03 March 2020

Fehlverständnis des Neutralitätsgebots für den Staat

Zur Entscheidung des BVerfG zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen

Der 2. Senat des BVerfG hat mit Beschluss vom 14. Januar 2020 entschieden, dass ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen bei bestimmten Tätigkeiten verfassungsgemäß ist. Damit verkennt das BVerfG das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot für den Staat, das ein Identifizierungsverbot ist. Staat und Staatsbedienstete sind unterschiedliche Rechtssubjekte und Religionsausübung durch Staatsbedienstete ist Grundrechtsgebrauch. Den Grundrechtsgebrauch des Staatsbediensteten macht sich der Staat nicht a priori zu eigen. So auch im Fall des Kopftuchs der Rechtsreferendarin: Der Staat hat das Tragen des Kopftuchs weder veranlasst noch macht er es sich anderswie zu eigen. Er identifiziert sich nicht damit. Das BVerfG bringt das Neutralitätsgebot in Stellung, das jedoch tatbestandlich keine Anwendung findet. Die Schranke für die Religionsausübung für Staatsbedienstete findet sich vielmehr im verfassungsrechtlichen Mäßigungsgebot, das ein generelles Kopftuchverbot nicht rechtfertigen kann.

Rechtfertigungsgründe für den Eingriff in die Religionsfreiheit der Rechtsreferendarin

Ein Verbot für Rechtsreferendarinnen, religiöse Symbole oder Kleidungsstücke wie das „islamische Kopftuch“ bei Tätigkeiten zu tragen, bei denen sie als Repräsentantinnen des Staates wahrgenommen werden können, bewirkt einen Eingriff in ihre Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), der nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden kann. Als kollidierendes Verfassungsrecht sieht das BVerfG an: das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität, den Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die negative Religionsfreiheit Dritter. Im Zentrum steht das Neutralitätsgebot, von dessen Beeinträchtigung die Betroffenheit der beiden anderen verfassungsrechtlichen Schutzgüter abhängt.

Verkennung des Neutralitätsgebots

Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität ist ein verfassungsrechtliches Staatsfundamentalprinzip der Neuzeit. Damit der Staat Heimstatt aller BürgerInnen sein kann, ist er zu unbedingter Neutralität in weltanschaulich-religiöser Hinsicht verpflichtet. Das Neutralitätsgebot fordert zwar keine strikte Trennung von Staat und Kirche, verbietet dem Staat aber, sich mit einer bestimmten Religion oder Reli­gions­gemeinschaft zu identifizieren. Das Neutralitätsgebot ist ein Identifizierungsverbot. Das ist ständige Rechtsprechung beider Senate des BVerfG, was der 2. Senat in seinem Beschluss vom 14. Januar 2020 zutreffend betont (Rn. 87 f.).

Wenn man den Beamten und Angestellten des Staates, wie es früher vertreten wurde, Grundrechtssubjektivität absprechen würde, wäre jede Religionsausübung durch Staatsbedienstete eine Handlung des Staates, die das Neutralitätsgebot verletzte. Eine solche Gleichsetzung von Staat und Staatsdienern ist aber längst überwunden. Seit langem steht fest, dass die beim Staat Beschäftigten eigenständige Rechtssubjekte sind und sich auf Grundrechte berufen können. Dies stellt auch der 2. Senat des BVerfG nicht infrage, sondern weist ausdrücklich auf die Grundrechtsberechtigung der Rechtsreferendarin hin (Rn. 79).

Weil die für den Staat tätigen Angestellten und Beamten eigenständige Rechtssubjekte mit Grundrechtsberechtigung sind, kann die grundrechtlich geschützte Religionsausübung durch Staatsbedienstete nicht mit dem Handeln des Staates gleichgesetzt werden. Es handelt sich um Grundrechtsausübung eines Rechtssubjekts, das vom Rechtssubjekt Staat zu trennen ist.

