29 August 2022

Masernimpfpflicht: Zur Notwendigkeit einer Debatte über die Grenzen des (bislang) erlaubten Risikos

Die Einführung einer Masernimpfpflicht für bestimmte Personenkreise markiert ein neuerliches Nachgeben gegenüber einem Zeitgeist, der immer weniger bereit ist, selbst altbekannte Gesundheitsrisiken zu tolerieren. Das Bundesverfassungsgericht gebietet dem keinen Einhalt – im Gegenteil. Als Gesellschaft sollten wir hierüber sprechen, zumal alles andere als ausgemacht ist, dass eben jene gesundheitsbezogene Risikoaversion mehr ist als ein medial getriebener Trend, dessen Akteure das kritische Fragen – gerade auch hinsichtlich vermeintlich uneingeschränkt feststehender naturwissenschaftlicher Wahrheiten – verlernt haben.

 Masernimpfpflicht als weitere Etappe auf dem Weg in den „Gesundheitspräventionsstaat“

Die seit Langem erwartete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Impfnachweis (Masern)“ – so bezeichnet das BVerfG seine Entscheidung – fällt zulasten der Beschwerdeführenden aus: Das Gesetz, insbesondere § 20 Abs. 8 S. 1 IfSG, ist – in den Grenzen einer teleologisch reduzierten Fassung, die sich auf die derzeit verfügbaren Kombinationsimpfstoffe bezieht – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verfassungskonform. Erwartungsgemäß löste der Beschluss eine Kontroverse aus, die sich derzeit zum einen um die Frage dreht, ob die nonchalante Einbeziehung anderer Vakzine in die Masern-„Impfpflicht“ im Wege der Billigung der dafür herangezogenen Kombinationsimpfstoffe zu Recht erfolgte (kritisch, Kießling; weniger eindeutig, Hollo). Zweitens wird über die Auswirkungen auf eine mögliche Covid-19-Impfpflicht spekuliert. Drittens richtet sich die Debatte darauf, ob die Entscheidung eine weitere Etappe auf dem Weg eines zunehmenden „Leerlaufens“ der Verhältnismäßigkeitsprüfung bedeutet. Letzteres wird mit dem Hinweis auf den weitgehenden Einschätzungsspielraum begründet, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber erneut explizit auch auf die Angemessenheit erstreckt und dabei seine eigene Aufgabe unter anderem in Abhängigkeit vom „Gewicht der gefährdeten Rechtsgüter, die der Gesetzgeber schützen will,“ (Rn. 104) und von bestehenden Unsicherheiten beispielsweise über die Wirksamkeit der gesetzgeberisch ergriffenen Maßnahmen (Rn. 121), auf die einer Vertretbarkeitskontrolle zurückstuft (kritisch Rixen, dort zur Entscheidung des BVerfG vom 27. April 2022 – Impfnachweis (COVID-19)). Dem hält Hollo entgegen, hierin liege „das Lehrstück einer schulmäßigen Grundrechtsprüfung“, „weil der Gesetzgeber über Unsicherheiten zu entscheiden hat“. Recht passen will dieser Einwand freilich nicht dazu, dass Hollo wenige Absätze zuvor darauf hinweist, hinsichtlich der Masern bestehe „angesichts weitestgehend gesicherter Erkenntnisse nur ein sehr geringes Maß an Unwissenheit und Unsicherheit“. Offenbar genügt schon eben jenes in den Augen Hollos für eine bloße Vertretbarkeitskontrolle, was jedenfalls mich nicht überzeugt. Selbstredend sind epistemische Unklarheiten auch für die Abwägung bedeutsam; dennoch bedarf es einer näheren Erklärung, weshalb dieses genuin normative Element nicht letztverbindlich durch das Gericht entschieden werden sollte.

Die Frage soll hier unter einem weiteren Gesichtspunkt vertieft werden, den Rixen in seiner Kritik des höchstrichterlichen Beschlusses vom 27. April 2022 zur Pflicht, eine COVID-19-Schutzimpfung in bestimmten beruflichen Kontexten nachzuweisen (§ 20a IfSG), kurz anspricht. Die Rede ist von einer Verschiebung des Zeitgeistes im Hinblick auf die Akzeptanz gegenüber Gesundheitsrisiken. Rixen umschreibt dies als die „Problematik des ‚Gesundheitspräventionsstaats‘“ und bringt damit treffend zum Ausdruck, wie sich in einer Gesellschaft eine immer größere Aversion gegenüber gesundheitsbezogenen Risiken ausbildet. In der Folge werden die Grenzen dessen, was bislang als erlaubtes Verhalten eingestuft wurde, zunehmend zugunsten erweiterter staatlicher Schutzpflichten verschoben. Damit verengt sich der Korridor der Eigenverantwortung hinsichtlich der in Rede stehenden Risiken. Immer öfter wird nach dem schützenden Staat gerufen, dem die Aufgabe zuteilwird, den Einzelnen vor den für seine Gesundheit gefährlichen Mitbürgern, aber auch vor eigenem risikoerhöhenden Verhalten zu schützen. Die Entscheidung zur Masernimpfpflicht liefert uns hierfür ein Paradebeispiel und zeigt, wie sehr das Bundesverfassungsgericht diesem Zeitgeist folgt und ihn zugleich weiter befeuert.

