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30 May 2023

Aus der Mottenkiste politischer Theorie

Ziviler Ungehorsam als Lizenz zur Straftat?

Die reichhaltige Debatte über den Umgang mit „Klimaklebern“ im Koordinatensystem von Verfassungs- und Strafrecht zeigt, dass noch einige Rechtsfragen zu klären sind. Hierbei erscheint es notwendig, einige Argumente abzuschichten und zu sortieren, auch weil bisweilen politisch-theoretische und positiv-rechtliche Topoi verschwimmen. Hier einige ergänzende Anmerkungen:

Kein Missbrauch des Strafverfahrens zu verfahrensfremden Zwecken

Natürlich darf das Strafrecht nicht politisch instrumentalisiert werden. Allgemein besteht die Gefahr, strafprozessuale Maßnahmen einzusetzen, um diffuse präventive Zwecke (Verunsicherung einer Szene, Ressourcenentzug, Einschüchterung) zu erreichen, die kein legitimes Verfahrensziel sind (zutreffend Katrin Höffler). Ein Missbrauch des Strafverfahrens liegt allerdings nicht vor, wenn ein hinreichender Tatverdacht tatsächlich vorliegt und Maßnahmen im Rahmen bestehender Ermächtigungen rechtmäßig zur Erforschung des Sachverhalts (§ 160 Abs. 1 StPO) eingesetzt werden. Wenn es hierbei kollateral zu einem präventiven Overspill kommt, ist das unschädlich. Auch der Missbrauch des Strafverfahrens als Botschaft, dass sich Protest nicht lohne, wäre selbstverständlich rechtswidrig (nochmals Höffler), ohne dass man hierzu erst auf verfassungsrechtliche Erwägungen zurückgreifen müsste (vgl. schon § 160 Abs. 1-2 StPO). Aber liegt ein Missbrauch hier wirklich nahe? Die Durchsuchungen richten sich offenkundig nicht gegen Proteste für besseren Klimaschutz. Eine apokryphe Botschaft wäre allenfalls, zum Zwecke des Protests keine Straftaten zu begehen. Dies ist aber dem sozialkommunikativen Sinn von Strafverfahren als Reaktion auf einen konfliktauslösenden Verdacht inhärent und sicher nicht missbräuchlich.

Legalitätsprinzip oder prozessuale Vorsichtspflicht?

War es dann ein rechtsstaatlicher Drahtseilakt, Hausdurchsuchungen vorzunehmen, obwohl die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit nach § 129 StGB noch nicht problemspezifisch geklärt sind (so Michael Kubiciel)? Die Einleitung eines Strafverfahrens, um die es zunächst einmal nur geht, folgt dem Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 1 StPO), sodass für eine Zurückhaltung aus Rücksichtnahme auf politische Folgen oder Subsumptionsschwierigkeiten insoweit kein Raum ist. Zwar bezieht sich der Anfangsverdacht primär auf kognitiv hinreichende Tatsachen. Diese müssen aber materiell zutreffend unter einen Straftatbestand subsumiert werden. Subsumptionsmaßstäbe gehen also in das Wahrscheinlichkeitsurteil ein, ob die Ermittlungen eine verfolgbare und ggf. anklagbare (vgl. § 170 Abs. 1 StPO) Straftat ergeben könnten. Das richtet sich primär – als Orientierungsmatrix im Rahmen eines Vertretbarkeitsmaßstabs – nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung.1)