Dementsprechend ist der Kruzifix-Fall (s. BVerfGE 93, 1) anders zu behandeln als der Kopftuch-Fall und die weiteren Fälle des Tragens religiöser Symbole und Kleidungsstücke durch Staatsbedienstete. Installiert der Staat in seinen Einrichtungen religiöse Symbole, liegt religiöse Betätigung des Staates vor, die gegen das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot verstößt. Anders liegen die Dinge im Kopftuch-Fall. Hier geht es um die Grundrechtsausübung durch einen – vom Staat zu unterscheidenden – Rechtsträger, einen Grundrechtsträger. Die Grundrechtsausübung des Amtsträgers ist nicht gleichzusetzen mit dem Handeln des Staates.

Diese grundlegende Unterscheidung zwischen den beiden Rechtssubjekten, zwischen Staat und Staatsbedienstetem, trägt auch die Entscheidung des 1. Senats des BVerfG zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen in staatlichen Schulen (BVerfGE 138, 296 (336 Rn. 104 und 340 Rn. 112)). Der 1. Senat weist zu Recht daraufhin, dass das Tragen des Kopftuchs durch Lehrerinnen Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit ist. Indem der Staat dies hinnimmt, macht er sich die Religionsausübung nicht zu eigen. Er identifiziert sich nicht mit der Religionsausübung der Lehrerinnen (BVerfGE 138, 296 (336 Rn. 104 und 340 Rn. 112: „keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben“)).

Von diesen Grundsätzen geht auch der 2. Senat des BVerfG in seinem Beschluss vom 14. Januar aus (Rn. 89). Er macht allerdings einen vermeintlichen Unterschied zwischen der Schule und dem Gericht aus. Anders als in der Schule nehme der Staat beim Gericht auf das „äußere Gepräge“ Einfluss, etwa durch Vorgaben zum Tragen von Roben, die Gestaltung des Gerichtssaals, das besondere Eintreten des Spruchkörpers in den Sitzungssaal sowie das Erheben bei wichtigen Prozesssituationen (Rn. 90). Wegen dieser „formalisierten Situation“ sieht der 2. Senat in der Religionsausübung einer Richterin oder Staatsanwältin im Gericht eine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots. Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden“ (Rn. 90).

In diesem Satz zeigt sich die grundlegende Schwäche des Beschlusses des BVerfG: Es geht nicht um die Zurechnung an den Staat, sondern um die Identifizierung durch den Staat. Das BVerfG subsumiert nicht unter seinen selbst gestellten Obersatz. In Rn. 88 seines Beschlusses heißt es, dass es dem Staat nach dem Neutralitätsgebot untersagt ist, „sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen … mit einem bestimmten Glauben … (zu) identifizieren“ (Hervorhebung nur hier). Das „äußere Gepräge“ und die „formalisierte Situation vor Gericht“, auf die sich der 2. Senat beruft, sind „von ihm ausgehende … Maßnahmen“. Würde der Staat das Tragen religiöser Symbole anordnen, ginge diese Maßnahme von ihm aus und berührte sie das Neutralitätsgebot. Das hier in Rede stehende Kopftuch ist aber keine Maßnahme, die vom Staat ausgeht. Es wird nicht vom Staat angeordnet, sondern beruht auf einer autonomen Entscheidung der Grundrechtsträgerin. Zwar ist das Tragen eines Kopftuchs durch Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen eine dem Staat „zuzurechnende Maßnahme…“. Darin liegt aber keine Identifizierung des Staates mit dem Kopftuch als religiösem Symbol. Eine Zurechnung von Maßnahmen der Staatsbediensteten an den Staat bewirkt für sich genommen noch keine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots, sondern es muss hinzukommen, dass der Staat sich mit der Maßnahme identifiziert (Beschluss, Rn. 88: „identifizieren“). Eine solche Identifizierung mit der Religionsausübung (Kopftuch) von Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen durch den Staat liegt aber nicht vor. Insoweit bestehen keine Unterschiede zwischen der Religionsausübung von Staatsbediensteten im Gericht und in der Schule (so aber Rn. 90).

