Mehr als grenzwertig
Zu den rechtlichen und politischen Folgen von Zurückweisungen von Asylsuchenden
Die „Arbeitsgruppe Migration“ hat sich bei den Koalitionsverhandlungen darauf geeinigt, „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vor[zu]nehmen“ (FragDenStaat). Während zuletzt Personen zurückgewiesen wurden, die (angeblich) keinen Asylantrag stellten (vgl. zuletzt BT-Drs. 20/12827, S. 20 f.; und hier), planen CDU/CSU und SPD nun auch Zurückweisungen bei Asylgesuchen. Grundsätzlich sieht das Unionsrecht dafür ein Asyl- bzw. zumindest Dublin-Verfahren vor, wobei Abweichungen nur bei einer „nationalen Notlage“ erlaubt sind.
Friedrich Merz behauptete bereits im Wahlkampf, dass eine solche Notlage in Deutschland vorliege. Zu Recht wurde kritisiert, dass die CDU/CSU damit rechtspopulistische Positionen übernimmt und sich über Unionsrecht hinwegsetzt (vgl. dazu auf dem Verfassungsblog nur hier und hier). Dass eine solche nationale Notlage derzeit vorliegt, bezweifelt jedoch der überwiegende Teil der Rechtswissenschaft (siehe hier). Welche Folgen hätten Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen?
Zurückweisungen und Zurückschiebungen
In der politischen Debatte ist zumeist nur von Zurückweisungen die Rede. Zurückweisung meint die Einreiseverweigerung gegenüber einer Person an der Grenze (vgl. § 15 AufenthG). Für eine Zurückweisung müssen Kontrollen der Bundes- oder Landespolizei (§ 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) noch vor oder unmittelbar auf der Grenze stattfinden. Zwar wird die Nichteinreise bei Grenzübergangsstellen fingiert (§ 13 Abs. 2 S. 2 AufenthG), sodass auch dann Zurückweisungen möglich sind. Überschreitet dagegen eine Person die sogenannte „grüne Grenze“, also etwa über Wiesen oder durch Wälder, ist sie bereits mit dem Grenzübertritt eingereist. Der Tatbestand der Zurückweisung greift dann nicht mehr, es handelt sich um eine Zurückschiebung (vgl. § 57 AufenthG). Um effektiv zurückzuweisen, bräuchte es Grenzsicherungsmaßnahmen, die dem Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA gleichkämen.
Sowohl bei einer Zurückweisung als auch bei einer Zurückschiebung findet § 18 AsylG Anwendung, wonach in der Theorie auch Asylsuchenden die Einreise verweigert werden kann. Das EU-Asylsystem überlagert Zurückweisungen und Zurückschiebungen nach dem Asylgesetz, was § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG i.V.m. der Dublin III-Verordnung klarstellt (hier). Das maßgebliche Dublin-Verfahren möchte die künftige Bundesregierung nun anscheinend aufgrund einer nationalen Notlage nach Art. 72 AEUV aussetzen. Zusätzlich müssten wohl auch Vorschriften der Asylverfahrens-Richtlinie und des Schengener Grenzkodex (SGK) unangewendet bleiben (vgl. Art. 32 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 S. 2 SKG). Ebenso müsste die designierte Bundesregierung – je nach Lesart – den „nationalen Notstand“ dazu nutzen, das relevante EU-Primärrecht (Art. 18 und 19 GRCh, Art. 77–79 AEUV) und das non-refoulement-Verbot (Art. 3 EMRK und Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention) auszusetzen. Nationales Recht müsste geändert werden, insbesondere die §§ 15 Abs. 4, 57 Abs. 3 AufenthG. Hinter den aktuellen Plänen steht – wie bereits beim Asylkompromiss von 1993 (hier, S. 18) – der Gedanke, dass jeder europäische Nachbarstaat sicher sei.
