04 November 2016

Feinde des Volkes?

(c) J. Triepke, CC BY 2.0

(c) J. Triepke, CC BY 2.0

Man reibt sich die Augen: Da fällt im Mutterland der parlamentarischen Demokratie ein Gericht ein Urteil, wonach die Entscheidung über den Brexit nicht etwa Her Majesty’s Government per “royal prerogative”, sondern die Volksvertretung zu fällen hat, das im Vereinigten Königreich souveräne Parlament. Was, so sollte man meinen, ist demokratisch, wenn nicht das?

Wer das glaubt, hat die Rechnung ohne die britische Boulevardpresse und ohne die Hardline-Brexiteers unter den Tory-Abgeordneten gemacht:

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Enemies of the People: An dieser Diktion hätte Josef Stalin seine helle Freude gehabt.

Aber jenseits solcher 30er-Jahre-Reminiszenzen scheint es mir zu kurz gesprungen, dieses Phänomen allein auf die Verkommenheit der britischen Boulevardpresse und der Tory-Backbencher zu reduzieren. Da geht etwas Grundlegenderes vor. Und zwar nicht allein im Vereinigten Königreich. Sondern im gesamten westlichen demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsraum.

Politische Richter

In Polen erleben wir zurzeit live und in Farbe, wie prekär die Position der Justiz schnell werden kann, wenn sie die Autorität für sich beansprucht, Verfassungsfragen den politischen Mehrheiten aus der Hand zu nehmen und nach Rechtsmaßstäben per Gerichtsverfahren zu beantworten. Sie kann jederzeit selbst als politischer Akteur gebrandmarkt werden, Richter als Angehörige einer imaginierten oder auch realen Elite, die Machtstrukturen bedient, auf dass der wahre Wille des Volkes ungehört und unbefolgt bleibe. Gegen diesen genuin politischen Vorwurf kann man sich als Richter kaum wehren. Wer es doch versucht, wie es der polnische Verfassungsgerichtspräsident Andrzej Rzepliński mit bewundernswertem Mut und enormem Stehvermögen getan hat, der gräbt sich nur immer tiefer in das Loch hinein, das ihm seine Gegner geschaufelt haben. Mit jedem Interview, mit jeder öffentlichen Rede bestätigt er nur, was seine Gegner ohnehin behaupten: Der Mann kämpft einen Kampf, und der hat mit Recht nichts zu tun. Der ist politisch.

In den USA gibt es diese Debatte um Judicial Activism und die Politisierung des Supreme Court schon seit vielen Jahrzehnten. Die Justiz versucht sich dort zu schützen, indem sie sich Zurückhaltung auferlegt und für breite Teile des politischen Geschehens per “political question doctrine” von vornherein für unzuständig erklärt. Aber das hilft nur begrenzt. Jeder weiß genau, welche Richter liberal und welche konservativ sind, und nur weil Justice Kennedy mal mit den einen, mal mit den anderen stimmt, ist nicht immer schon an den Fingern abzählbar, wie politisch heiß umkämpfte Streitigkeiten ausgehen. Das ist schon lange so und hat dem Standing des Supreme Court im Land wie international nicht gut getan.

Aber in jüngster Zeit hat die Debatte eine neue Qualität angenommen. Republikanische Senatoren, darunter “moderate” Schwergewichte wie John McCain, haben angekündigt, jede Nominierung von Hillary Clinton, sofern sie Präsidentin wird, blockieren zu wollen. Lieber bleibt die Stelle des vor einem Jahr verstorbenen Richters Antonin Scalia für ein halbes Jahrzehnt oder noch länger unbesetzt, als dass der gewählten Democrats-Präsident_in erlaubt wird, dem liberalen Teil der Richterbank ein Übergewicht zu verschaffen. Es gibt sogar Stimmen in den USA, die fordern, überhaupt keine neuen Richter mehr zu nominieren und das Gericht von neun auf sechs Richter_innen herunterzuhungern. Solange Scalias Stelle unbesetzt ist, hat keine Seite eine Mehrheit, und das Gericht ist strukturell daran gehindert, mit Präzedenzurteilen für Rechtseinheitlichkeit im Lande zu sorgen. Was die republikanischen Hardliner nicht stört, im Gegenteil: wenn man gegen “judicial activism” ist, dann ist das doch prima, wenn der Supreme Court einfach mal für eine Weile die Klappe hält.