Hier fehlt es an einer belastbaren Rechtsprechung, die eine eindeutige Orientierung für die Behandlung der „Klimakleber“ bildet. Insoweit müssen also schlicht in eigener Verantwortung der Staatsanwaltschaft strafrechtsdogmatisch Auslegungsfragen geklärt werden. Zu berücksichtigen ist, dass eine Staatsanwaltschaft durch Nichtanklage eine Klärung von Auslegungsfragen der Rechtsprechung entzieht, was die Struktur des Legalitätsprinzips unterlaufen kann.2) Jedenfalls bestünden – mehr kann ich aus meiner Fachkompetenz nicht dazu beitragen – keine verfassungsrechtlichen Bedenken, § 129 StGB dahingehend auszulegen, dass organisierte Straftaten nach §§ 113, 240, 315, 315b, 304 StGB, um die es hier vor allem geht, trotz ihrer Politizität erfasst sind. Der Einwand, § 129 StGB sei gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG zu unbestimmt (so Thorsten Koch), ist wenig überzeugend, wenn man die sehr klare Verweisungsstruktur in § 129 Abs. 1 StGB auf die Bezugsstraftaten und die präzisierende Legaldefinition in § 129 Abs. 2 StGB mit dem vergleicht, wie andere Straftatbestände gefasst sind. Jedenfalls das BVerfG war immer pragmatisch zurückhaltend und hat Bestimmtheitsanforderungen im Strafrecht nicht überspannt. Selbst wenn man – anders als hier – eine verfassungskonforme Einschränkung des Tatbestandes für geboten erachten wollte, ginge es um begriffliche Korrekturen, deren Komplexität im Vergleich zu grundrechtssensiblen Tatbeständen wie §§ 90a, 130, 185, 240 Abs. 2 StGB überschaubar bliebe.

Ohne spezifisch verfassungsrechtliche Begrenzungen dürfte – abhängig vom konkreten Ermittlungsstand in den Akten – die Strafbarkeit nach § 129 StGB naheliegen und Anhaltspunkte jedenfalls für einen Anfangsverdacht ausreichen. Dieser rechtfertigt dann nicht nur die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§ 152 Abs. 1 StPO), sondern grundsätzlich auch die Durchsuchungen (§ 102 StPO) als Standardmaßnahmen, Beweismittel aufzufinden. Das ist nichts Besonderes. Eine Hausdurchsuchung hätte auch jeder zu gewärtigen, der in den Verdacht gerät, Fahrräder geklaut zu haben. Und ohne Beschlagnahme von Datenträgern wird sich eine mutmaßliche Vereinigungsstruktur kaum aufklären lassen, sodass eine „zurückhaltende“ Auswahl der Eingriffsbefugnisse hier faktisch das Legalitätsprinzip unterlaufen würde. Manche Empörung über die Durchsuchungen folgte hier typischer Rhetorik medialer Skandalisierung („Razzia“ wie bei der „Mafia“) oder ist reichlich weltfremd, was die tägliche Praxis der Strafverfolgung betrifft.

Verfolgungsverbot bei Radikalisierungsgefahr?

Ob hierdurch eine Tendenz zur Radikalisierung verstärkt wird (so Fynn Wenglarczyk), bleibt Spekulation. Aus gutem Grund ist dies jedenfalls kein zulässiges Entscheidungskriterium einer Staatsanwaltschaft, die auf einen Anfangsverdacht nach Legalitätsprinzip handeln muss. Das schließt originär politische Folgenprognosen aus, ob Strafverfolgung demokratiepolitisch sinnvoll ist oder nicht bzw. ob Strafe alles nur noch schlimmer macht. Auch das öffentliche Interesse bei einer – vermutlich viele Fälle von Randpersonen betreffenden – Einstellung nach §§ 153, 153a StPO kann zwar verschiedene Opportunitätserwägungen integrieren, ein Ort für eine politisch motivierte Rücksichtnahme durch Staatsanwaltschaften ist dies aber nicht.

Erhebliches Störungspotential?

Selbst wenn man weiterhin (wie Höffler) mit der früheren Rechtsprechung des BGH fordert, dass die Bezugstaten konkret „eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten“ und bei einer Gesamtabwägung „von einigem Gewicht“ sein müssten,3) wird man diese Voraussetzungen bei den „Klimaklebern“ eher bejahen können. In seiner Leitentscheidung im Jahr 1995 hat der BGH bezeichnenderweise einen Freispruch aufgehoben und klargestellt, dass auch einfache Sachbeschädigungen (§ 303 StGB), im Fall rechtsradikale Graffitis, die (damalige) Erheblichkeitsschwelle des § 129 StGB erreichen könnten. Für die systematische und organisierte Blockade öffentlicher Infrastrukturen, deren – legitimerweise klimaschutzpolitisch kritisierte – Widmung sehr heterogenen und ebenfalls unterschiedlich grundrechtlich geschützten Mobilitätsinteressen sowie der öffentlichen Versorgung dienen, wird man Analoges annehmen können. Jedenfalls verlangt das Gebot der Verhältnismäßigkeit keine über § 129 Abs. 3 StGB hinausgehenden Restriktionen.