Eine Zurückweisung oder Zurückschiebung soll in der Praxis innerhalb weniger Minuten oder Stunden erfolgen. Liest man den Wortlaut des Arbeitsgruppen-Papiers streng, wird jede Person, die ein Asylgesuch äußert, zurückgewiesen. In der Praxis würden sich viele Asylsuchende daher nicht mehr an den Grenzübergangsstellen zurückweisen lassen, sondern einige Kilometer weiter entfernt über die „grüne“ bzw. unkontrollierte Grenze einreisen. Greift die Bundes- oder Landespolizei Personen dann im grenznahen Raum (d.h. bis zu einer Entfernung von 30 km, vgl. §§ 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BPolG, 14 Abs. 1 ZollVG) auf, wird die betroffene Person zurückgeschoben. Es darf jedoch nicht unterschätzt werden, dass Deutschland fast vier tausend Kilometer lange Grenzen mit Nachbarstaaten hat – eine hermetische Abriegelung ist nicht möglich.
Abstimmung mit europäischen Nachbarn
Im Arbeitsgruppenpapier heißt es, dass die Zurückweisungen „in Abstimmung“ mit den europäischen Nachbarn erfolgen solle. Zwischen den Parteien wird weiterhin diskutiert, was „in Abstimmung“ überhaupt bedeutet. Die Union beharrt anscheinend darauf, dass es dafür bereits ausreiche, die Nachbarländer über die Zurückweisung zu informieren. Maßgeblich sind die jeweiligen Rücknahmeübereinkommen mit den Nachbarländern (dazu bereits hier). Nach diesen muss der Vertragsstaat Personen zurücknehmen, die unerlaubt aus dessen Hoheitsgebiet eingereist sind. In den Übereinkommen mit Frankreich, Österreich und Tschechien heißt es etwa, dass die Vertragspartei innerhalb der ersten Tage lediglich benachrichtigt bzw. die Überstellung angekündigt werden müsse. Nach den Übereinkommen mit Polen und der Schweiz ist hingegen ein Antrag notwendig, den die Länder unter Umständen ablehnen könnten. Dann würde eine Zurückweisung oder Zurückschiebung scheitern. Insofern besteht die Besonderheit, dass in Kooperation mit der Schweiz ein Großteil der Zurückweisungen bei vorgelagerten Grenzkontrollen noch auf schweizerischem Hoheitsgebiet stattfindet (BT-Drs. 20/8274, S. 21; BT-Drs. 20/14902, S. 14).
Bei Frankreich, Österreich oder Tschechien genügt es für die Abstimmung eventuell tatsächlich, die Nachbarstaaten über vollendete Tatsachen zu informieren. Das österreichische Innenministerium bekräftigte zuletzt wieder, dass es geplante Zurückweisungen nach Österreich nicht akzeptieren werde. Österreich könnte im Zweifel damit reagieren, das Übereinkommen zu suspendieren oder gar zu kündigen.
Rechtsschutz gegen europarechtswidrige Maßnahmen
Sollte die neue Regierung diese Pläne umsetzen, wird es wegen der im Raum stehenden Unionsrechtswidrigkeit zu zahlreichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren kommen. Die Klageart unterscheidet sich je nachdem, ob sich die Betroffenen gegen eine Zurückweisung oder Zurückschiebung wehren. Weil bei der Zurückweisung noch keine Einreise erfolgte, müssen Betroffene per Verpflichtungsklage einen Anspruch auf die Einreise geltend machen. Bei der Zurückschiebung handelt es sich hingegen um eine aufenthaltsbeendende Maßnahme. Um sich weiterhin in Deutschland aufhalten zu können, müssen Betroffene mit einer Anfechtungsklage feststellen lassen, dass die Zurückschiebung rechtswidrig ist. Die Bundes- oder Landespolizei wird zunächst trotzdem zurückschieben können, weil die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO entfällt, sodass das Gericht diese erst anordnen muss. Bei oft schnell erfolgter Zurückschiebung müssen Betroffene Folgenbeseitigung beantragen.
Im Falle eines Asylantrags stützen sich die Zurückweisung oder Zurückschiebung auf § 18 AsylG. Damit entfällt das Vorverfahren (§ 11 AsylG) und die Möglichkeit der Beschwerde im vorläufigen Rechtsschutz (§ 80 AsylG). Eine Berufung in der Hauptsache ist nach § 78 AsylG nur eingeschränkt möglich.
