05 May 2019

Gemeinsam für den Frieden und die Einheit Europas? Der Europarat und Russland

Der 70. Geburtstag des Europarats am 5. Mai 2019 gibt Anlass zu Stolz und Freude, doch gleichzeitig befindet er sich in einer tiefen politischen und finanziellen Krise. Als völkerrechtliche Organisation ist er auf die freiwillige Zusammenarbeit seiner Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der zentralen Werte – Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – angewiesen. Doch durch autoritäre und populistische Entwicklungen in Europa bröckelt dieser Konsens gewaltig. Zentrale Frage ist deshalb, inwieweit der Europarat bei der Durchsetzung der Pflichten der Mitgliedstaaten die Desintegration in Kauf nehmen muss. Bei vielen Vertretern herrscht gegenwärtig die Vorstellung, dass die Einheit um jeden Preis gerettet werden müsse, weil sie (langfristig) den Zielen des Europarats mehr diene als ein Auseinanderbrechen.

Krim und die Folgen

Dies gilt vor allem für die Frage der Integration des größten Mitgliedstaates des Europarats, der Russischen Föderation. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats entzog der Russländischen Delegation infolge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim am 10. April 2014 das Stimmrecht. Sie sieht in der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine eine schwere Verletzung der Satzung des Europarats. Russland zeigte sich in der Folge kaum kooperativ. Im Gegenteil: Im Sommer 2017 drehte Russland den Spieß um, stoppte seine jährlichen Beitragszahlungen in Höhe von circa 22 Millionen Euro und drohte, die Zahlungen erst wieder aufzunehmen, wenn die Rechte der Delegation wiederhergestellt würden. Außerdem wurde keine Delegation zur Parlamentarischen Versammlung entsandt. Dies setzte den Europarat unter Druck, der in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geriet. Vertreter Russlands zogen anschließend die Legitimation des EGMR in Zweifel, da Russland von zahlreichen Richterwahlen ausgeschlossen war. Auch Russlands darüber hinausgehende Drohungen (zuletzt hier), aus der Konvention auszutreten, wenn die Rechte nicht wiederhergestellt würden, mögen dazu geführt haben, dass die Parlamentarische Versammlung bereits im Herbst 2018 darüber diskutierte, die Verfahrensordnung zu ändern, um Russland die Wahrnehmung seiner Rechte zu ermöglichen. Dies wurde von Experten, Politikern und Vertretern der Zivilgesellschaft als Zurückweichen vor russischen Erpressungsversuchen und als Glaubwürdigkeitsverlust des Europarats scharf kritisiert (auch hier (“appeasement“) und hier („suicidal“)) und im Ergebnis abgelehnt. Insofern verweigerte Russland zuletzt die Zahlung für das Jahr 2019.

Damit droht Russland nun der Verlust seines Rechts auf Vertretung in den Gremien des Europarats nach Art. 9 der Satzung des Europarats. Art. 9 wurde durch Beschluss des Ministerkomitees dahingehend präzisiert, dass er angewandt werden soll, wenn der Mitgliedstaat zwei Jahre lang keine Beiträge gezahlt hat. Die Entscheidung kommt faktisch einem Ausschluss gleich, da der Staat in der Folge nicht mehr an den Entscheidungen beteiligt ist. Es wird angenommen, dass Russland in diesem Fall selbst austritt. Nachdem Russland seine Beitragszahlungen erstmals im Juni 2017 ausgesetzt hat, müsste eine Entscheidung durch das Ministerkomitee auf der nächsten Sitzung, am 17. Mai 2019, in Helsinki getroffen werden.

Resolution 2277

Generalsekretär Jagland (auch hier) wie auch Außenminister Heiko Maas haben aber bereits sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie Russland stattdessen wieder einbinden wollen. Schon auf der Frühjahrssitzung der Parlamentarischen Versammlung, am 10. April 2019, wurde mit der Resolution 2277 ein erneuter Versuch gestartet, die Voraussetzungen für eine Rückkehr Russlands zu schaffen. Danach soll das Recht auf Teilnahme an den Sitzungen der Organe des Europarats zukünftig deutlicher als Pflicht konzipiert werden. Außerdem soll ein gemeinsames Verfahren mit dem Ministerkomitee für den Fall geschaffen werden, dass ein Staat gegen die Satzung verstößt. Vorgesehen ist ein koordinierter Dialog mit dem betroffenen Staat sowie ein spezielles Monitoring durch eine gemeinsame „task force“. Dieses vorgeschaltete Verfahren soll Voraussetzung für eine Entscheidung nach Artikel 7, 8 oder 9 der Satzung sein. Gleichzeitig enthält die Resolution einen Appell an Russland, seine Mitgliedsbeiträge wieder zu zahlen und an den Versammlungen teilzunehmen.

