Geschwiegen und doppelt bestraft
Wenn Zeug:innen die Aussage verweigern
Drei Sozialarbeiter:innen eines Fanprojekts des Karlsruher SC weigern sich, im Strafverfahren über Vorgänge auszusagen, die ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit bekannt geworden sind. Sie müssen Ordnungsgelder zahlen. Darüber hinaus ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Strafvereitelung durch Unterlassen gegen sie. Wie viele Strafverfahren dieser Art gegen Sozialarbeiter:innen geführt werden, ist der Bundesregierung nicht bekannt. Das hat eine Kleine Anfrage der Linkspartei kürzlich ergeben (BT-Drs. 20/9918, S. 9).
Das Vorgehen, die unberechtigte Zeugnisverweigerung nicht nur mit Ordnungsgeld zu ahnden, sondern auch als Strafvereitelung durch Unterlassen (§§ 258, 13 StGB) zu verfolgen, kam in den 1990er Jahren auf1) und entspricht heute ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung (OLG Hamm, B. v. 9.11.2017 – 4 RVs 127/17, Rn. 10, 12 mwN). Diese Praxis verletzt jedoch das Menschenrecht, für ein und dieselbe Tat nicht mehrfach verfolgt zu werden (ne bis in idem). Dies ergibt sich aus Art. 14 Abs. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), in dem der Verfahrensgrundsatz neben Art. 103 Abs. 3 GG verankert ist.
Selbst eine fortgesetzte Weigerung ist nur eine Tat
Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand „wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ Gegen Zeug:innen, die sich unberechtigt weigern, vor Gericht oder der Staatsanwaltschaft (§ 161a Abs. 2 Satz 1 StPO) zu erscheinen und auszusagen wird gemäß § 51 Abs. 1 Satz 2 bzw. § 70 Abs. 1 Satz 2 StPO ein Ordnungsgeld von maximal 1000 Euro (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EGStGB) festgesetzt.2) Die Strafverfolgung wegen Strafvereitelung durch Unterlassen knüpft an dieselbe Weigerung an.
In der Praxis kann es vorkommen, dass Zeug:innen sich fortgesetzt weigern, wenn sie erneut geladen bzw. vernommen werden, nachdem gegen sie bereits ein Ordnungsgeld festgesetzt worden ist. Selbst dann liegt aber rechtlich nur eine einheitliche Weigerung vor. Der Vereitelungserfolg des § 258 StGB tritt nämlich in diesen Fällen überhaupt nur ein, weil3) sich der Zeuge fortgesetzt zu allen Vernehmungsterminen weigert zu erscheinen bzw. auszusagen (mit diesem Rechtsgedanken: BGH, B. v. 2.12.2008 – 3 StR 203/08 –, Rn. 15). Das Verhalten, das hier als Strafvereitelung verfolgt wird, umfasst daher als Teilakt auch die ursprüngliche Weigerung, für die bereits das Ordnungsgeld verhängt worden ist. Rechtlich handelt es sich daher um dieselbe Tat, die hier mehrfach bestraft werden soll.
Ordnungsgeld war schon immer „Geldstrafe“
Im Sinne des Art. 103 GG sind nämlich nicht nur die von § 258 StGB angedrohten Geld- und Freiheitsstrafen, sondern auch die Ordnungsgelder nach §§ 51, 70 StPO Strafen. Der Begriff ist für Abs. 2 und 3 einheitlich auszulegen (BVerfGE 128, 326, Rn. 142). Erfasst sind „staatliche Maßnahmen […], die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient“ (BVerfGE 109, 133, Rn. 129). Das trifft auf die Ordnungsgelder zu. Es handelt sich nicht um Zwangsmittel, sondern um Sanktionen für begangenen Ungehorsam (BVerfGE 76, 363, [385]; OLG Frankfurt a. M., B. v. 30.10.2013 – 2 Ws 58/13, Rn. 5; anders OLG Hamm, B. v. 9.11.2017 – 4 RVs 127/17, Rn. 12).
Die heutige Formulierung „Ordnungsgeld“ fand mit dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (BGBl. 1974 I S. 469) erstmals Einzug in den Gesetzeswortlaut. Ausweislich der Gesetzesbegründung beabsichtigte der Gesetzgeber damit gerade eine genauere begriffliche Unterscheidung: Der Begriff „Ordnungsgeld“ sollte fortan „[r]epressive Rechtsfolgen für einen vorausgegangenen Ordnungsverstoß“ bezeichnen, „Zwangsgeld“ und „Zwangshaft“ demgegenüber Zwangs- und Beugemaßnahmen (BT-Drs. 7/550, S. 195 f, S. 289).
Zuvor war im Gesetz von einer „Ordnungsstrafe“ und ursprünglich von einer „Geldstrafe“ die Rede gewesen.4) Die Terminologie war kein Zufall, sondern entsprach von Anfang an einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung zu einer bestrafenden Rechtsfolge.5) Dementsprechend ist das Bundesverfassungsgericht selbst bei einer „Geldstrafe“ nach § 890 ZPO aF von einer Strafe ausgegangen, also bei einer Maßnahme der Zwangsvollstreckung (BVerfGE 20, 323, [332 ff]).
