11 September 2022

Kindeswohl schlägt Elternrecht

Zur Masernimpfpflicht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerden gegen die Auf- und Nachweispflicht von Impfschutz gegen Masern (kurz: „Masernimpfpflicht“) hat – wie schon die Entscheidung über die Eilanträge vor rund zwei Jahren1) – viel Aufmerksamkeit erregt. Sie ist in den vergangenen Wochen bereits Gegenstand verschiedener Beiträge geworden (etwa hier und hier), und wird im Schrifttum sicherlich auch in Zukunft intensiv rezipiert werden. Dennoch lohnt sich ein weiterer Blick auf den zuvor mit Spannung erwarteten und kontrovers diskutierten Beschluss, weil die attestierte Verfassungskonformität des § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG trotz ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nicht nur für die Impfpflichtigen selbst von Bedeutung ist. Vielmehr offenbart der Beschluss in diesem Punkt ein (zu?) weites Verständnis der Einschränkbarkeit der elterlichen Gesundheitssorge (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) zugunsten des Kindeswohls.

Sorgfältige Abwägung als roter Faden des Beschlusses

Zunächst ist festzuhalten, dass das Gericht im Rahmen der Angemessenheitsprüfung eine sorgfältige Abwägung der Risiken der Maserninfektion für vulnerable Personen einerseits und der Masernimpfung für die minderjährigen Beschwerdeführenden andererseits vorgenommen hat. Die Gefahren einer mitunter tödlich verlaufenden Infektion sind größer als die Risiken, die mit einer Masernimpfung einhergehen.2) Der Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Kinder, der – wie das Gericht betont – in besonderer Weise mit dem Eingriff in das Elterngrundrecht verwoben ist, ist deshalb zumutbar. Das Gewicht der Abwehrgrundrechte muss dem Gewicht der mit der Masernimpfpflicht zu erfüllenden Schutzpflicht Vorrang einräumen. Bei alledem steht die Abwägung auf der „tragfähigen Grundlage“ medizinisch-wissenschaftlich anerkannter Fakten (Rn. 108 ff., 143, 146, 149; zustimmend Hollo; hinsichtlich eines „Automatismus“ zwischen fachwissenschaftlicher Beurteilung und Sinnhaftigkeit einer Maßnahme aber warnend Rostalski).

Dabei ist es zugleich wertvoll, zu beachten, was sich wie ein roter Faden durch den Beschluss zieht: Das Bundesverfassungsgericht betont stets, dass es sich bei den angegriffenen Regelungen um intensive, „nicht unerhebliche Eingriffe“ in die Grundrechte der Beschwerdeführenden aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG handelt (Rn. 102, 117f., 129, 131, 139, 141, 147, 149). Was zunächst wie die Benennung einer Offensichtlichkeit erscheinen mag, ist von großer Bedeutung für die Akzeptanz sowohl der Masernimpfpflicht als auch der Entscheidung selbst: Das Gericht erkennt und achtet das individuell hohe und auch als solches wahrgenommene Gewicht der Belastung, die die Masernimpfpflicht den Beschwerdeführenden auferlegt. Für die Schlichtung des gesellschaftlichen Konflikts um Pflichtimpfungen ist es förderlich, dass die individuellen Bedenken und Vorbehalte der Beschwerdeführenden und anderer Betroffener, die die Masernimpfpflicht ebenfalls kritisch sehen oder gänzlich ablehnen, nicht bagatellisiert werden (dazu bezüglich der Entscheidung über die einrichtungsbezogene Covid-19-Impfpflicht hier).

Kombinationsimpfstoffe: erweiterte Impfpflicht ohne legitimen Zweck?

Ineinem Punkt dürfte der Beschluss seine kritischen Leser dennoch nicht zufriedenstellen. Das Gericht hält – allerdings nicht einstimmig (Rn. 170) – nach einer verfassungskonformen Auslegung daran fest, dass die Auf- und Nachweispflicht eines Masernimpfschutzes auch dann gelten darf, wenn kein Mono-Impfstoff gegen Masern zur Verfügung steht. Dass diese vermeintliche Ausnahme („… gilt auch, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten“) angesichts keines einzigen in Deutschland zugelassenen Monoimpfstoffs gegen Masern vielmehr die Regel darstellt, hatte Stephan Rixen bereits vor langer Zeit angemerkt.3) Insbesondere § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG war von Beginn des Gesetzgebungsverfahrens an Kritik ausgesetzt.4) Die Karlsruher Entscheidung ist diesbezüglich folgerichtig ebenfalls bereits aus berufenem Munde kritisiert worden.