Die Resolution führte umgehend zu zustimmenden Signalen aus Moskau. Die Sprecherin des Russischen Föderationsrats interpretierte das neue Verfahren so, dass es der Parlamentarischen Versammlung damit nicht mehr möglich sei, das Stimmrecht auf der Grundlage ihrer Verfahrensordnung zu entziehen. 

Der hohe Preis für Russlands Mitgliedschaft

Tatsächlich wirft die Resolution viele Fragen auf. Die Gegner der Resolution in der Parlamentarischen Versammlung kritisierten, dass sie Ausdruck einer erfolgreichen Erpressung Russlands sei. Der Europarat stelle angesichts finanzieller Not die Werte des Europarats zurück. Dies sei ein falsches Signal und beschädige die Glaubwürdigkeit der Institution. 

Ist der Preis für Russlands Mitgliedschaft zu hoch? Eine Pflicht zur Aufhebung der gegen Russland verhängten Sanktionen besteht jedenfalls nicht. Die Sanktionen beruhen auf den Normen des Europarats und einer entsprechenden Übung (siehe hier und hier). Die Resolution ist insofern an den Zielen des Europarats zu messen.

Frieden und Zusammenarbeit?

Die Resolution argumentiert mit dem Frieden und der Zusammenarbeit in Europa. Es gelte „neue Trennlinien“ zu vermeiden. Eine Suspendierung verschärfe den Konflikt mit Russland, warnte auch der Generalsekretär.

Allerdings zeigt gerade der Russland-Ukraine-Konflikt, dass auch die Mitgliedschaft im Europarat die Entstehung und Vertiefung von echten Frontlinien in Europa nicht verhindern konnte. Von einer andauernd fehlenden Bereitschaft zu Frieden und Zusammenarbeit zeugen sowohl die jüngste Eskalation im Asowschen Meer als auch die Ankündigung Putins, russische Pässe an ukrainische Bürger zu verteilen. Daran wird auch die Aufhebung der Sanktionen nichts ändern, denn die russische Führung setzt auf außenpolitische Eskalation zur inneren Mobilisierung.

Die Interessen Russlands

Wenn die russische Führung den Wunsch nach Zusammenarbeit äußert, muss dies richtig eingeordnet werden: Sie selbst hat von der Zusammenarbeit viele Vorteile. So sehen sich verschiedene russische Institutionen, die mit dem Europarat arbeiten, durch die Mitgliedschaft aufgewertet. Gerade der Präsident des russischen Verfassungsgerichts, Valerij Zorkin, begreift sein Gericht als Teil eines europäischen Verfassungsverbundes, was ihn nicht daran hindert, vermeintlich dem deutschen Vorbild folgend, die eigene Verfassungsidentität gegenüber „Europa“ zu verteidigen. Die Kritik an Straßburg dient auch dazu, Loyalität gegenüber dem Kreml zu beweisen.

Die Mitgliedschaft schafft auch eine Art Feigenblatt für ein vermeintliches Streben nach Demokratie und Menschenrechten und schafft der Führung Legitimation. Außerdem möchte die Mehrheit der russischen Bürgerinnen und Bürger den Verbleib.