Dabei ist an die gravierenden Unterschiede zwischen den Masern und dem Coronavirus zu erinnern. In der Tat trifft eine Vielzahl an Argumenten, die nicht wenige an der Verfassungsmäßigkeit irgendwie gearteter „Impfpflichten“ hinsichtlich COVID-19 zweifeln lassen (siehe beispielhaft die Stellungnahmen vonAugsberg/Rixen/Rostalski/Tatari; Kingreen; Papier; Rostalski; Sacksofsky I und Sacksofsky II. Gegenteilig äußern sich zum Beispiel Huster (im Interview); Wachter; Wißmann), auf die Masern und die dafür entwickelten Vakzine nicht zu. Sowohl die Erkrankung als auch die Impfstoffe sind gut erforscht. Masern sind besonders ansteckend – weit mehr als verschiedene Varianten des Coronavirus (Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juli 2022 (Impfnachweis [Masern]), Rn. 15). Zugleich ist der Impfstoff ordnungsgemäß zugelassen und dies seit vielen Jahren. Über Nebenwirkungen und die Häufigkeit von Impfschäden besteht ein hoher Kenntnisstand; sie sind deutlich seltener als bei den Covid-19-Impfstoffen. Zugleich wissen wir, dass durch eine Schutzimpfung ein lebenslanger Impfschutz ausgelöst wird, der auch die Nichtansteckungsfähigkeit umfasst (sog. sterile Immunität). All dies lässt sich hinsichtlich der aktuell verfügbaren Vakzine gegen COVID-19 nicht (sicher) sagen, weshalb schon die epistemischen Lücken das Pendel weit in Richtung auf eine Ablehnung hierauf gerichteter „Impfpflichten“ ausschlagen lassen.

Bewertung als originäre Aufgabe von Normwissenschaftlern

Welche Konsequenzen sind hieraus zu ziehen? Das Bundesverfassungsgericht fragt danach, ob der Gesetzgeber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne die entgegenstehenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter in vertretbarer Weise gegeneinander abgewogen hat (Rn. 130). Dass dies der Fall ist, ergibt sich für das Bundesverfassungsgericht sodann im Wesentlichen aus der Übereinstimmung mit empirischen Erkenntnissen zur Gefährlichkeit der Masernerkrankung und der Wirkung der verfügbaren Vakzine. Das Gericht betont insoweit die „tragfähigen Grundlagen“ (Rn. 146) der gesetzgeberischen Wertung und wiederholt diese seinerseits mehrfach unter Bezugnahme auf das Robert-Koch-Institut und die Ständige Impfkommission (s. nur Rn. 149, 151 f.). Damit kann sich der Eindruck aufdrängen, dass eine größtmögliche Übereinstimmung der gesetzgeberischen Entscheidung mit der fachwissenschaftlichen Einschätzung hinsichtlich der Sinnhaftigkeit einer Maßnahme (hier: einer „Impfpflicht“) besondere Gewähr für deren Verfassungsmäßigkeit liefert.1) Vor der unhinterfragten Annahme eines solchen Zusammenhangs oder gar eines Automatismus ist indes zu warnen. Denn: Es ist eine Sache, wenn die Angehörigen bestimmter empirisch arbeitender Wissenschaften spezifische Sachzusammenhänge aufzeigen und damit unser epistemisches Wissen bereichern. Eine ganz andere Sache ist es, wie hierauf normativ reagiert wird. Es lohnt, diese vermeintliche Selbstverständlichkeit zu betonen. So unterliegt derjenige letztlich einem naturalistischen Fehlschluss,2) der das normative Überwiegen staatlicher Schutzpflichten daraus schlussfolgert, dass eine bestimmte Maßnahme (hier: die Impfung möglichst vieler Kinder) von Angehörigen empirisch arbeitender Disziplinen als (ggf. sehr) wirksam eingestuft wird.