Bundesverfassungsgericht billigt Miterfüllung von Schutzpflichten, die nicht aktiviert sind

Wenngleich das Gericht als legitimen Eingriffszweck zutreffend annimmt, dass ein Gemeinschaftsschutz mittels der – derzeit unterschrittenen – masernspezifischen Herdenimmunitätsquote von 95% erreicht werden soll, und damit die Erfüllung der aktivierten grundrechtlichen Schutzpflicht zugrunde legt, wird diese Überlegung nicht auf den Schutz vor weiteren Krankheiten übertragen, sondern zur Rechtfertigung der gewissermaßen erweiterten Impfpflicht herangezogen. Obwohl zumindest hinsichtlich der Krankheit Mumps eine geringere Herdenimmunitätsschwelle (92% Bevölkerungsimmunität sind ausreichend) in der Medizin anerkannt ist,5) seien die weiteren Grundrechtsbeeinträchtigungen, die mit der Verwendung von Kombinationsimpfstoffen einhergehen, ebenfalls gerechtfertigt, weil „damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren Krankheiten verbunden ist.“ Das kann angesichts des für den masernspezifischen Eingriff zugrunde gelegten legitimen Zwecks, nämlich der Erfüllung der Schutzpflicht vulnerabler Gruppen vor einer Maserninfektion, die gerade deshalb aktiviert ist, weil die masernspezifische Herdenimmunitätsschwelle derzeit unterschritten wird, zumindest angezweifelt werden.

Es kommt nicht auf den einen „Piks“ an, mit dem mehrere Impfstoffkomponenten gemeinsam verabreicht werden, sondern auf die damit provozierte, krankheitsspezifische Immunreaktion und damit auf die Schutzwirkung der einzelnen Substanz: Jedes einzelne Vakzin, jeder einzelne Wirkstoff, der dem menschlichen Organismus zugeführt wird, ist jeweils ein gesondert zu betrachtender Eingriff (so auch hier). Das Masernvakzin im Kombinationsimpfstoff verursacht die Bildung einer masern-spezifischen Immunität. Das Mumpsvakzin verursacht hingegen die Bildung der mumps-spezifischen Immunität. Deshalb bedarf es für die weiteren Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, die mit der Verwendung des Kombinationsimpfstoffs einhergehen, ebenfalls jeweils eines legitimen Zwecks. Dieser kann aber – anders als bei Masern – nicht darin bestehen, dass die staatliche Intervention vulnerable Gruppen vor einer Mumpsinfektion schützt, weil „weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können.“ Angesichts dieser veränderten Risikolage kann in Bezug auf Mumps gerade nicht von der Aktivierung einer grundrechtlichen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit vulnerabler Gruppen ausgegangen werden (tendenziell auch Gärditz), da die Mumps-Impfquoten derzeit bei 92,6% für die zweite Impfung liegen. Mangels Aktivierung kann eine Schutzpflicht daher nicht als legitimer Zweck für den Eingriff herhalten, der mit der „Mitimpfung“6) gegen Mumps einhergeht. Die weitergehenden Eingriffe sind nicht notwendig, um das Schutzziel – die Verhinderung einer Masernerkrankung (Rn. 146) – zu erreichen („Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist […] nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung“, Rn. 126) und führt gewissermaßen zu einer nicht notwendigen „Miterfüllung“ von Schutzpflichten. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die Entscheidung in diesem Punkt als „pragmatisch-realitätsgerecht“ gelobt wird, weil eine „staatlich verantwortete Beschaffung“ eines Mono-Impfstoffs mit einer Belastung der Allgemeinheit einhergehe (Rn. 127, kritisch auch hier, hier und hier).

In Ermangelung dieses drittbezogenen legitimen Zwecks einer aktivierten mumps-spezifischen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit der masern-spezifisch vulnerablen Gruppe stellt sich dann aber die Frage nach weiteren Rechtfertigungsgründen. Der Einwand, dass die Masern-, beziehungsweise in realiter die MMR(V)-Kombinationsimpfung „im Ergebnis zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes“ führt, läuft Gefahr, die fehlende Verpflichtung eines Grundrechtsträgers7) (hier: des Kindes) zum Schutz vor sich selbst nicht ausreichend zu beachten. Dieses in der Tendenz paternalistische Argument verdient sogleich aber auch im Lichte des Elternrechts noch einmal Beachtung. Insofern hat Rostalski Recht, wenn sie zu bedenken gibt, dass „immer öfter nach dem schützenden Staat gerufen“ werde, „dem die Aufgabe zuteilwird, den Einzelnen […] vor eigenem risikoerhöhenden Verhalten zu schützen“.

