„Jeder, der versuchen würde, das Bundesverfassungsgericht auszuhebeln, würde sich verheben“
Verfassungsgerichte haben es schwer im Moment in der Welt. Ob in Polen, in der Türkei, in den USA – wenn Richter ihre Aufgabe erfüllen und politische Macht an ihre verfassungsrechtlichen Bindungen erinnern, machen sie immer öfter die Erfahrung, dass die Macht sich das nicht ohne weiteres gefallen lässt. Was geht da vor? Wie deuten Sie dieses Phänomen?
Aus meiner Sicht ist das ein grundsätzlicheres Thema, das nicht nur die Verfassungsgerichtsbarkeit betrifft. Es ist ein Erosionsprozess mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie festzustellen. Die Vorstellung, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind und der Vormarsch der Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr aufzuhalten ist, stimmt nicht. Autokratische Regime breiten sich aus, Rechtstreue nimmt ab und die Verfassungsgerichtsbarkeit kommt in vielen Ländern unter Druck. Auch die Akzeptanz internationaler Gerichte, wie beispielsweise des Internationalen Strafgerichtshofs oder des EGMR, sinkt.
Was sind die Ursachen für diese Entwicklung?
Ich sehe vor allem zwei Ursachen. Zum einen erleben wir, dass ein Antagonismus aufgebaut wird zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nach dem Motto: Wenn das Volk es will, dann muss es auch so sein und rechtsstaatliche Bindungen müssen zurückstehen. Ich halte das für falsch. Dazu kommt, dass wir in vielen Bereichen eine Tendenz zu einem gewissen Maß an Rechtsvergessenheit haben. An der einen oder anderen Stelle gilt der Grundsatz ,Not kennt kein Gebot’ – etwa bei der Anwendung des Dublin-Abkommens in der Flüchtlingskrise, aber auch der Maastricht-Kriterien und der Sanktionsmechanismen bei Verstößen in der Eurozone. Wenn die jetzige Chefin des IWF mit dem Satz zitiert wird, man habe alle selbst gesetzten Regeln gebrochen, um den Euro zu retten, dann ist das ein Indiz dafür, dass das Bewusstsein um die Verbindlichkeit des Rechts abgenommen hat. Dann darf man sich nicht wundern, wenn anschließend rechtsstaatliche Institutionen und auch Verfassungsgerichte in Frage gestellt werden.
Sie sehen also einen direkten Zusammenhang zwischen dem europäischen Krisenmanagement in der Flüchtlings- und Eurokrise und dem Anstieg des Populismus?
Nein, aus meiner Sicht sind das zwei getrennte Stränge, die sich aber in der Wirkung summieren. Alarmierend ist aber, dass wir diese Erosionserscheinungen des Bewusstseins um die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Bindungen längst auch mitten in Europa finden. Im Vereinigten Königreich wurden Richter des High Courts nach dem Brexit-Urteil als ,Feinde des Volkes’ bezeichnet. Das zeigt, dass dieses Denken durchaus auch an Orten vorhanden ist, an denen man damit erst einmal nicht rechnen würde.
Wenn der „Wille des Volkes“ gegen die etablierten Eliten und den Rechtsstaat mobilisiert und in Stellung gebracht wird, findet sich gewöhnlich die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Seite der Angegriffenen wieder. In Deutschland dagegen war es das Bundesverfassungsgericht selbst, das gelegentlich hat anklingen lassen, dass das Volk sich in den parlamentarischen Debatten nicht mehr recht repräsentiert findet, und sich selbst als Forum zur Artikulation der Volks-Meinung angeboten hat. Haben Sie da eine Schlange genährt, die Sie womöglich jetzt selber beißt?
Nein, das glaube ich nicht. Der Antagonismus, der da aufgemacht wird, ist in der Sache falsch. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen nicht im Widerspruch, sondern ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit. Wenn davon geredet wird, dass man den Willen des Volkes vollziehe, dann ist das in der Regel nie das ganze Volk, sondern eine Mehrheit, auf die man sich bezieht. Die Idee der Demokratie ist, dass die Mehrheit in vorgegebenen, rechtsstaatlichen Strukturen Herrschaft auf Zeit ausübt und nicht der aktuellen Minderheit ihre Rechte nimmt. Das Wachen über die Rechte der Minderheit ist die wesentliche Aufgabe des Rechtsstaates und der Verfassungsgerichte. Deshalb steht Rechtsstaatlichkeit erstens mit Verfassungsgerichtsbarkeit in einem vielleicht nicht notwendigen, aber doch ziemlich plausiblen Zusammenhang und zweitens mit Demokratie nicht im Widerspruch, sondern im Verhältnis gegenseitiger Bedingung.
Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren viel einstecken müssen, vor allem von der Unionsfraktion im Bundestag. Sehen Sie auch in Deutschland eine Tendenz am Werk, die Verfassungsgerichtsbarkeit zu delegitimieren?
Nein. Man muss unterscheiden zwischen sachlicher Kritik an einzelnen Entscheidungen – das muss in einer offenen Gesellschaft möglich sein, und das Gericht muss das aushalten – und dem Infragestellen der Institution als solcher. Das ist etwas ganz anderes. Soweit ersichtlich, findet das in Deutschland bislang nicht statt. Im Gegenteil: das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bevölkerung hohes Ansehen. Aber natürlich könnte auch das Bundesverfassungsgericht in Bedrängnis geraten, wenn sich die politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen verändern. Anzeichen dafür sehe ich nicht.
Sehen Sie auch für das Bundesverfassungsgericht Anlass zur Selbstkritik? Etwa, was Ihre Vorgaben in punkto Wahlrechtsgleichheit betrifft, die den Bundestag regelrecht zur Verzweiflung treiben?
Natürlich muss das Gericht seine eigene Rechtsprechung immer wieder selbstkritisch beleuchten. Unsere Rechtsprechung ist zwar durch ein hohes Maß an Konsistenz und Kontinuität geprägt, aber es gibt immer wieder die Notwendigkeit unter veränderten Rahmenbedingungen, an der einen oder anderen Stelle nachzusteuern, um Buchstaben und Geist der Verfassung Rechnung zu tragen. Das haben wir im NPD-Verfahren gerade gemacht, wo wir den 60 Jahre alten Maßstab aus dem KPD-Urteil für die Verfassungswidrigkeit von Parteien in einem Punkt angepasst haben. Das ist normal. Anlass zur Selbstkritik gäbe es dann, wenn das Bundesverfassungsgericht sagen würde: das, was wir sagen, ist ein für alle Mal die Wahrheit und darf nie mehr kritisch reflektiert werden. Das tun wir aber nicht.
Ich gehe mal davon aus, dass Sie diese Andeutung einer Rechtsprechungskorrektur in punkto Wahlrecht nicht näher konkretisieren möchten, oder?
Tatsache ist, dass die Wahlrechtsgrundsätze, wie sie in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG festgeschrieben sind, sich zum Teil gegenseitig begrenzen, und dass es Spannungsverhältnisse zwischen ihnen gibt. Die Allgemeinheit der Wahl wird gefördert, wenn die Briefwahl großzügig zugelassen wird, woraus sich aber Probleme mit der Geheimheit und Unmittelbarkeit der Wahl ergeben können. Das ist nun mal so. Der Gesetzgeber hat den Auftrag, diese Spannungsverhältnisse auszugleichen. Ob er dabei die vorgegebenen Grenzen der Verfassung beachtet hat, haben wir zu prüfen und zu entscheiden, wenn wir mit der Frage befasst werden.
Die Kritik der Parlamentarier bezieht sich oft darauf, dass man sich von Karlsruhe einer Art Double-Bind-Spiel unterworfen fühlt: einerseits wird ihre Verantwortung in den Mittelpunkt der Demokratie gerückt, andererseits das Parlament mit lauter detaillierten Vorgaben aus Karlsruhe eingemauert. Haben Sie dafür Verständnis?
Unser Maßstab ist allein das Grundgesetz. Daher geben unsere Entscheidungen die Vorgaben der Verfassung wieder. Sie sind mal enger, mal weniger eng. Im Einzelfall kann man immer darüber reden, ob diese Vorgaben durch das Gericht hinreichend präzise beschrieben worden sind oder nicht. Das ist normal. Dass die Politik eine Tendenz dazu hat, ihre Spielräume eher großzügig zu bemessen, halte ich ebenfalls für normal.
Wenn wir eines im Jahr 2016 gelernt haben, dann wie schnell sich die Dinge ändern und das eben noch Undenkbare in Realität umschlagen kann. Wenn Sie sich ein Szenario vorstellen, wo auch in Deutschland eine populistische Mehrheit an die Macht gelangt – wie gut wäre das Bundesverfassungsgericht gegen eine feindliche Übernahme wie in Polen gewappnet?