Entscheidend wird der EuGH sein, sobald ein Gericht diesen im Wege der Vorabentscheidung anruft. Mit einem Urteil ist in der Regel jedoch erst in eineinhalb bis zwei Jahren zu rechnen. Deswegen ist in diesen Fällen das Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23a Satzung des EuGH besonders wichtig. Näheres regeln die Art. 107–114 Verfahrensordnung EuGH. So könnten die Gerichte die Auslegung von Art. 72 AEUV schnell klären lassen. Die Eilvorabentscheidungsverfahren dauerten 2023 im Schnitt 4,3 Monate bei 10 eingegangenen Verfahren (hier, S. 22 und 26). Selbstverständlich können die Verwaltungsgerichte auch ohne Vorlage im Einzelfall selbst einen Verstoß gegen Unionsrecht feststellen.
Der Anfang vom Ende des europäischen Asylsystems?
Wenn Deutschland Personen, die aus europäischen Nachbarstaaten einreisen (wollen) und ein Asylgesuch äußern, zurückweist oder zurückschiebt, bleibt nur die Einreise über den Luftweg, um Asyl zu suchen. Weil eine solche Einreise für Viele unmöglich ist, würden die geplanten Zurückweisungen den humanitären Schutz in Deutschland faktisch fast abschaffen. Dabei hoffen die Koalitionäre wohl auf einen Dominoeffekt, der insgesamt zu weniger Asylantragsteller*innen in der EU führt. Ein nationaler Alleingang reduziert jedoch nicht zwingend die Zahl der Asylanträge, weil er jedenfalls die Fluchtursachen nicht bekämpft. Stattdessen kann er aber das Ende des europäischen Asylsystems anstoßen, wie wir es kennen.
Der EuGH wird bei seiner Auslegung kaum die Voraussetzungen einer „nationale Notlage“ feststellen. Deutschland ist im globalen und europäischen Vergleich weiterhin das Land mit dem drittgrößten Bruttoinlandsprodukt, hohem Bruttonationaleinkommen, Sozial- und Krankenversicherungssystem und niedriger Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig sinken die Asylantragszahlen in Deutschland und der EU.
Eine langfristige Lösung liegt nicht im nationalen, sondern im europäischen Interesse. Zwar lässt sich zu Recht kritisieren, dass Schengen seit Langem faktisch ausgesetzt wird und die EU-Kommission dabei versagt (vgl. bereits hier, hier, hier und jüngst hier). Hier helfen jedoch keine nationalen Alleingänge. Die künftige Bundesregierung sollte nicht nur die weiterhin geplanten Grenzkontrollen beenden, sondern auf eine gemeinsame europäische Lösung drängen. Eine Rückkehr zum Dublin-System ist zwar unrealistisch, da dieses von Beginn an nicht funktionieren konnte. Mit einem faktischen Ende von Schengen droht unter Umständen jedoch ein Ende des europäischen Asylsystems. So sind Schengen und Dublin historisch eng miteinander verbunden (hier, S. 1668 ff.). In den Jahren 1985–2000 wurden zwei Drittel aller Asylanträge in Europa in Deutschland gestellt (hier, S. 48–54), sodass bei einem Ende des europäischen Asylsystems eventuell mehr Asylanträge in Deutschland die Folge sind.
Gleichzeitig droht die Bevölkerung das Vertrauen in den Rechtsstaat zu verlieren, wenn Zeitungen von (Wieder-)Einreisen berichten. Dabei kann nämlich der Eindruck entstehen, Gerichte hätten falsch oder nicht streng genug geurteilt oder Urteile würden nicht durchgesetzt, obwohl in diesen Fällen die Zurückweisungen oder Zurückschiebungen tatsächlich rechtswidrig waren.
Das Recht folgt nicht der Politik – vielmehr muss die Politik das Recht verfassungs- und unionsrechtskonform gestalten. Dabei beweisen die USA gerade eindrücklich, dass der kalkulierte Rechtsbruch den liberalen Rechtsstaat aufhebt und durch autoritäre Herrschaft ersetzt.