine “Maßnahme”, sondern staatliches zurechenbares Verhalten voraus. Das aufgehängte Kruzifix, die getragene Burka, das tättowierte, religöse Symbol – all dies ist das Verhalten natürlicher Personen in Funktion “des Staates”. Staatshandeln kann nicht auf den Erlass von Maßnahmen reduziert werden.
Folgt man – wie ich es für richtig halte – der Kammer also in diesem Punkt, heißt das natürlich noch lange nicht, dass gleichsam zwingend eine Verletzung eben jenes Identifizierungsverbotes anzunehmen ist. Der Beitrag argumentiert m.E. aber am Kern der Sache vorbei.
Ich sehe das Problem eher in dem Nachweis dessen begründet, ob sich der Staat – aus Sicht des objektiven Betrachters – durch Duldung des Tragens eines Kopftuchs damit auch tatsächlich nach außen als solches wahrnehmbar damit identifiziert und den Betroffenen damit objektiv spürbar beeinträchtigt. Das kann nur empirisch untersucht werden. Ansonsten bleibt der objektive Betrachter – wie so oft – nur der subjektive Verfassungsrichter.
Der Hinweis auf das Mäßigungsgebot verfehlt gänzlich den Themenkreis des Urteils. Es geht hier nicht um politischen Aktivismus außerhalb der dienstlichen Tätigkeit, sondern um die Wahrung von Neutralität und Vertrauen in die Unabhängigkeit während der dienstlichen Tätigkeit.
Hierzu gibt § 39 “Wahrung der Unabhängigkeit” des Deutschen Richtergesetzes deutliche Hinweise:
“Der Richter hat sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird.”
Wie nun bei klarer Erkennbarkeit der Zugehörigkeit zu einer Religion, die Frauen diskriminiert (u.a. eben durch das Kopftuch), Andersgläubige diskriminiert und häufig in hohem Maße intolerant auftritt, die gebotene Unabhängigkeit nicht gefährdet sein soll, möge mir jemand überzeugend erklären.
Herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen. Zwischen dem Aufhängen des Kruzifix durch den Staat einerseits und der (individuellen) Grundrechtsausübung durch den Amtswalter andererseits ist von Verfassungs wegen zu unterscheiden. Nicht all das, was ein Staatsbediensteter macht, macht sich der Staat zu eigen; er identifiziert sich hiermit nicht, ungeachtet dessen, ob es sich um religiöse oder politische Betätigung handelt.
Das Tragen eines Kopftuches für sich genommen diskriminiert noch nicht Andersgläubige. Nur das konkreten Verhalten könnte gegen das Mäßigungsgebot verstoßen.
Leitsatz 8 des Beschlusses lautet:
“Angesichts der konkreten Ausgestaltung des verfahrensgegenständlichen Verbots kommt keiner der kollidierenden Rechtspositionen vorliegend ein derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, der Beschwerdeführerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechtsreferendariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren.”
Das heisst man überlässt die Entscheidung dem Gesetzgeber.
M.E. wird das Identifizierungsverbot vorliegend zu einseitig ausgestaltet. Eine Identifizierung ist für sich genommen ein sehr subjektiv geprägtes Element. Und genau dies wird hier auch besonders hervorgehoben, in dem stets darauf abgestellt wird, dass sich der Staat etwaiges Handeln zu eigen macht. Jedoch ist diese Frage nicht allein aus Sicht des Staates zu beurteilen. Was sich der Staat zu eigen macht, darf nicht allein auf seiner Einschätzung beruhen. Dies wird weder seiner Stellung gegenüber dem Bürger noch dem Wesen des Neutralitätsgebotes gerecht. Strikt davon auszugehen, das Neutralitätsgebot sei ausschließlich ein Identifizierungsverbot, macht eben jenes obsolet.
Zu Recht verweist das BVerfG daher auf die Zurechnung. Das Verhältnis des Staates zu bestimmten Religionen und Weltanschauungen darf nicht ausschließlich durch seine eigene Einschätzung und “Identifizierung” festgelegt werden. Dies hätte eine Privilegierung des Staates zur Folge, die ihn zu stark von seinem Souverän entfernen würde; ihn unantastbar für das Verhalten seiner Bediensteten machen würde.
Die Objektivität des staatlichen Handelns durch einen Grundrechtsträger muss daher ausreichend gewürdigt werden. Umso stärker hat dies zu erfolgen, je mehr das staatliche Auftreten durch den Grundrechtsträger geprägt wird. Genau dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung getan und genau dies unterscheidet den Fall der Rechtsreferendarin von den der Lehrerin an einer Schule.
