Zwei Jahre Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts
Eine Zwischenbilanz der weitgehenden Rezeptionsverweigerung
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 wurde von der Deutschen Umwelthilfe als „die wohl bedeutendste Umweltschutz-Entscheidung in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts“ gelobt. Der BUND bezeichnete ihn als „bahnbrechendes Urteil“. Wenn man mit dem Abstand von zwei Jahren auf die Entscheidung und ihre (Nicht)Folgen sieht, muss die Bewertung deutlich nüchterner ausfallen. Zum einen wird meist übersehen, dass die unmittelbare Wirkung des Beschlusses denkbar gering war. Vor allem wird er aber von der Politik, von den Verwaltungsgerichten und sogar vom Bundesverfassungsgericht selbst nicht umgesetzt. Das Problem, wie effektiver Klimaschutz durchgesetzt werden kann, ist nach wie vor nicht gelöst.
Der Inhalt der Entscheidung
Im ersten Satz der Presseerklärung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 wurde von einem Teilerfolg der Verfassungsbeschwerden gesprochen. Die Kostenentscheidung sprach den meisten Antragstellern die Erstattung der Hälfte ihrer Auslagen zu. Bei näherer Betrachtung ist das eine sehr großzügige Interpretation, denn die eigentliche Leistung der Entscheidung liegt allein in ihrer Begründung, nicht in ihrem Ergebnis.
Der Hauptantrag gegen das Unterlassen geeigneter gesetzgeberischer Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels wurde zurückgewiesen. Dabei ist zu beachten, dass die erste Verfassungsbeschwerde bereits vor dem Erlass des Bundes-Klimaschutzgesetzes eingereicht wurde. Nach dessen Verabschiedung wurden die Anträge darauf ausgeweitet, einige seiner Vorschriften für verfassungswidrig zu erklären, weil sie unzulänglich seien. Das Bundesverfassungsgericht knüpfte jedoch an die in den 1970er Jahren entwickelte Schutzpflichtenlehre an, die dem Gesetzgeber einen großen Entscheidungsspielraum einräumt, und erklärte, dass das gesetzliche Schutzkonzept „nicht offensichtlich ungeeignet“ sei und das konkrete nationale Klimaschutzinstrumentarium noch so fortentwickelt werden könne, dass das für 2030 vorgegebene Minderungsziel für den Ausstoß der Treibhausgasemissionen eingehalten werde.
Erfolgreich waren die Verfassungsbeschwerden nur in Bezug auf einen eigentlich ganz untergeordneten Punkt. Es ging um die Quantifizierung der Vorgaben für die Reduktion der Treibhausgasemissionen in den Jahren nach 2030. Nach der ursprünglichen Fassung des Klimaschutzgesetzes sollten diese Schritte durch eine Verordnung der Bundesregierung festgelegt werden. Mit einer weit ausholenden Begründung, in der Klimaschutzpflichten aus dem Staatsziel Umweltschutz in Art. 20a GG mit dem neuen Konzept der intertemporalen Freiheitssicherung verknüpft wurden, leitete das Gericht ab, dass diese Frage so wichtig sei, dass die Festlegung nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen könne. Im Ergebnis bedeutete dies aber nur, dass eine Anlage des Klimaschutzgesetzes ergänzt werden musste, was dann auch im Bundestag ohne politischen Streit zügig beschlossen wurde.
Weder der Tenor der Entscheidung noch die Begründung gehen dagegen darauf ein, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit nicht nur Ziele für den Klimaschutz definiert werden, sondern tatsächliche Reduktionen der Treibhausgasemissionen in Deutschland erfolgen. Diese Konkretisierungsleistung verbleibt allein im politischen Raum, auch wenn die Begründung durchaus deutlich auf ihre Dringlichkeit hinweist.
Missachtung durch die Politik
Das Planungskonzept des Klimaschutzgesetzes hat sich schon nach wenigen Jahren als unzureichend herausgestellt. In den beiden Sektoren Verkehr und Gebäude wurden die im Gesetz vorgegebenen Reduktionsziele im Jahr 2021 verfehlt, so dass die zuständigen Ministerien Sofortprogramme vorlegen mussten, um zusätzliche Emissionsminderungen zu erreichen. Beide Programme wurden vom Expertenrat für Klimafragen in seinem Prüfbericht vom August 2022 als unzureichend eingeschätzt. Insbesondere im Verkehrssektor sei eine deutliche Überschreitung der für 2030 definierten Emissionsmenge zu befürchten. Auch in seinem Zweijahresgutachten vom November 2022 weist der Expertenrat darauf hin, dass die bisherigen Emissions-Reduktionsraten bei weitem nicht ausreichen, um die Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen.
Seither sind jedoch keine weiteren bereichsspezifischen Maßnahmen beschlossen worden, um wieder auf den gesetzlich vorgegebenen Reduktionspfad zurückzukehren. Vielmehr hat die FDP stattdessen die Sektor-Ziele selbst sowie die Festlegung von Terminen für den Ausstieg aus fossilen Technologien wie Verbrenner-Motor sowie Öl- und Gasheizung in Frage gestellt.