Alles hängt davon ab, wie stark und widerstandsfähig die gesellschaftlichen Strukturen sind, in die das Bundesverfassungsgericht eingebettet ist. Mein Befund ist da mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland sehr positiv. Jeder, der versuchen würde, die Stellung des Bundesverfassungsgerichts zu unterminieren, und sei es im Wege einfach-gesetzlicher Regelungen wie in Polen, würde sich auf einen Weg begeben, der in Deutschland nicht mehrheitsfähig ist und am Ende am politischen und zivilgesellschaftlichen Widerstand scheitern würde.
Auch unterstellt, dass sich eine politische Mehrheit bis dahin tatsächlich gebildet hätte?
Auch dann. Das Eis ist sicherlich dünn, auf dem wir uns bewegen. Umso aufmerksamer muss man jetzt sein, und umso wichtiger ist es, den Wert eines unabhängigen Verfassungsgerichts ins Bewusstsein zu rufen. Das Bundesverfassungsgericht wird von einer breiten gesellschaftlichen Wertschätzung getragen. Wir müssen daran arbeiten, dass das so bleibt. In dieser Konstellation ist das Bundesverfassungsgericht stark und jeder, der versuchen würde, das Bundesverfassungsgericht auszuhebeln, würde sich verheben.
Gilt das auch für den Weg, das Bundesverfassungsgericht personell zu verändern? Ist das Verfahren, in dem Richterinnen und Richter gewählt werden, hinreichend abgesichert?
Wir haben einen sehr klugen Mechanismus, der dadurch geprägt ist, dass im Regelfall ein Verfassungsrichter nur unter Einbeziehung der Opposition gewählt werden kann. Der ist einfach-gesetzlich geregelt, könnte also mit einfacher Mehrheit geändert werden. Aber auch das ist für mich unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht vorstell- und für die Zukunft nicht wünschbar.
Verfassungsrechtlichen Schutz dagegen gäbe es nicht?
Nein. Das ist eine Frage, die nicht auf der Ebene des Rechts entschieden wird, sondern von der politischen Gestaltung und dem diese determinierenden gesellschaftlichen Bewusstsein abhängt. Solange die Gesellschaft ein Bewusstsein dafür hat, wie wichtig eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit ist, und damit ein Auswahlverfahren, das sicherstellt, dass eine einseitige Besetzung des Gerichtes unterbleibt – solange dieses Bewusstsein da ist, wird sich da nichts ändern.
Sie haben vorhin kurz das NPD-Verbotsverfahren angesprochen, das Sie als Berichterstatter im Zweiten Senat maßgeblich geprägt haben. Der Hinweis des Gerichts, dass der Gesetzgeber der nicht verbotenen NPD per Verfassungsänderung die staatliche Parteienfinanzierung wegnehmen könnte, ist in der Politik sofort begeistert aufgegriffen worden. Jetzt plant der Bundesrat, dies im Verwaltungsweg zu regeln und dem Bundestagspräsidenten die Kompetenz zu geben, verfassungsfeindliche Parteien von der Finanzierung auszuschließen. Würden Sie sich wohl dabei fühlen, wenn es künftig hieße, dass Ihr Senat am Anfang der Kausalkette dazu stand?
Das ist eine verfassungspolitische Debatte, und die hat nicht das Bundesverfassungsgericht zu führen. Die Vorgaben des Grundgesetzes, in seiner derzeitigen Form, sind klar: Die Parteien haben einen verfassungsrechtlichen Status, auf dessen Grundlage sie einen Anspruch auf Gleichbehandlung haben, es sei denn, die Partei verfolgt verfassungsfeindliche Ziele. Über die Frage, ob eine Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, hat das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Das ist nach durchaus intensiver Diskussion im Parlamentarischen Rat sehr bewusst so entschieden worden. Wenn man jetzt mit Blick auf die Parteienfinanzierung von diesem Mechanismus abweichen will, wäre das in besonderer Weise begründungsbedürftig.
Aber wenn es zu einer solchen Verfassungsänderung käme, wäre das Bundesverfassungsgericht vor vollendete Tatsachen gestellt, oder? Dagegen würde höchstens noch der Befund helfen können, dass es sich um verfassungswidriges Verfassungsrecht handelt.
Der Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung ist nicht ohne Verfassungsänderung möglich. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist in seinem Handeln frei, soweit er nicht die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG überschreitet. Dass diese so genannte „Ewigkeitsklausel“ eine Neuregelung der Parteienfinanzierung in diesem Punkt ausschließen würde, scheint mir nicht sehr nahe zu liegen.
Viele fragen sich jetzt nach Ihrem Urteil, wozu ein Parteiverbotsverfahren gut sein soll, das erst greifen kann, wenn die betreffende Partei schon so stark ist, dass es womöglich sowieso schon zu spät dafür ist. Trifft Sie dieser Einwand?