Die Argumentation der „Kindeswohldienlichkeit“ der Kombinationsimpfstoffe

In engem Zusammenhang mit der Kritik an der Billigung des (verfassungskonform ausgelegten) § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG muss gesehen werden, wie das Gericht die Eingriffsrechtfertigung des Elterngrundrechts prüft. Die Grundrechtspositionen der impfpflichtigen Kinder und ihrer Eltern sind hier „in spezifischer Weise miteinander verknüpft“ (Rn. 64). Da es nach Ansicht des Gerichts schon gerechtfertigt ist, Kombinationsimpfstoffe im Hinblick auf die körperliche Unversehrtheit der impfpflichtigen Kinder einzusetzen ist, kann sich für das Elterngrundrecht im Grunde genommen kein abweichendes Ergebnis abzeichnen: Weil eine krankheitsspezifische Risikoabwägung im Lichte von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergeben hat, dass der Eingriff verfassungskonform ist, kann die Prüfung des Elterngrundrechts kein anderes Resultat hervorbringen.8) Ein maßgebliches Argument dafür, dass aber dem „Eingriff in das Elternrecht insoweit kein besonders hohes Gewicht“ zukommt (Rn. 137), sieht das Gericht darin, dass nicht nur die Impfung gegen Masern, sondern auch gerade die Impfung mit einem empfohlenen Kombinationsimpfstoff „kindeswohldienlich“ sei (Rn. 136, 138, 144). Die Argumentation dieser „Kindeswohldienlichkeit“ bedarf einer gesonderten Untersuchung.

Zunächst lässt das Gericht keinen Zweifel daran aufkommen, dass die masern-spezifische Auf- und Nachweispflicht einen Eingriff in den Schutzbereich des Elterngrundrechts in Gestalt der Gesundheitssorge für das Kind darstellt (Rn. 65, auch Rn. 144: „… ist aber auch die elterliche Ausübung der durch das Elterngrundrecht geschützten Gesundheitssorge entgegen medizinischer Einschätzung verfassungsrechtlich grundsätzlich schutzwürdig“). Die elterliche Impfentscheidung ist ein „wesentliches Element des Sorgerechts“ (Rn. 69, 74, 135). Die Entscheidung der Eltern gegen eine Impfung ist also – weil sie dem Kindeswohl nicht schadet9) – in gleicher Weise vom Schutzbereich umfasst wie die Entscheidung dafür. Anderenfalls wäre der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG bei einer Entscheidung der Eltern gegen eine Impfung ihres Kindes schon gar nicht eröffnet.10)

Dann scheint jedoch das Argument nicht so recht stringent zu sein, dass der Gesetzgeber bei seiner Prognoseentscheidung in verfassungskonformer Weise berücksichtigt habe, dass die Impfung – auch mit Kombinationsimpfstoffen – gegen den Elternwillen den betroffenen Kindern zugutekomme und das Elternrecht auch aus diesem Grunde zurückstehen müsse. Dass der Eingriff in das Elternrecht den Eltern kein Handeln, Dulden oder Unterlassen vorschreibt, das dem anvertrauten Kind schadet, ist selbstverständlich. Zutreffend ist auch, dass Schutzimpfungen, die sich an den Empfehlungen der STIKO orientieren, den medizinischen Standard bilden11) (so auch Hollo). Bedeutsam ist dann aber, dass das Gericht feststellt, dass sich mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein ebenso weitreichendes Recht auf „medizinisch unvernünftige Entscheidung“ – sprich: die Nichtimpfung – wie bei Erwachsenen verbinde (Rn. 144).Vielmehr sei dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl die Vornahme empfohlener Impfungen regelmäßig dienlicher als ihr Unterbleiben (Rn. 144). Ausgehend von der zuvor auf Schutzbereichsebene getroffenen Wertung kann das eigentlich kein ausschlaggebendes Argument für das Zurückstehen des Elternrechts sein, weil dadurch ein auf Schutzbereichsebene genauso schützenswertes Verhalten auf der Rechtfertigungsebene schließlich effektiv doch so behandelt wird, als sei es von vornherein weniger schützenswert. Schließlich wird mit der Impfpflicht kein Elternverhalten verhindert, das dem Kind aktiv schadet, sondern nur solches, das ihm in gesundheitlicher Sicht nicht so optimal wie möglich dient.