Generalprävention ist kein Zwang
Dieser gesetzgeberischen Zweckbestimmung entspricht es, dass der Zeuge ein einmal festgesetztes Ordnungsgeld auch dann bezahlen muss, wenn er seine Weigerung zwischenzeitlich aufgegeben hat.6) Ein Zwangsmittel hätte damit seinen Zweck erreicht, sodass jede weitere Anwendung desselben offensichtlich unverhältnismäßig wäre. Indes sehen weder die StPO noch die Art. 5 ff EGStGB und auch nicht das Justizbeitreibungsgesetz vor, dass in diesem Fall die Festsetzung des Ordnungsgeldes aufzuheben oder seine Beitreibung einzustellen wäre.
Unter diesen Vorzeichen kann die Festsetzung des Ordnungsgeldes selbst auch rein tatsächlich gar keinen Druck auf den Zeugen ausüben. Denn ebenso, wie der Zeuge nichts mehr zu gewinnen hat, wenn er seine Weigerung aufgibt, hat er nichts mehr zu verlieren, wenn er sie fortsetzt. Es ist daher nicht das konkret festgesetzte Ordnungsgeld, das einen real auftretenden Widerstand des Zeugen brechen soll. Stattdessen ist es die abstrakte Androhung des Ordnungsgeldes im Gesetz, die alle Zeug:innen davor abschrecken soll, ihren gesetzlichen Zeugenpflichten zuwider zu handeln. Es geht also darum, einen nur hypothetisch möglichen Widerstand von vornherein zu verhindern. Diese Art der „Zwangswirkung“ gehört aber gerade zur typischen Wirkungsweise eines Strafgesetzes, genauer: Es handelt sich um den Strafzweck der negativen Generalprävention.
Schuldprinzip und Vergeltungsfunktion
Eine staatliche Sanktion darf generell nur für ein Verhalten verhängt werden, das nicht nur rechtswidrig, sondern auch schuldhaft ist. Alles andere verstieße gegen das Schuldprinzip und damit gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG (BVerfG, B. v. 29.3.2007 – 2 BvR 224/07, Rn. 14). Dementsprechend ist anerkannt, dass die Festsetzung von Ordnungsgeldern Schuld voraussetzt (BGH, B. v. 27.1.2021 – StB 44/20, Rn. 30 mwN).
Bei geringer Schuld soll es möglich sein, in analoger Anwendung des § 153 StPO von der Festsetzung eines Ordnungsgeldes abzusehen (OLG Dresden, B. v. 24.2.2015 – 2 Ws 82/15 -, mwN). Dies belegt zugleich, dass das Ordnungsgeld über seine generalpräventive Wirkung hinaus eine Vergeltungsfunktion („Schuldausgleich“) hat. Nur so lässt sich erklären, weshalb die Einstellungsmöglichkeit vom Ausmaß der Schuld abhängig ist. Historisch ging bereits das Reichsgericht davon aus, dass die Ordnungsgelder (damals „Geldstrafen“) Vergeltungscharakter haben (RGSt 57, 29 [29]).
Strafe ja, aber nicht nach den allgemeinen Strafgesetzen
Ordnungsgelder nach §§ 51, 70 StPO sind also Strafen im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG. Trotzdem verstößt es im Ergebnis nicht gegen die ne bis in idem Garantie des Grundgesetzes, die unberechtigte Zeugnisverweigerung sowohl mit einem Ordnungsgeld zu sanktionieren als auch als Strafvereitelung zu verfolgen. Dies liegt daran, dass sich der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG auf die allgemeinen Strafgesetze beschränkt. Darunter sind nach dem Willen des historischen Verfassungsgebers nur die echten Kriminalstrafgesetze zu verstehen (BVerfGE 43, 101 [105]; 21, 391 [401]). Die echte Kriminalstrafe grenzt sich von anderen Strafen dadurch ab, dass sie „mit einem ehrenrührigen, autoritativen Unwerturteil“ über die Tat verbunden ist (BVerfGE 43, 101 [105]). Ein solches Unwerturteil soll aber nach dem Willen des Gesetzgebers mit der Festsetzung von Ordnungsgeld gerade nicht verbunden sein (BT-Drs. 7/550, S. 195). Bei den Ordnungsgeldern nach §§ 51, 70 StPO handelt es sich daher zwar um Strafen, aber eben nicht um Kriminalstrafen.
ne bis in idem im Mehrebenensystem
Die ne bis in idem Garantie ist aber nicht nur in Art. 103 Abs. 3 GG verankert, sondern auch in Art 14 Abs. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), den Deutschland 1973 ratifiziert hat. Aufgrund des Zustimmungsgesetzes (BGBl. 1973 II S. 1533) gelten die menschenrechtlichen Gewährleistungen des IPbpR im Rang eines förmlichen Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Sie sind in Deutschland bindendes Gesetzesrecht für Behörden und Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG).