In Deutschland gehört der Respekt vor der Verfassungsgerichtsbarkeit sozusagen zur konstitutionellen DNA. Aber auch wir sind gegen Genmutationen nicht gefeit. Als die Linken-Parteichefin Katja Kipping neulich, als Karlsruhe ihrem Eilantrag gegen CETA nicht stattgeben wollte, anfing von “Klassen-Justiz” zu faseln, ruderte sie schnell wieder zurück. Aber wir haben schon verstanden.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts balanciert selbst auf einem gefährlichen Grad, wenn er bei Themen wie der Eurokrise versucht, dem angeblich im politischen Diskurs zu wenig gehörten “Willen des Volkes” ein Forum zu bieten, und damit Erwartungen an seine Fähigkeit weckt, politisch umkämpfte Streitfragen ex cathedra zu klären, die er niemals erfüllen kann.

Wie eine Sandburg bei Flut

Es ist aber nicht nur die (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit als Institution, die unterspült wird im Augenblick. Es ist die Verfassungsstaatlichkeit selbst. Und mit ihr das Vertrauen darin, dass es dauerhaft möglich ist, Frieden und Freiheit durch Verfassungsrecht zu garantieren.

Ich bin, wie wohl die allermeisten Leser_innen dieses Blogs, überzeugt davon, dass politische Macht einen konstitutionellen Rahmen braucht, der ihr Form und Legitimität gibt und sicher stellt, dass Macht nicht dazu missbraucht wird, auf denjenigen, die der Macht irgendwie im Weg sind, herumzutrampeln. Ich bin überzeugt davon, dass der Wille eines Volkes, mit sich selbst identisch zu sein, in Tyrannei mündet, wenn er sich nicht rechtlichen Bindungen unterwirft und in rechtliche Institutionen kanalisieren lässt. Ich bin überzeugt davon, dass rechtliche Verfasstheit buchstäblich konstitutiv ist für Demokratie überhaupt.

Diese Überzeugung wird erschüttert. Auf der ganzen Welt. Das Volk ist frustriert und desillusioniert und findet, zumeist völlig zu Recht, dass das politische System nicht leistet, was es leisten soll, dass viel zu viele Feedbackschleifen darin eingebaut sind, die die Mächtigen immer mächtiger und die Ohnmächtigen immer ohnmächtiger machen. Die rechtlichen Bindungen sind schuld, findet das Volk. Die Diskriminierungsverbote und supranationalen Vorschriften, sagen die einen. Die Freihandelsverträge und Investitionsschutzregeln, sagen die anderen. Nichts darf man mehr, dauernd kommt irgend eine Jurist_in und sagt, das ist verboten bzw. wird teuer.

Für diejenigen, die politische Macht besitzen oder anstreben, ob sie Donald Trump heißen, Theresa May oder Jarosław Kaczyński, ist dieser “Wille des Volkes” zunächst mal ein gewaltiges Reservoir an politischem Kapital: Das Volk will weniger rechtliche Bindungen? Aber gerne. Zumal das Subjekt dieses Willens, wenn nicht mehr rechtlich konstruiert, dann um so mehr politisch formbar wird: Wer die Agenda setzt, wer die Referendumsfragen formuliert, wer die Informationsgrundlage der Wähler_innen gestaltet, der kann sehr weitgehend kontrollieren, was zum jeweiligen Moment als “Wille des Volks” ermittelt wird. Nicht nur rechtsstaatliche, auch demokratische Institutionen lassen sich so leicht beiseite schieben, wenn sie der Exekutivmacht lästig fallen: Wer braucht noch ein Parlament, wenn das Volk bereits gesprochen hat?

Der demokratische Verfassungsstaat ist eine prächtige Burg, voller Zinnen und Türme und mit starken Mauern. Viele Menschenalter lang hat er dem “Willen des Volkes” bzw. dem, was von interessierter Seite jeweils dazu erklärt wird, standgehalten.

Selbst in einer vermeintlich so durch und durch stabilen Demokratie wie Großbritannien kann es passieren – vielleicht ist es sogar schon passiert – , dass wir eines Tages aufwachen und merken: Wo am Abend zuvor eine prächtige Burg stand, finden wir am Morgen nur noch einen Haufen nassen Sand.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Feinde des Volkes?, VerfBlog, 2016/11/04, https://verfassungsblog.de/feinde-des-volkes/, DOI: 10.17176/20161104-165111.

20 Comments

  1. Susi Fri 4 Nov 2016 at 16:15