Letztlich bietet die Mitgliedschaft die Möglichkeit, auf die Entwicklung des Europarats Einfluss zu nehmen. Die Mitgliedschaft ermöglicht das Gespräch mit anderen Staaten auf Augenhöhe, aber auch die Einflussnahme auf die Verurteilung anderer Staaten. Insofern besteht auch die Gefahr eines „institutional capturing“: Wie die russische Führung die Institutionen des Rechtsstaats im eigenen Land entsprechend ihrer eigenen Interessen umdeutete, so besteht die Gefahr, dass populistische und autoritäre Staaten eine mögliche zukünftige Mehrheit im Europarat für ihre Ziele nutzen. Insofern hat der Brighton-Prozess für die Regierungen autoritärer Staaten die falschen Signale gesetzt. Auf der Staatenkonferenz von Brighton übten auch westliche Mitgliedsstaaten, allen voran Großbritannien, deutliche Kritik an einer aus ihrer Sicht zu weitgehenden Rechtsprechung des EGMR, betonten die Subsidiarität gegenüber den Mitgliedsstaaten und forderten mehr Zurückhaltung. Die autoritären Staaten haben im „Zeitalter der Subsidiarität“ gelernt, dass sie mit ihren Vorbehalten gegenüber einem zu aktiven EGMR nicht allein dastehen. 

Wenn die russische Führung öffentlich betont, auf Zusammenarbeit zu zielen, darf dies indes nicht als Bekenntnis zu gemeinsamen Werten missverstanden werden. Die russische Politik zielt weder auf die Zusammenarbeit in Europa noch auf Menschenrechte, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit. Stattdessen nehmen Repressalien gegenüber Kritikern weiter zu. Insbesondere die Menschenrechtssituation in Tschetschenien und auf der Krim ist dramatisch. Die politische Führung hat weder ein Interesse an freien Wahlen noch an einer unabhängigen Justiz.

Argument Individualbeschwerde

Das zentrale Argument gegen einen Ausschluss Russlands sieht u.a. Außenminister Heiko Maas darin, dass den Menschen in Russland nicht die Möglichkeit einer Individualbeschwerde zum EGMR genommen werden dürfe. Tatsächlich bietet die Individualbeschwerde ein wichtiges Instrument der juristischen Aufarbeitung von Konventionsverletzungen sowie individuelle Genugtuung. Ein Verlust hätte fatale Folgen und mit diesem Argument haben sich auch russische Menschenrechtsverteidiger gegen den Ausschluss ausgesprochen. 

Die NGO Memorial warnt indes davor, dass Zugeständnisse des Europarats ohne eine Änderung der russischen Position ebenso fatale Folgen hätten. 

So stehen Funktion und Glaubwürdigkeit des Konventionssystems in Frage, wenn zwar die Bedeutung der Beschwerde unterstrichen wird, die Nicht-Umsetzung der Konventionspflichten aber ansonsten ohne Sanktion bleibt. Die Individualbeschwerde ohne Bereitschaft, den Pflichten aus der EMRK nachzukommen, widerspricht der Konstruktion der EMRK mit dem EGMR als subsidiärem Kontrollorgan. Die zahlreichen strukturellen Mängel und die fehlende Bereitschaft, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte umzusetzen, führen zu einer hohen Arbeitsbelastung des EGMR. 

Fazit: Einheit und Werte

Die mögliche faktische Beendigung der Sanktionen durch das neue Verfahren mit dem Ziel, Russland als Mitglied zu halten, stellt Identität, Legitimation und Glaubwürdigkeit des Europarats in Frage. Ein derartiges „Appeasement“ des Europarats ist nachvollziehbar, kann aber nicht wirkungsvoll sein, wenn nicht gleichzeitig glaubhafte rote Linien eingezogen werden. 

Richtig ist es, die Regeln für die Suspendierung zu überdenken und ein geordnetes Verfahren voranzustellen. So ist es für die Zukunft wichtig, die Staaten, die gegen die Satzung verstoßen, gleich zu behandeln und die Gefahr von Doppelstandards zu vermeiden. Wirkungsvolle Sanktionen müssen belastbar sein.

Allerdings dürfen Suspendierung und Austritt nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Satzung des Europarats zielt auf die europäische Einigung und Zusammenarbeit, aber gerade nicht um jeden Preis: Suspendierung und Austritt sind als Mittel gegen Satzungsverletzungen ausdrücklich vorgesehen. Insofern sendet die aktuelle Rhetorik des Europarats ein fatales Signal. Wenn der Europarat die Einheit nicht in Frage stellen will, wird er Sanktionen, und damit seine Ziele, kaum durchsetzen können.