Ich will nicht unsere eigene Entscheidung kommentieren. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat eine Entscheidung auf der Basis dessen getroffen, was die Verfassung vorgibt. Wir haben einstimmig entschieden und sind überzeugt, dass wir dem grundgesetzlichen Konzept des Schutzes der Freiheit durch die – nur als ultima ratio in Betracht kommende – Beschränkung der Freiheit Rechnung getragen haben.
Was der Staat gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen unternehmen kann, ist die eine Frage, was die Zivilgesellschaft tun kann, die andere. Es gibt immer wieder Beispiele von privaten Akteuren wie Hotelketten oder Banken, die sich weigern, mit Rechtspopulisten oder Rechtsextremen Verträge abzuschließen. Stößt auch dieses zivilgesellschaftliche Engagement an verfassungsrechtliche Grenzen?
Auf die privatrechtliche Ebene wirkt Verfassungsrecht in Form der Drittwirkung der Grundrechte ein. Grundsätzlich gilt das Prinzip der Privatautonomie, und das lässt viele Spielräume zu. Ob das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 GG diese Spielräume einschränkt, muss im Einzelfall bewertet werden.
Im rechtspopulistischen Diskurs wird auch viel mit Verfassungsbegriffen operiert, etwa mit dem der Volkssouveränität. „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“, heißt es in Art. 20 Abs. 1 GG. Was ist das für ein Volk, von dem da die Rede ist?
Das ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt. Volk im Sinne von Art. 20 GG ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen und derjenigen, die ihnen nach Art. 116 GG gleich gestellt sind. Das ist das Volk im Sinne des Grundgesetzes.
Das heißt, das ist ein Rechtsbegriff und kein ethnisch-kultureller Begriff?
Ja, aus verfassungsrechtlicher Sicht eindeutig. Wir haben im NPD-Urteil sehr deutlich gemacht, dass die Idee der ethnisch definierten Volksgemeinschaft mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes inkompatibel ist.
Eine andere Verfassungsnorm, von der unter Rechtspopulisten immer wieder die Rede ist, ist das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG. Sie hatten anfangs die Regierungspolitik in der Flüchtlings- und Eurokrise als „Rechtsvergessenheit“ bezeichnet. Wenn man dieses Urteil teilt – kommt man von dort auf irgendeinem Weg zu einem solchen Widerstandsrecht?
Nein. Damit Art. 20 Abs. 4 GG ins Spiel kommt, bräuchte man zwei Dinge: einen Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, also auf die zentralen Elemente eines freiheitlichen Verfassungsstaates, einen Generalangriff auf Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde. Und man bräuchte ein völliges Versagen der Institutionen, die aufgerufen sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen. Es ist offensichtlich, dass diese Voraussetzungen derzeit nicht vorliegen und sich auch nicht abzeichnet, dass diese in naher Zukunft vorliegen könnten.
Ein dritter Verfassungsrechtstopos, der im rechtspopulistischen Diskurs immer wieder auftaucht, ist die Meinungsfreiheit – im Sinn von „das wird man doch noch sagen dürfen!“. Könnten Sie das aufklären? Was hat Kritik an bestimmten Äußerungen und das Einfordern guter faktischer und normativer Gründe mit einem Eingriff in die Meinungsfreiheit zu tun?
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist zentral für die Demokratie. Aber wer die Meinungsfreiheit benutzt, um den demokratischen Diskurs zu unterbinden, missbraucht sie. Meinungsfreiheit heißt genau das Gegenteil, nämlich dass ich aushalten muss, dass es Leute gibt, die das, was ich tue und sage, hart und vielleicht auch ungerecht kritisieren.
Die Fragen stellte Maximilian Steinbeis.
„‚Das heißt, das ist ein Rechtsbegriff und kein ethnisch-kultureller Begriff?‘
Ja, aus verfassungsrechtlicher Sicht eindeutig. Wir haben im NPD-Urteil sehr deutlich gemacht, dass die Idee der ethnisch definierten Volksgemeinschaft mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes inkompatibel ist.“
Ich glaube, hier gerät das Ganze etwas auf die falsche Bahn, weil Interviewer und Interviewter wohl was anderes darunter verstehen. Klar ist zwar, dass das GG nur den Rechtsbegriff des Deutschen kennt und keinen völkischen. Klar ist aber auch, dass die Regierung und das Parlament das Staatsvolk nicht durch eine vollkommen bedingungslose Einbürgerungspolitik derart ändern dürfen, dass die Deutschen zur Minderheit geraten. Genau deswegen sind auch Vorschläge, Ausländern pauschal ein Wahlrecht einzuräumen, sehr kritisch zu bewerten. Nicht umsonst ist im GG sowohl in der Präambel als auch ansonsten stets vom deutschen (!) Volk die Rede. Zur Einbürgerung muss hieraus folgend stets eine gewisse Assimilation und Integration gehören. Deutschsein ist mithin nicht nur ein austauschbarer und beliebiger Rechtsbegriff, sondern knüpft unmittelbar an die Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur an.