Dass sich der Staat die Religionsausübung seiner Angestellten und Beamten nicht zu eigen macht und sich mit ihr also nicht identifiziert, zeigt die Parallele (partei-)politischer Äußerungen von Beschäftigten des Staates während ihrer Amtsausübung. Politische Betätigungen (z.B. das Tragen einer Plakette „Atomkraft Nein Danke“ oder von Symbolen einer politischen Partei) des Amtswalters während des Diensts macht sich der Staat auch nicht zu eigen. Verbote solcher politischen Äußerungen können unstreitig nicht unter Berufung auf das verfassungsrechtliche Gebot weltanschaulich-politischer Neutralität des Staates gerechtfertigt werden. Sie lassen sich nur im Einzelfall durch das verfassungsrechtliche Mäßigungsgebot legitimieren, das als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums Verfassungsrang hat (Art. 33 Abs. 5 GG) (vgl. hierzu noch unten).

Noch deutlicher wird die fehlende Identifizierung des Staates mit der Religionsausübung seiner Beschäftigten, wenn man den Blick auf die Religionsausübung von Beschäftigten privater Unternehmen lenkt. Würde sich der Staat mit dem Kopftuch der Rechtsreferendarin, Richterin oder Staatsanwältin identifizieren, gälte Gleiches für den privaten Arbeitgeber in Bezug auf ein islamisches Kopftuch seiner Beschäftigten. Im horizontalen Grundrechtsverhältnis müsste die negative Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) des Arbeitgebers betroffen sein. Das gälte jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber auf das „äußere Gepräge“ seiner Beschäftigten Einfluss nähme (z.B. durch Firmenkleidung). Eine Beeinträchtigung der negativen Glaubensfreiheit des Arbeitgebers liegt aber ersichtlich fern. Es ist ausschließlich die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Arbeitgebers betroffen (vgl. EuGH, NZA 2017, 373 (375): „Der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art. 16 der Charta anerkannt ist …“).

Im Ergebnis gilt somit, dass ein vom Staat vorgegebenes „äußeres Gepräge“ und die „formalisierte Situation vor Gericht“, auf die sich der 2. Senat beruft, keine andere Beurteilung des Kopftuchs von Staatsbediensteten im Gericht erlaubt als in der Schule. Hier wie dort ist zwischen der Grundrechtsausübung der Beschäftigten einerseits und dem Staat andererseits zu differenzieren. Der Staat macht sich die Grundrechtsausübung seiner Bediensteten nicht zu eigen und identifiziert sich nicht mit ihr. Das Neutralitätsgebot ist in beiden Fällen tatbestandlich nicht einschlägig. Das Neutralitätsgebot darf insbesondere nicht von einem Identifizierungsverbot in ein Zurechnungsverbot umgedeutet werden. Die Zurechnung genügt für sich genommen nicht für eine Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots. Hinzutreten muss die Identifizierung des Staates mit der Religionsausübung, woran es beim Kopftuch der Rechtsreferendarin, Richterin und Staatsanwältin ebenso fehlt wie beim Kopftuch der Lehrerin.

Keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Justiz

Als weiteren Grund mit Verfassungsrang zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit durch das Kopftuchverbot nennt der 2. Senat des BVerfG die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (Rn. 91 f.). Das irritiert deswegen, weil an anderer Stelle des Beschlusses bezogen auf die „Garantie der richterlichen Unparteilichkeit“ (zu Recht) ausdrücklich steht, dass das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst für sich genommen nicht geeignet ist, Zweifel an der Objektivität der betreffenden RichterInnen zu begründen (Rn. 99). Ob neben der „Garantie der richterlichen Unparteilichkeit“ überhaupt noch Platz ist für die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als gesondertem Verfassungsgut, ist fraglich.