In Folge der kriegsbedingten Entscheidung, die Gasversorgung umzustellen, wurden außerdem auf Bundesebene neue Beschlüsse gefasst, die mit den langfristigen Klimazielen kaum vereinbar sind. Besonders bedenklich ist, dass durch die staatlich finanzierte Schaffung von mehr als einem Dutzend LNG-Terminals eine Infrastruktur aufgebaut wird, mit der diese besonders ineffiziente und umweltschädliche Variante der Gasversorgung auf Jahrzehnte festgeschrieben wird. Sie ist ganz offensichtlich in diesem Umfang nicht notwendig, um die kurzfristig entstandenen Lücken zu schließen. Ob sie mittelfristig für grünen Wasserstoff genutzt werden kann, ist unklar.
Weitgehende Nichtbeachtung durch die Verwaltungsgerichte
Die Umsetzung der Klimaziele wird durch eine Vielzahl von administrativen Einzelentscheidungen beeinflusst, über deren Rechtmäßigkeit Verwaltungsgerichte zu entscheiden haben. Also sollte man meinen, dass sich der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts auch in deren Rechtsprechung niederschlägt. Dies ist jedoch bisher nur sehr eingeschränkt festzustellen. Dabei sind drei unterschiedliche Konstellationen zu unterscheiden.
Zunächst kann das Klimaschutzziel herangezogen werden, um Maßnahmen zu rechtfertigen, die Grundrechte von Bürgern oder Unternehmen einschränken. Hierfür gibt es einzelne Beispiele. So ist etwa die starke Erhöhung der Parkgebühren in Freiburg vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim unter ausdrücklichem Hinweis auf den Klimabeschluss für rechtmäßig erklärt worden. Seine Begründung wurde vom Gerichtshof genutzt, um eine politisch mehrheitsfähige Klimaschutzmaßnahme zu rechtfertigen, nachdem sie von Betroffenen vor Gericht angefochten wurde.
In einer zweiten Konstellation könnte das Klimaschutzziel genutzt werden, um klimaschädliche Projekte zu verhindern, die politisch beschlossen wurden. Hierfür ist bisher kein einziges Beispiel aus der Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte bekannt. Vielmehr haben verschiedene Gerichte betont, dass sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ergebe, dass der Klimaschutz in der planerischen Abwägung ein besonderes Gewicht habe. Prototypisch ist die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Mai 2022 über den Weiterbau der A 14 in Sachsen-Anhalt. Es verlangte zwar erstmals, dass der Belang des globalen Klimaschutzes überhaupt in die Abwägung einbezogen wird. Es sei aber nicht rechtwidrig, dass der Lückenschluss in diesem Teil des Autobahnnetzes für wichtiger erachtet werde. Zum einen gebe es keine konkretisierenden Vorgaben für die Gewichtung des Klimaschutzes. Zum zweiten stelle die CO2-Belastung durch das Vorhaben nur einen „äußerst untergeordneten Anteil“ der Sektor-Emissionen dar. Letztlich sei die Weiterführung des Autobahnbaus politisch gewollt.
Schließlich könnte der Beschluss drittens genutzt werden, um zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen gegen politische Widerstände durchzusetzen. So hat etwa die Deutsche Umwelthilfe verschiedene Klagen eingereicht, u.a. zur Durchsetzung eines gesetzeskonformen Sofortprogramms im Sektor Verkehr, über die noch nicht entschieden wurde. In Baden-Württemberg wurde immerhin die Landesregierung vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim verurteilt, ein aktuelles Klimaschutzkonzept zu erstellen. Auch hier ging es aber allein um das fehlende neue Konzept, dessen Verabschiedung gesetzlich vorgeschrieben ist, nicht um konkrete Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen.
Fehlende Durchsetzung durch das Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat nach dem Klimaschutzbeschluss mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, in denen mehr Klimaschutz eingefordert wurde. Dabei ist zu beachten, dass viele Kammerbeschlüsse gar nicht veröffentlicht werden, so dass unklar ist, wie viele einschlägige Entscheidungen bereits getroffen wurden.
Mit Beschluss vom 18. Januar 2022 wurden Verfassungsbeschwerden verworfen, die von verschiedenen Bundesländern verlangten, dass sie Landesklimaschutzgesetze erlassen bzw. geltende Gesetze so anpassen, dass für das Land ein Reduktionspfad für Treibhausgasemissionen zur Einhaltung des verbleibenden CO2-Budgets und hinreichende Instrumente zur Erreichung und Überprüfung der dafür erforderlichen Klimaschutzziele eingeführt werden. Zur Begründung führte die Kammer an, dass im Bundesstaat unterschiedliche Regelungen zur Koordination der verfassungsrechtlich erforderlichen Klimaschutzmaßnahmen denkbar seien, so dass keine Verpflichtung der Länder bestehe, eigene Reduktionspfade zu definieren. Diese Prämisse setzt allerdings voraus, dass die Zielumsetzung auf Bundesebene funktioniert, was wie gesehen durchaus zweifelhaft ist.