@Tobias Müller: Ich kann nicht erkennen, wo Herr Müller und Herr Steinbeis aneinander vorbeireden. Ich befürchte, das Missverständnis liegt auf Ihrer Seite.
Auch durch eine „vollkommen bedingungslose Einbürgerungspolitik“ können die Deutschen überhaupt nicht „zur Minderheit gemacht werden“. Denn wer eingebürgert ist, ist ja selbst Deutscher.
Und die Diskussionen zum Ausländerwahlrecht betreffen allein das Wahlrecht von Menschen, die per definitionem nicht eingebürgert sind. Diskutiert und von der h.M. bejaht wird also die Frage, ob das Wahlrecht die Staatsangehörigkeit, also u.U. eine Einbürgerung, voraussetzt. Für die vorgelagerte Frage der Einbürgerung lassen sich daraus keine Erkenntnisse gewinnen.
Dementsprechend ist, wo im Grundgesetz vom deutschen Volk die Rede ist, das Volk derer, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, gemeint (Art. 116 Abs. 1 GG).
Wie dann das Staatsangehörigkeitsrecht einfachrechtlich aussieht, ist eine andere Frage. Aber eben eine Frage, die der demokratische Gesetzgeber zu beantworten hat. Da ist viel vorstellbar (ius soli, ius sanguinis), aber in der Tat ist der Gesetzgeber da erst einmal frei. Ziemlich beknackt und auch nicht mehrheitsfähig wäre es sicher, jeden dritten Montag im Monat per Lotterie 17 chinesische Staatsbürger zu Deutschen zu machen und Ihnen einen Pass zuzuschicken. Aber der grundgesetzliche Begriff des Volkes oder des Deutschen stünde dem nicht entgegen.
@schorsch: Wäre völkerrechtswidrig und via Art. 25 GG verfassungswidrig, random Chinesen einzubürgern. Ohne Antrag auf Einbürgerung? Hallo?
@Bernd: Würde ich nicht bezweifeln, hab ich auch nicht. Sie dürfen meinen Formulierungen Absicht unterstellen.
Frau Ösuguz, an der Spitze einer „Expertenkommission“ hat das Ergebnis dieser Kommission vorgelegt: Ein neues Leitbild für Deutschland.
„…die Kommission (schlägt u.a. )vor, dass dauerhaft in Deutschland lebende Drittstaatsangehörige das kommunale Wahlrecht sowie Drittstaatsangehörigen und Unionsbürger_innen das Stimmrecht
in Volksabstimmungen gewährt wird.“
http://library.fes.de/pdf-files/dialog/13185.pdf
Und kaum von Frau Bundesministerin Ösuguz vorgeschlagen, wird der Vorschlag in NRW schon parlamentarisch umgesetzt:
„Die Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PIRATEN sprachen sich für die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländerinnen und Ausländer, die nicht aus Mitgliedstaaten der EU kommen, aus.“
https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-14275.pdf;jsessionid=C780950A735B366B6975912B6EBD1068.ifxworker
Angesichts dieser Entwicklung fragt man sich überrascht und entsetzt, welche demokratische Legitimation eine Expertenkommission einer parteinahen Stiftung besitzt, für Deutschland ein neues Leitbild zu erstellen.
Sind das nicht Fragen, die in den Bundestag gehören?
Einfach unglaublich!
@H. Niklaus: Nicht aufregen. Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Nein. Das sind Fragen, die in den Landtag gehören (kommunales Wahlrecht = Landesrecht). Und dort auch behandelt worden sind. Möglicherweise unter Rückgriff auf Anregungen aus der Expertenkommission. Fürs Formulieren einer Expertenmeinung brauchen die keine demokratische Legitimation, genauso wenig wie Sie fürs Dagegensein.
Außerdem ist das Off Topic an dieser Stelle.
Herr Müller betont in dem Interview, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts allein die Vorgaben der Verfassung beschreiben. Das klingt für mich so, als würde er selbst glauben, dass dessen Entscheidungen rein objektiv seien. Hält sich Herr Müller für einen bloßen „Subsumtionsautomat“? Das wäre nach j