Dass das BVerfG die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als beeinträchtigt ansieht, mag darauf zurückzuführen sein, dass es von einer Betroffenheit des Neutralitätsgebots ausgeht. Und in der Tat: Identifizierte sich der Staat mit der Religionsausübung seiner Beschäftigten (Tragen des Kopftuchs) und wäre deshalb das Neutralitätsgebot berührt, wäre wohl auch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (sowie die Unparteilichkeit der Richter) betroffen. Ein weltanschaulich-religiös nicht neutraler Staat wäre weder Heimstatt aller BürgerInnen noch würde er seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zu einer objektiven und unabhängigen Justiz gerecht. In diesem Sinne lässt sich auch der 2. Senat des BVerfG verstehen (Rn. 92: „Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten“; „Vertrauen… in die Neutralität der Justiz“).

Da jedoch das Neutralitätsgebot des Staates beim Kopftuch der Rechtsreferendarin, Richterin und Staatsanwältin nicht einschlägig ist, ist auch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht betroffen.

Keine Betroffenheit der negativen Religionsfreiheit Dritter

Anders als das BVerfG meint, berührt das Kopftuch der Rechtsreferendarin auch nicht die negative Religionsfreiheit Dritter. Der 2. Senat begründet den Eingriff in die negative Glaubensfreiheit maßgeblich mit der Unausweichlichkeit der Situation im Gerichtssaal (Rn. 95). Die Unausweichlichkeit der Situation ist dann maßgebliches Kriterium für die Betroffenheit der negativen Religionsfreiheit, wenn der Staat religiöse Symbole – wie im Kruzifix-Fall – selbst anordnet. In diesem Fall kommt es für einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit darauf an, ob die Betroffenen über eine Ausweichmöglichkeit verfügen. Dagegen liegt bei einer Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots – etwa durch das Anbringen von Kruzifixen in bayerischen Behörden – ein Verfassungsverstoß unabhängig davon vor, ob der Einzelne die Möglichkeit des Ausweichens hat. Das Bestehen einer Ausweichmöglichkeit ist nur von Bedeutung für die Frage subjektiver Abwehransprüche aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.

Die Unausweichlichkeit der Situation spielt für die Betroffenheit der negativen Religionsfreiheit hingegen keine Rolle, wenn es wie beim Kopftuch um die Religionsausübung eines Amtsträgers (Grundrechtsträgers) geht. Dementsprechend hat das BVerfG bezogen auf das Tragen eines religiösen Kopftuchs durch Lehrerinnen in staatlichen Schulen entschieden, dass die Einzelnen „kein Recht darauf (haben), von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen … und religiösen Symbolen verschont zu bleiben“ (BVerfGE 138, 196 (336 Rn. 104)). Das BVerfG betont ausdrücklich, dass dies auch in unausweichlichen Situationen gilt, in denen sich SchülerInnen befinden. Solange die Religionsausübung nicht „auf Veranlassung der Schulbehörde“, sondern aufgrund einer eigenen Entscheidung“ der LehrerIn erfolgt, haben die SchülerInnen kein Recht auf Schutz vor Konfrontation mit Andersgläubigen, sodass ihre negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht betroffen ist (BVerfGE 138, 196 (336 Rn. 104)).

Das ist im Gerichtssaal nicht anders. Der 2. Senat des BVerfG müht sich zwar, Unterschiede zwischen der Schule und dem Gerichtssaal herauszuarbeiten. Solche Unterschiede existieren aber nicht. Das BVerfG meint, dass sich in der Schule „gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll“, während „der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber“ trete (Rn. 95). Zum einen erschließt sich jedoch nicht, weshalb die Lehrerschaft „gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll“, die Richterschaft hingegen nicht. Zum anderen handelt der Staat auch in der Schule hoheitlich, was sich u.a. an der Schulpflicht, der Notengebung und den Versetzungsentscheidungen zeigt.