Art. 103 Abs. 3 GG enthält als grundrechtsgleiches Recht nur eine Mindestgarantie gegen mehrfache Bestrafung. Der einfache Gesetzgeber kann daher durch das Zustimmungsgesetz zum IPbpR auch einen darüber hinausgehenden Schutz einräumen. Völkerrechtlich ist die Bundesrepublik Deutschland eben hierzu verpflichtet, da Art. 14 Abs. 7 IPbpR einen solchen weitergehenden Schutz tatsächlich gewährt:
Die Bedeutung des nationalen Rechts
Art. 14 Abs. 7 IPbpR lautet:
„No one shall be liable to be tried or punished again for an offence for which he has already been finally convicted or acquitted in accordance with the law and penal procedure of each country.“7)
Der Begriff der Straftat (offence oder auch criminal offence) ist dabei einheitlich mit dem der strafrechtlichen Anklage (criminal charge) zu verstehen, der in Art. 14 IPbpR ebenfalls Verwendung findet (Strik v. Netherlands, para. 7.3.) Erfasst sind jedenfalls Taten, die nach den innerstaatlichen Strafgesetzen für strafbar erklärt sind (Osiyuk v. Belarus, para. 7.3). Schon deshalb lässt sich argumentieren, dass Art. 14 Abs. 7 IPbpR der zusätzlichen Verfolgung wegen Strafvereitelung entgegensteht, wenn der Zeuge bereits rechtskräftig mit einem Ordnungsgeld belegt worden ist. Denn, wie soeben gezeigt wurde, sind die §§ 51, 70 StPO verfassungsrechtlich durchaus als Strafgesetze anzusehen, nur nicht als „allgemeine Strafgesetze“.
Letztlich kommt es auf diese Frage aber nicht entscheidend an. Denn nach seinem Sinn und Zweck kann Art. 14 Abs. 7 IPbpR auch dann anwendbar sein, wenn das innerstaatliche Recht einem Gesetz nicht den Charakter eines Strafgesetzes beimisst (auch zum Folgendem: Osiyuk v. Belarus, para. 7.3). Andernfalls stünde es nämlich im Belieben eines jeden Vertragsstaates, die Reichweite seiner eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dieser Vorschrift zu bestimmen.
„Strafgesetze“ im Sinne des IPbpR
Stattdessen ist Art. 14 IPbpR ein eigenständiger Begriff des Strafgesetzes zugrunde zu legen.8)
Zur Begriffsbestimmung ist darauf abzustellen, ob eine staatliche Sanktion aufgrund ihres Zweckes, ihrer Rechtsnatur oder ihrer Schwere als Strafe für kriminelles Unrecht anzusehen ist. Das nach Art. 28 Abs. 1 IPbpR errichtete Human Rights Committee führt hierzu aus:
„criminal charges relate in principle to acts declared to be punishable under domestic criminal law. The notion, however, may also extend to acts that are criminal in nature with sanctions that, regardless of their qualification in domestic law, must be regarded as penal because of their purpose, character or severity. In this respect, the Committee notes that the concept of a »criminal charge« bears an autonomous meaning, independent of the categorisations employed by the national legal system of the States parties, and has to be understood within the meaning of the Covenant. Leaving State parties the discretion to transfer the decision over a criminal offence, including imposition of punishment, to administrative authorities and, thus, to avoid the application of the fair trial guarantees under article 14, might lead to results incompatible with the object and purpose of the Covenant“ (Osiyuk v. Belarus, para. 7.3).
Wie oben dargelegt wurde, sind Ordnungsgelder nach den §§ 51, 70 StPO repressive Sanktionen für begangenes, abgeschlossenes Unrecht. Sie dienen zudem der Abschreckung und damit dem Strafzweck der negativen Generalprävention. Damit erfüllen die §§ 51, 70 StPO Funktionen, die klassischerweise das Kriminalstrafrecht verfolgt, und sind in ihrer Rechtsnatur mit Kriminalstrafgesetzen vergleichbar. Bei den Ordnungsgeldern nach diesen Vorschriften handelt es sich daher um Strafen im Sinne des Art. 14 Abs. 7 IPbpR (mit diesen Argumenten auch Osiyuk v. Belarus, para. 7.4).
Ergebnis
Das hat zur Folge, dass nach rechtskräftiger Festsetzung eines Ordnungsgeldes jede weitere Verfolgung der unberechtigten Zeugnisverweigerung (als Strafvereitelung) ausgeschlossen ist. Die ne bis in idem-Garantie begründet jedenfalls ein unüberwindbares Verfahrenshindernis.
Überzeugender erscheint jedoch, die unberechtigte Zeugnisverweigerung schon nicht als Strafvereitelung zu werten und stattdessen die §§ 51, 70 StPO als abschließende Spezialregelung zu begreifen. Systematisch ist es wenig überzeugend, zunächst die Strafbarkeit – entgegen zahlreicher sonstiger Bedenken