Demokratische Resilienz als Auslegungsdirektive?

Natürlich kann und sollte eine Demokratie viel aushalten (Höffler). Ein paar Protestaktionen und ein wenig Betriebsstörung sind auch in der Historie kontroverser Protestmittel vergleichsweise harmlos. Aufgesetzte Klassenkampfrhetorik ist peinlich, gehörte aber schon immer zum typischen Stilmittel der akademisierten Mittelschicht mit ihren Distinktionsbedürfnissen. Das muss man nicht ernstnehmen. Der demokratische Prozess wird sich nicht von klebrigem Klamauk aus der Bahn werfen lassen. Den Schaden hat allenfalls der Klimaschutz, dessen politische Durchsetzungsfähigkeit von vitalem Interesse für uns alle ist, der aber durch Infantilisierung und effekthascherische Selbstinszenierung vor allem reale Akzeptanzchancen einbüßen dürfte.

Das alles ist jedoch rechtlich unerheblich. Die abstrakte Resilienz einer Demokratie, Störungen auszuhalten, entscheidet nicht die konkrete Legalitäts- und die Sanktionsfrage. Katrin Höffler hat das anschauliche Beispiel angeführt, dass manche Handlungen im Kontext der Proteste gegen die Atomkraft ursprünglich ebenfalls als Straftaten verfolgt wurden, sich am Ende aber der Atomausstieg durchgesetzt hat. Das zeigt in der Tat die Veränderungsfähigkeit stabiler Demokratien. Aber werden hier nicht zwei Sachen inadäquat vermengt? Spekulative Kausalität beiseite: Dass sich ein politisches Ziel durchgesetzt hat, bedeutet sicher nicht, dass damals eingesetzte Mittel legal waren (oder besser als legal hätten behandelt werden sollen). Das BVerfG hatte bekanntlich lediglich Korrekturen bei der Auslegung und der Anwendung der Nötigung (§ 240 StGB) auf „Sitzblockaden“ wegen Art. 103 Abs. 2 GG vorgenommen,4) die Kriminalisierbarkeit als solche aber nicht in Frage gestellt5). Das BVerfG sah das politische Motiv zutreffend als Strafzumessungsproblem an.6)

Würde sich eine militante Protestbewegung bilden, die aus klima- und energiepolitischen Gründen die Wiedereinführung der Atomkraft fordert, müssten wir dieser jetzt gleichwohl großzügig Nötigungsmittel belassen? Oder nur nachträglich bedauern, es nicht getan zu haben, nachdem die Kriminalisierten politisch ihr Ziel doch noch erreicht haben und KKW Isar 2 wieder ans Netz geht? Protest lässt sich zudem nicht zum Fortschrittsnarrativ verklären. Zum Beispiel war die weitgehende Einschränkung des Asylgrundrechts (Art. 16a GG), dessen Konzept der sicheren Drittstaaten bis heute auf das Unionsrecht abfärbt, ebenfalls Produkt von Protest, weil auf der Straße unappetitlicher Druck von unten gemacht wurde – damals auf Kosten von schutzbedürftigen Menschen durch eine im schlechtesten Sinne „responsive“ Politik. Die Rhetorik des „zivilen Ungehorsams“ hat sich in den letzten Jahren ohnehin konsequent das rechtsextreme Milieu angeeignet. Gerade in der Inszenierung von Widerstand der angeblich Machtlosen von unten gegen „die da oben“ fanden sich dann – wenig überraschend – die diversen Querfronten zusammen, die gemeinsam zum Querdenken gingen. Bekanntlich kam es auch immer wieder zu – rassistisch motivierten – Blockaden von Sammelunterkünften Geflüchteter, die von der Polizei mit Zwang aufgelöst werden mussten. Heidenau lässt grüßen. Soll das – bei Nötigung – straffrei bleiben, weil man eben „flüchtlingskritische“ Positionen als Meinung demokratisch aushalten muss? Hoffentlich nicht.