Richtigerweise sind Normwissenschaftler auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und Medizin „angewiesen“ (zutreffend Hollo), wenn sie über die Verfassungsmäßigkeit von „Impfpflichten“ und sonstigen Gesundheitsmaßnahmen entscheiden. Diese Angewiesenheit bezieht sich indes allein auf die zutreffende und möglichst weitgehend von Unsicherheiten befreite Einschätzung der Sachzusammenhänge. Um seinen Aufgaben gerecht zu werden, bedarf es allerdings hierauf aufbauend eines zusätzlichen Schrittes, den allein der Normwissenschaftler zu vollziehen hat – und dies nach der ihm zur Verfügung stehenden Methodik. Die Rede ist davon, zu bewerten, ob die jeweilige gesetzgeberisch vorgesehene Maßnahme, die sich auf dem Boden der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bewegt, in den Grenzen unserer Verfassung zulässig ist. Und hier ist eben gerade nicht ohne Weiteres nach dem Prinzip zu verfahren: Je näher wir an dem liegen, was Naturwissenschaftler für richtig halten, desto eher dürfen wir dies auch in eine gesetzliche Pflicht umwandeln. Vielmehr müssen wir uns fragen – und damit sind wir bei dem Thema „Gesundheitspräventionsstaat“ angelangt –, wie weit wir als Gesellschaft in Richtung auf ein Ideal zulaufen möchten, das die Vertreter einzelner empirischer Fachdisziplinen, ausgerichtet an ihrem Forschungsfeld und insoweit richtigerweise und konsequent, als best practice beurteilen.

Problematische Verschiebung der Grenzen des erlaubten Risikos

Letztlich lässt sich jede Maßnahme, die der Einzelne zur eigenen Gesunderhaltung vornehmen kann, als mehr oder weniger (un-)mittelbar wirkende Verantwortlichkeit gegenüber seinen Mitbürgern deuten. Wer wenig Sport treibt, viel und fettig isst und zugleich noch raucht, läuft in besonderer Weise Gefahr, zu einem bestimmten Zeitpunkt intensivmedizinisch behandelt zu werden. Dies bindet wertvolle Kapazitäten und kann Personen beeinträchtigen, die zeitgleich, aber unverschuldet eine solche Behandlung benötigen. Ressourcenknappheit ist für unser Gesundheitssystem unumgehbar – letztlich findet hier eine dauerhafte „Triage“ statt. Eine Gesellschaft kann sich vor diesem Hintergrund durchaus fragen, welche Pflichten sie den Einzelnen abverlangt, um das System insgesamt weniger zu belasten. Dies dient Leib und Leben und damit, wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert, „überragend wichtige[n] Gemeinwohlbelangen“ (Rn. 107). Danach gefragt, würden sicherlich die meisten Mediziner von fettigem Essen, Rauchen und mangelnder Bewegung abraten. Ergibt sich hieraus zugleich ein Überwiegen staatlicher Schutzpflichten, die etwa durch Preiserhöhungen, Ver- und Gebote umgesetzt werden könnten? Genügt der bloße Umstand, dass eine Maßnahme Gesundheit schützen und damit Leben retten kann, um sie verfassungsrechtlich zu rechtfertigen?

Solange der Lebensschutz nicht absolut gilt, muss die Antwort klar „Nein“ lauten. Und er kann nicht absolut gelten, solange wir vom Ideal einer freiheitlichen Gesellschaft nicht abrücken wollen. Was wir gleichwohl erleben, ist eine grundlegende Neubewertung, die in Bezug auf Gesundheitsrisiken individueller Freiheit und Selbstverantwortung zunehmend das Wasser abgräbt. Der Zeitgeist ist auf Risikoaversion gepolt – die Gründe hierfür dürften vielschichtig sein.3) Dies zeigt sich eindrucksvoll am Beispiel der Masern und damit eines Risikos, das wir seit Jahrzehnten kennen und das durchaus überschaubar hoch ist, das wir aber mittlerweile offenbar nicht länger zu tolerieren bereit sind. Nur so erklärt sich, weshalb das höchste deutsche Gericht trotz entsprechender Mitteilung dieser Tatsachen (Rn. 19) in den Entscheidungsgründen mit keinem Wort wertend darauf eingeht, dass in Deutschland in den Jahren 2014 bis 2018 ca. 3.200 Masernfälle aufgetreten sind, von denen 28% auf das Umfeld medizinischer Einrichtungen, Betreuungseinrichtungen und Einrichtungen für Asylsuchende entfallen, wobei unklar bleibt, wieviel Prozent genau auf Kindertagesstätten verteilt sind. Regionale Unterschiede bleiben unbeachtet, zeitliche Aspekte unterbelichtet. Ein Selbstschutz durch eine Impfung ist frühestens ab dem 9. Lebensmonat möglich (Rn. 23). Ein Gericht maßt sich keine naturwissenschaftliche oder medizinische Kompetenz an, wenn es kritisch hinterfragt, wie viele Personen dann insgesamt tatsächlich in Kitas auf Fremdschutz angewiesen sind. In dem bevölkerungsstarken Land Nordrhein-Westfalen sind derzeit ca. 1.800 der in der öffentlich geförderten Kindertagespflege betreuten Kinder unter einem Jahr alt. Zahlen dazu, wie viele Kinder tatsächlich unter neun Monate alt sind und daher selbst nicht geimpft werden können, ließen sich nicht ermitteln – sie dürften deutlich niedriger ausfallen. Spielt das überhaupt eine Rolle, mag derjenige fragen, der im Paradigma maximaler Gesundheitsprävention und Verabsolutierung des Lebensschutzes verhaftet ist. Denn: Ist es nicht jedes gerettete Leben wert, dass andere dafür in die Pflicht genommen werden? Und „sticht“ das Lebensschutzargument nicht jedwede Forderung, vorhandene Zahlen in ein Verhältnis zu den Freiheitsbeeinträchtigungen (gerade auch in Gestalt – wenn auch statistisch seltener – Nebenwirkungen und Schäden) infolge einer „Impfpflicht“ zu setzen?

