05 April 2017

Meinungsfreiheit und Gewalt

Im letzten Sommer hat das Bundesverfassungsgericht in einer ganzen Serie von Kammerentscheidungen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit entmoralisiert (siehe hier und hier). Nicht die in den jeweiligen Amts- und Landgerichten vorherrschende Vorstellung von gutem Benehmen ist der Maßstab, an dem sich entscheidet, was zu sagen einem verboten werden kann und was nicht, sondern der mit dem Gesagten angerichtete Schaden. Natürlich kann ein Gericht weiterhin Unverschämtheiten verbieten, aber nicht ohne vorher abgewogen zu haben, in welchem Verhältnis dieses Verbot zu der Verletzung steht, die sie angerichtet hat. Was jedenfalls nicht mehr geht, ist zu sagen: das ist dermaßen unverschämt, das ist “Schmähkritik”. Und damit von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgenommen.

Heute hat die gleiche 3. Kammer des Ersten Senats (in etwas anderer Besetzung) einen Beschluss veröffentlicht, der diesem Befund juristisch nichts Neues hinzufügt, aber noch mal einen deutlich krasseren Fall betrifft als die “Spanner”- und “Durchgeknallte-Staatsanwältin”-Fälle des letzten Jahres. Es ging um den grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck, der anlässlich einer rechtsextremen Kundgebung an einer Gegendemo teilgenommen hatte und daraufhin von dem rechtsextremen Versammlungsleiter mit folgenden Worten bedacht worden war:

„Ich sehe hier einen aufgeregten grünen Bundestagsabgeordneten, der Kommandos gibt, der sich hier als Obergauleiter der SA-Horden, die er hier auffordert. Das sind die Kinder von Adolf Hitler. Das ist dieselbe Ideologie, die haben genauso angefangen.“

Ich wäre nicht überrascht, wenn dieser Beschluss eine große Welle macht: Empörung von konservativer Seite nach dem Motto “Wir müssen uns wegen dieser liberalen Gutmenschen jede noch so krasse Beschimpfung gefallen lassen!” und Triumph von rechtspopulistischer Seite nach dem Motto “Wir müssen uns von diesen liberalen Gutmenschen nicht den Mund verbieten lassen!” Das war schon im letzten Jahr falsch und ist es auch in diesem.

Ich halte, auch das ist nichts Neues, die Position des BVerfG für konsistent und rechtspolitisch richtig. Meinungsfreiheit heißt nicht und hieß noch nie: Niemand darf mich kritisieren, wenn ich sage, was ich sagen will. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist bekanntlich “schlechthin konstituierend” für die Demokratie und die Grundbedingung aller Freiheit überhaupt, weil sie möglich macht, sich als Freie und Gleiche miteinander auseinanderzusetzen: Man muss bestreiten, kritisieren, falsch finden können, was jemand anders behauptet, fordert, gut findet, und umgekehrt – auch und gerade dann, wenn dieser andere viel mächtiger ist als man selbst. Wer aber seine Meinung nicht als Gegenstand von Auseinandersetzung, nicht als bestreitbare Position, sondern als Fakt äußert, die man unbestritten als gültig hinzunehmen hat, der übt nicht sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus. Der übt Gewalt. Und Gewalt ist nicht, was, sondern wovor Meinungsfreiheit schützt.

Wenn der Pro-Köln-Funktionär Volker Beck einen “Obergauleiter” nennt, dann kann man das zwar empörend dumm und gemein finden, aber ist das verbale Gewalt? Nein. Das ist bestreitbar. Darüber kann man sich auseinandersetzen, zumal im Kontext einer Gegendemo mit dem expliziten Ziel, den Pro-Köln-Funktionär seinerseits an der Ausübung seiner Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu hindern, sowie eigenen, ihrerseits nicht eben zimperlichen Äußerungen von Beck (“braune Truppe”, “rechtsextreme Idioten”).

Hätte er dagegen “Arschloch” gesagt oder “Schwein” oder “Stück Scheiße”, hätte er ihn mit einer homophoben, sexistischen oder rassistischen Beschimpfung belegt, hätte er ihn also qua Existenz gerade keiner Auseinandersetzung für würdig erklärt, dann wäre das etwas anderes. Das ist dann Schmähkritik, die von vornherein aus dem Schutzbereich von Art. 5 GG herausfällt. (Man kann auch Hate Speech dazu sagen.)