Da in beiden Bereichen, dem Gericht und der Schule, eine Situation der Unausweichlichkeit für die Verfahrensbeteiligten bzw. SchülerInnen besteht, hätte der 2. Senat des BVerfG auf der Grundlage seiner Annahme, dass die Unausweichlichkeit der Situation maßgeblich ist für die Beeinträchtigung der negativen Glaubensfreiheit Dritter, das Plenum des BVerfG anrufen müssen (s. § 16 Abs. 1 BVerfGG).

Konsequenz: Kopftuch- und Berufsverbot (auch) für Richterinnen und Staatsanwältinnen?

Unmittelbar betrifft der Beschluss des BVerfG zwar „nur“ eine Rechtsreferendarin, die zudem im konkreten Fall nicht gehindert war, ihr Referendariat „vollwertig abzuleisten“ (Rn. 105). Dass sie vorgesehene Regelleistungen nicht mit Kopftuch erbringen durfte, hatte keinen Einfluss auf ihre Bewertung. Gleichwohl hat der Beschluss Bedeutung weit über den Fall hinaus. Seine eigentliche Sprengkraft liegt in seinen Auswirkungen auf die klassischen juristischen Berufe der Richterin und Staatsanwältin. Wenn man mit dem BVerfG annimmt, dass das Tragen des Kopftuchs durch eine Rechtsreferendarin zum Schutz des Neutralitätsgebots für den Staat untersagt werden darf, könnte das Gleiche für Richterinnen und Staatsanwältinnen gelten. Das liefe auf ein „Berufsverbot“ hinaus.

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das BVerfG dem Neutralitätsgebot ebenso wie den weiteren mit den Grundrechten der Referendarin kollidierenden Verfassungsgütern (Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, negative Religionsfreiheit Dritter) keine absolute Geltung beimisst. Vielmehr verlangt das BVerfG eine umfassende Abwägung zwischen diesen drei Verfassungsgütern einerseits und den Grundrechten der Betroffenen (positive Glaubensfreiheit, Berufsfreiheit) andererseits (Rn. 90, 101 f.). Im Rahmen einer solchen Abwägung wäre zu beachten, dass ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Staatsanwältinnen das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ungleich stärker beeinträchtigte als ein Kopftuchverbot für die in Ausbildung befindliche und daher nur vorübergehend und lediglich in einzelnen Tätigkeiten betroffene Rechtsreferendarin. Daraus könnte folgen, dass ein „Berufsverbot“ für Richter­innen und Staatsanwältinnen unverhältnismäßig wäre. Auf der anderen Seite wären allerdings auch die kollidierenden Schutzgüter wie namentlich das Neutralitätsgebot durch ein Kopftuch von Richterinnen und Staatsanwältinnen deutlich stärker betroffen als durch ein Kopftuch von Rechtsreferendarinnen. Denn das klassisch-hoheitliche Auftreten der Justiz mit besonderer „Beeinträchtigungswirkung“, dem das BVerfG besondere Bedeutung zumisst (Rn. 95), manifestiert sich vor allem in der Ausübung von Staatsgewalt durch Richterinnen und Staatsanwältinnen und nicht so sehr im Handeln von Rechtsreferendarinnen, die nur punktuell und vorübergehend in einzelnen, einfach gelagerten Fällen unter der Aufsicht ihrer AusbilderInnen im Gerichtssaal zum Einsatz kommen.