Ebenso abgewiesen wurde mit Beschluss vom 15. Dezember 2022 eine Verfassungsbeschwerde, die auf die Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesautobahnen zielte. Die Beschwerdeführenden hätten nicht substantiiert dargelegt, dass gerade das Fehlen eines allgemeinen Tempolimits eingriffsähnliche Vorwirkung auf ihre Freiheitsgrundrechte entfalten könnte. Außerdem hätten sie ihre Annahme, das dem Verkehrssektor bis zum Jahr 2030 zugewiesene Emissionsbudget werde überschritten, nicht näher belegt. Das klingt fast so, als müsste man bis zum Jahr 2030 warten, denn vorher kann eine Zielverfehlung nicht bewiesen werden.
Auch eine Verfassungsbeschwerde gegen den sogenannten Tankrabatt wurde als unzureichend begründet verworfen, obwohl diese Steuersenkung gezielt zu einer befristeten Verbilligung fossiler Kraftstoffe führte und damit ein Anreiz für eine Erhöhung des Ausstoßes von Treibhausgasen gesetzt wurde, so dass das Gesetz aktiv zur Erderwärmung beitrug. Inzwischen steht fest, dass der Benzinverbrauch in Deutschland im Jahr 2022 trotz des starken Preisanstieges sogar insgesamt zugenommen hat.
Auf der Habenseite des Klimaschutzes ist lediglich der Beschluss vom 23. März 2022 zu nennen, wonach die in Mecklenburg-Vorpommern eingeführte Pflicht zur Beteiligung von Anwohnern und standortnahen Gemeinden an Windparks im Grundsatz zulässig ist. Hier ging es aber auch nur um die Rechtfertigung einer politisch mehrheitsfähigen Maßnahme.
Fazit
Weder das Bundesverfassungsgericht noch die Verwaltungsgerichte haben festgestellt, dass die bisherigen Maßnahmen zum Klimaschutz unzureichend sind. Erst recht sind Klagen gescheitert, die verlangt haben, dass konkrete Maßnahmen wie z.B. ein Tempolimit vorgeschrieben werden. Aber auch erwiesenermaßen klimaschädliche Projekte wie z.B. der Neubau einer Autobahn wurden noch nie aus diesem Grund gestoppt. Die Justiz nutzt die verfassungsrechtliche Verpflichtung, der Erderwärmung entgegenzuwirken, bisher ausschließlich, um bereits beschlossene Maßnahmen zu rechtfertigen, oder um Präzisierungen auf der Zielebene zu verlangen.
Diese Strategie respektiert den politischen Entscheidungsspielraum der Parlamente und Regierungen. Sie setzt aber voraus, dass diese ihrerseits die in der Begründung des Klimaschutzbeschlusses durchaus deutlich formulierte Notwendigkeit von konkreten Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen hinreichend ernst nehmen. Wie die Gutachten des Expertenrats Klima und die jüngeren Entwicklungen belegen, ist das aber auf Bundesebene nicht der Fall. Auch die meisten Bundesländer und Kommunen unternehmen zu wenig, um den Klimaschutz mit der erforderlichen Geschwindigkeit voranzubringen.
Erst dann, wenn die Entscheidungsträger und die sie kontrollierende Justiz wie auch die öffentliche Meinung ernst nehmen, dass die Erderwärmung ein irreversibler Kumulationsschaden ist, besteht die Chance auf eine Abkehr von der Verzögerungstaktik der letzten Jahre. Die Menge der emittierten Treibhausgase beruht auf Millionen von täglichen Einzelentscheidungen, die jeweils für sich nur einen äußerst geringfügigen Einfluss auf die Erderwärmung haben, in der Summe aber zu einer präzedenzlosen Veränderung des Klimas führen, deren schädliche Folgen immer offensichtlicher werden. Eine verstärkte Förderung der erneuerbaren Energien allein reicht als Strategie nicht aus.
Weitere Klagen gegen klimaschädliche Entscheidungen oder Unterlassungen bleiben deshalb notwendig, auch wenn die bisherige Bilanz dürftig ist. Die Annahme, der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts könne durch Überzeugung wirken, hat sich nicht als berechtigt erwiesen. Immerhin formuliert der Beschluss, dass sich eine Verletzung der Schutzpflicht „derzeit“ nicht feststellen lasse. Weil es sich um einen menschenrechtlich begründeten und wissenschaftlich fundierten Anspruch auf Maßnahmen zur Erhaltung von Gesundheit, Leben und Eigentum handelt, kann und muss er auch gegen die träge Mehrheit durchgesetzt werden, denn das ist die originäre Aufgabe der Rechtsprechung, insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es wird Zeit, die juristischen Instrumente zu schärfen, denn die Freiheit der künftigen Generationen muss durch sofortiges Handeln gesichert werden.