Quergedachter Ungehorsam

Dass die Klimaschutzforderungen fraglos sehr gut begründet sind, ist jedenfalls kein valides Kriterium zur rechtlichen Bewertung der heterogenen Protesthandlungen. Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 GG) sind keine „Gütesiegel“7), hängen also nicht von der Qualität der Argumente ab. Politische Freiheitsrechte stehen für jeden Unsinn zur Verfügung, weil dem Staat gerade imperative Qualitätsurteile über Meinungsinhalte versagt bleiben sollen. Was man „Klimaklebern“ zugesteht, müsste man also gleichermaßen der Klimawandelleugner-Szene gewähren, deren Bedeutung – so ist zu befürchten – anwachsen wird, sobald mit wirksamem Klimaschutz ernst gemacht würde. Wenn schon triviale Bagatelleingriffe wie ein Tempolimit die Gemüter zur Erregung bringen, kann man sich ausmalen, welche Dimension der Protest bottom up annimmt, wenn es um wirkliche Einschnitte geht. Wer heute „zivilen Ungehorsam“ zum Rechtfertigungstitel deformiert8), wird reife Früchte ernten, wenn Querdenker, Putin-Anhänger, Impfgegner, Wutbürger, Klimawandelleugner oder sonstige politische Esoteriker dann unter Verweis auf die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GG gebotene Meinungsneutralität das Gleiche einfordern.

Verfassungskonformität der Ziele als Rechtfertigungsgrund?

Dass das Protestziel des Klimaschutzes verfassungskonform ist, steht außer Frage. Wirksamer Klimaschutz ist bereits ein Gebot des Art. 20a GG sowie grundrechtlicher Schutzpflichten; beides hat im Übrigen das BVerfG bisher nicht als verletzt angesehen.9) Bei der Bewertung insbesondere des § 129 StGB würde das aber auch dann keine Rolle spielen, wenn man tatsächlich – entgegen meiner Auffassung – eine politische Handlungsmotivation berücksichtigt. Denn es kommt nicht auf die Verfassungskonformität der Endziele, sondern auf die eingesetzten Mittel im Verhältnis zu den Nahzielen an. Abwegig wäre es namentlich, die katastrophalen Folgen des – durch die fraglichen Handlungen in keiner Weise gebremsten – Klimawandels gegen ein bisschen Stau abzuwägen. Abwägungsbelang ist allein das kontextualisierte politische Artikulationsinteresse, das von Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 GG geschützt ist, insoweit aber auch entsprechenden Schranken unterliegt (Art. 5 Abs. 2, 8 Abs. 2 GG). Jedenfalls die hier relevanten allgemeinen Strafgesetze füllen diesen Rahmen verfassungskonform aus, und zwar gerade durch ihre tatbestandliche Entpolitisierung.

Art. 20a GG als Abwägungsbelang zu berücksichtigen, erscheint mir ebenfalls fernliegend. Die Staatszielbestimmung adressiert schon explizit nur Organe staatlicher Gewalt und hat keine Ermächtigungsfunktion gegenüber Privaten. Selbst wenn man der Bestimmung mittelbar eine Abwägungsrelevanz zugunsten Privater im Rahmen offener Straftatbestände entnehmen wollte, bestünde hierfür vorliegend kein Grund. „Klimakleber“ schützen keine Umweltgüter im Sinne des Art. 20a GG. Ankleben an Straßen, Rollfeldern oder Bildern bewirkt kein Gramm CO2-Einsparung und ist für den Klimaschutz irrelevant. Vergleichbarkeit mit der – ihrerseits nicht unproblematischen – Rechtsprechung zum Tierschutzrecht besteht daher nicht. Teils wurde zwar ein Eindringen von Tierschützern in verwahrloste Tierzuchtanlagen nach § 34 StGB im Lichte des Art. 20a GG für gerechtfertigt erachtet.10) Erzwingen politischer Sichtbarkeit eines Themas ist aber keine Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für ein Schutzgut.

Demokratische Legalität

Demokratische Legalität kann und soll nicht alle Mac