Die hier vorgetragene Auffassung, das Identifizierungsverbot dürfe nicht zu einem Zurechnungsverbot umgedeutet werden, verkennt die Bedeutung des Neutralitäts”gebotes”. Die Einschätzung dessen, was als geboten zu erachten ist, ist stets auf eine objektive Betrachtung zu stützen. Dies lediglich von einer subjektiven “Identifizierung” abhängig zu machen, führt zu einem zu restriktiven Verständnis des Neutralitätsgebotes. Insoweit muss bei der Frage, ob eine Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung vorliegt – ob er sich also das Handeln seiner Bediensteten zu eigen macht – auch das “äußere Gepräge” im Rahmen einer Zurechnung berücksichtigt werden. Zu berücksichtigen ist dabei auch, wie sich der Staat gegenüber einem solchen Verhalten positioniert; es schlichtweg duldet oder aber um eine neutralitätswahrende Distanz bemüht. Hierbei lediglich auf aktive Maßnahmen wie das Aufhängen eines Kruzifixes abzustellen, erscheint indes zu restriktiv. Aus diesem Grund ging das BVerfG in seiner Entscheidung auch zutreffend von einer Verletzung des Identifizierungsverbotes aus.
Ungeachtet dessen erscheint das Gleichsetzen von Neutralitätsgebot mit Identifizierungsverbot m.E. als nicht sachgerecht. Das Identifizierungsverbot bildet vielmehr eine Ausprägung des Neutralitätsgebotes, welches durch die Zurechnung – als objektives Element – ergänzt wird. Es wäre mithin neben einer subjektiven Identifizierung festzustellen, ob der Eindruck erweckt worden ist, dass sich der Staat das Handeln seiner Bediensteten zu eigen gemacht hat. Eine derartige Zurechnung eröffnet zudem die Möglichkeit einer Abwägung. Je stärker ein Grundrecht auf den betroffenen Grundrechtsträger “zugeschnitten” ist, umso höher sind die Anforderungen an eine Annahme zu stellen, dass sich der Staat das geschützte Verhalten zu eigen macht. Insofern ist auch nicht auf eine ausschließliche Anwendung des Mäßigungsgebotes abzustellen.
Der Verfasserin müsste zuallererst angeraten werden, ihre Ausführungen übungshalber auf die „simple“ Frage einzudampfen: „Sind Gebote der Sharia Religion oder Politik?“
Jenseits „rein“ verfassungsrechtlicher Probleme (so diese Reinheit denn existieren sollte) ist Basiswissen auf diesem Gebiet sehr hilfreich.
Buchempfehlung dazu: Susanne Schröter (Uni Ffm), Politischer Islam, 2019, Punkt 3 u. 4 auf S. 75-78:
(A n f a n g eines strategisch klug kalkulierten P r o z e s s e s ) : „In der ersten Phase fordern Islamistinnen, den Schleier in bestimmten Einrichtungen tragen zu dürfen …“ (S. 75 unten).
Wie es dann weitergeht, die G e w a l t (staatliche mit Männerhorden oder nichtstaatliche mit eben denselben) die F r e i w i l l i g k e i t ersetzt, wie schon in manchen Vororten in Belgien und Paris, liest sich schnell und erhellend.
Es wäre zu hoffen, dass sich das dort dargelegte Wissen auch unter Juristen verbreitet, damit klar wird, wo die MinenlegerInnen im Felde der heftig (und kalkuliert) eingeforderten verfassungsmäßigen Freiheit und Gleichheit sind.
… Sollte er Recht behalten, der Literatur-Nobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende Imre Kertész, wenn er schreibt (in „Letzte Einkehr“): „Es endet immer auf gleiche Weise: Die Zivilisation erreicht ein Stadium der Überreife, wo sie sich nicht nur nicht mehr verteidigen kann, sondern auf eine scheinbar unbegreifliche Art auch die eigenen Feinde züchtet.“?
Diese Zivilisation, aufgewachsen im sozialpolitisch auswattierten Wohlstand, sollte den Erfahrungsschatz derer, die zwei Totalitarismen überlebt haben, nicht unterschätzen. Sie wussten, dass Naivität süß, aber tödlich ist. Ihr Sensorium für Gefahren, selbst solchen in statu nascendi, war nicht aus Gründen politmodischer „Chic“-lichkeiten richtungsgebunden.
Wenn ich den Artikel richtig verstanden habe, dann halten sich hier zwei Jura-Professoren für schlauer als das BVerfG.
Sehr bescheiden, in der Tat… 😉
BVerfG- und BGH-Entscheidungen sind für Profs generell von keiner wissenschaftlichen Relevanz.
Was noch zu beachten ist: Einige Religionen wie bspw. das Judentum und auch der Islam verfügen über eigene Rechtsquellen, die so im Christentum nicht existieren. Das macht keine Religion besser oder schlechter, ist in diesem Zusammenhang aber wichtig.