Hinzu kommt: Hält man das Neutralitätsgebot – wie das BVerfG – für einschlägig, ließe sich mit gutem Grund an der Eignung (s. Art. 33 Abs. 2 GG) muslimischer Bewerberinnen für Staatsämter wie die Richter- und Staatsanwaltschaft zweifeln. Ebenso wie BewerberInnen, die sich nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung bekennen, für den öffentlichen Dienst ungeeignet sind, könnte die Eignung von BewerberInnen für den Staatsdienst bei mangelndem Bekenntnis zum Neutralitätsgebot fehlen (vgl. auch BVerfGE 108, 282 (305 Rn. 53) bezogen auf die Absicht einer Lehrerin, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen). Das Neutralitätsgebot ist ein Strukturprinzip unseres Verfassungsstaates, zu dem sich jeder Amtswalter ebenso bekennen muss wie zur verfassungsmäßigen Ordnung.

Schließlich: Folgte man dem BVerfG darin, dass das Neutralitätsgebot ohne Weiteres einer Abwägung mit anderen Verfassungsgütern wie der Religions- und Berufsfreiheit zugänglich ist, ohne dass ihm grundsätzlich Vorrang zukommt, würde die besondere Bedeutung und der herausragende Stellenwert des Neutralitätsgebots verkannt. Die Trennung von Staat und Religion, der säkulare Staat, ist ein Strukturprinzip der Neuzeit. Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität ist ein Fundamentalprinzip des Grundgesetzes. Der Staat kann nur dann Heimstatt aller BürgerInnen sein, wenn er sich im weltanschaulich-religiösen Bereich strikt neutral verhält und weder bestimmte Bekenntnisse privilegiert noch diskriminiert (Rn. 87 mit weiteren Nachweisen; zuletzt grundlegend Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, 2018, S. 95 ff.). Das Neutralitätsgebot hat eine elementare Befriedungsfunktion, es dient dem inneren (und äußeren) Frieden. Mit Blick auf diesen besonderen Stellenwert des Neutralitätsgebots als elementarem Strukturprinzip unserer Verfassung erscheint es in hohem Maße zweifelhaft, es ohne Weiteres zur Abwägung mit der Glaubens- und Berufsfreiheit des Einzelnen zu bringen. Eine solche Abwägung ohne prinzipiellen Vorrang des Neutralitätsgebots führte dazu, dass es bei besonderem Gewicht der Religions- und Berufsausübung im Einzelfall zurücktreten müsste. Ihm käme kein besonderer Rang in der Abwägung mit der Glaubens- und Berufsfreiheit zu, sondern diese Verfassungsgüter stünden sich grundsätzlich gleichrangig gegenüber. Das Neutralitätsgebot würde dadurch nur partiell und einzelfallabhängig verwirklicht werden. Das aber würde seinem Stellenwert als Struktur- und Elementarprinzip der Verfassung nicht gerecht. Das Neutralitätsgebot ist kein beliebiges Gut von Verfassungsrang, sondern ein elementares Strukturprinzip, dem in der Abwägung mit anderen Verfassungswerten besonderes Gewicht zukommt.

Dogmatisch richtiger Weg: Mäßigungsgebot als Schranke der Religions- und Berufsfreiheit

Auch wenn für das Kopftuch von Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen das Neutralitätsgebot ebenso wenig einschlägig ist wie die vom BVerfG genannten anderen Schutzgüter (Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, negative Religionsfreiheit Dritter), heißt das nicht, dass der Religionsausübung von Beamten und Angestellten des Staates keine Grenzen gesetzt sind. Anders als bei der Grundrechtsausübung im privaten Bereich unterliegt der Beschäftigte des Staates bei der Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes einem verfassungsrechtlichen Mäßigungsgebot. Die Ausübung eines öffentlichen Amts dient nicht der Entfaltung der individuellen Freiheit des Amtswalters, sondern der Erfüllung der mit dem Amt verbundenen öffentlichen Aufgabe. Die Betrauung mit einem öffentlichen Amt lässt zwar die Grundrechtsfähigkeit des Amtswalters unberührt. Er muss sich aber die zur Erfüllung seines Amts notwendigen Beschränkungen gefallen lassen. Hierzu gehört insbesondere die Verpflichtung, diejenige Mäßigung und Zurückhal