Notwendigkeit eines Diskurses und der gebotenen Resilienz des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem jeweiligen Zeitgeist

Der Diskurs über diese Fragen muss dringend geführt werden. Wieviel Gesundheit der eine den anderen schuldet, prägt in entscheidender Hinsicht das Gesicht einer Gesellschaft. Die Antwort darauf betrifft nicht bloß „Impfpflichten“ oder Essgewohnheiten. Sie hat Folgewirkungen für nahezu sämtliche Lebensbereiche und nicht zuletzt das Bild, das wir von uns selbst zeichnen. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Wie sehr Gesunderhaltung als Pflicht gegenüber Dritten begriffen wird, beeinflusst unseren Umgang miteinander sowohl am Lebensende als auch im Bereich der Fortpflanzung(-smedizin), im Hinblick auf körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen und sozial Schwache. Dabei sollten gerade Juristen nicht der Versuchung unterliegen, sich angesichts eines verbreiteten Trends erhöhter Risikoaversion und der Unbeliebtheit dagegen gerichteter Kritik von ihrer ureigenen Aufgabe des Bewertens und Beurteilens zurückzuziehen und sich hinter angeblich selbstevidenten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbergen.4) Dies würde unserer Verantwortung, die nicht zuletzt auf den kritischen Diskurs über das normative Gewebe unserer Zeit gerichtet ist, nicht ansatzweise gerecht.

Wo steht das Bundesverfassungsgericht in dieser Gemengelage? Durch den Verweis auf die bloße Vertretbarkeitsprüfung entzieht sich das Gericht weitgehend einer Positionierung im Ziehen und Reißen um die Neuausrichtung im Umgang mit altbekannten Gesundheitsrisiken. Damit überantwortet es sich einem unbestimmten, möglicherweise gar primär medial getriebenen Zeitgeist – denn wer wollte schon sagen, dass es gänzlich unvertretbar sei, durch eine „Impfpflicht“ die Chance zu erhöhen, den Lebensschutz in Bezug auf eine hochansteckende und gefährliche Erkrankung wie die Masern zu verbessern? Grenzen staatlicher Gesundheitsschutzmaßnahmen sind damit kaum noch vorstellbar. Kritikwürdig hieran ist zudem, dass die eigentliche Problemlage so gar nicht adressiert werden kann. Es ist nicht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, einen irgendwie gearteten Zeitgeist bzw. gewandelte gesellschaftliche Wertvorstellungen „unvermittelt und ungefiltert in die Rechtsfortbildung“ zu übernehmen. „[N]eue soziale Einstellungen müssen vielmehr im Bereich des Rechts kritisch untersucht werden.“5) „Bei aller Einsicht in den bestimmenden Einfluß des Zeitgeistes auf die Rechtsordnung gilt gleichwohl: Auch wenn im gesellschaftlichen Bereich weitgehender Konsens über neue Wert- und Gerechtigkeitspostulate besteht, vermag dies nicht immer einer bestimmten Rechtsfortbildung volle Legitimität zu verschaffen.“6) Vollzieht die Gesellschaft also eine biopolitische Wende, läge es in der Verantwortung nicht zuletzt des Bundesverfassungsgerichts, Zurückhaltung und Bedacht anzumahnen, sodass nicht vorschnell Tatsachen geschaffen werden, die