Diese Differenzierung, und nicht mehr oder weniger, ist es, die das BVerfG der Strafjustiz abverlangt. Sie muss als schutzwürdig anerkennen, was das Grundgesetz schützt, nämlich die geistige Auseinandersetzung, und sei sie noch so dumm und niederträchtig. (Was natürlich keineswegs heißt, dass alles gleich geschützt ist, weil es dann ja noch auf die Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht des Angegriffenen ankommt.) Das ist weder ein Skandal noch ein Triumph, sondern ziemlich normal. Und doch ein Grund zur Dankbarkeit in diesen aufgeregten Zeiten.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Meinungsfreiheit und Gewalt, VerfBlog, 2017/4/05, https://verfassungsblog.de/meinungsfreiheit-und-gewalt/, DOI: 10.17176/20170405-165638.

20 Comments

  1. Bernd Wed 5 Apr 2017 at 17:26 - Reply

    Jaja. Deswegen ist der Gesetzentwurf von Herrn Maas in Sachen Facebook auch so unbrauchbar. Wenn nur die Wörter “Arschloch” und “Schwein” gefiltert würden, wäre die Sache einfacher!

  2. Dr. Guido Kersting-Gauss Wed 5 Apr 2017 at 19:42 - Reply

    Und umgekehrt?

  3. Dominic Schelling Wed 5 Apr 2017 at 21:28 - Reply

    Ich finde es immer wieder spannend zu beobachten wann die freie Meinungsäußerung in Volksverhetzung umschlägt oder Volksverhetzung im Gewand anständiger Sprache daherkommt. Es ist ja dann immer noch “freie” Meinungsäußerung aber eben mit einer menschenverachtender Absicht. Ich halte es für eher gefährlich den Feinden der demokratischen Grundordnung zu viel Entfaltungsmöglichkeit zuzugestehen. Was z.B. gewisse Reichsbürger rauslassen ist oftmals schlicht Volksverhetzend und eine Aufforderung das bewährte demokratische Verfassungssystem zu zerstören. Und trotzdem scheint mir eine gewisse Toleranz, solange keine Gewaltaufrufe und die explizite Verneinung gewisser historischer Tatsachen vorliegen, angebracht zu sein. Hier fängt dann die harte politische Auseinandersetzung an, was aber nicht heisst, diesen Inhalten entgegen zu kommen und Kompromisse zu suchen, sondern sich auch klar und deutlich abzugrenzen. Mit dem Ziel gewisse Behauptungen klar zu widerlegen. Diesen Diskurs muss die liberale Zivilgesellschaft leisten und nicht die Gerichte. Es ist ein Kampf um die Köpfe der Menschen, damit sie erinnert werden an den Wert einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft und das Rechts- uns Linksautoritarismus uns alle nur ins Unglück führt, denn dort gäbe es dann keine freie Meinungsäußerung mehr.

  4. Pascal Thu 6 Apr 2017 at 00:28 - Reply

    Also ich würde eher ein Arschloch geheißen werden als Obergauleiter und Kind Hitlers.

    Mir ist auch nicht klar, warum das eine schlechthin konstituierende Meinungsfreiheit sein soll, das andere jedoch pfuibäh Schmähkritik.

  5. Unverständlich Thu 6 Apr 2017 at 09:25 - Reply

    Sehe das ähnlich wie Pascal. “Obergauleiter der SA-Horden” halte ich für eine wesentlich schlimmere Beleidigung als etwa ein dahergeworfenes “Schwuchtel”, das eher etwas über die geistige Verfassung des Aussagenden sagt.

  6. schorsch Thu 6 Apr 2017 at 11:07 - Reply

    @Pascal, Unverständlich: Ich würde in der Sache nicht widersprechen. Nur hat das Gericht hier kein minus zur Schmähkritik angenommen, sondern ein aliud. Die Äußerung war auf sein Verhalten bezogene Kritik an Beck. Sie mag (nach Abwägung!) trotzdem strafbar sein, aber sie ist eben keine reine Schmähkritik.

  7. Maximilian Steinbeis Thu 6 Apr 2017 at 11:28 - Reply

    Das ist doch genau der Punkt, dass es nicht darauf ankommt, wie “schlimm” die Beleidigung ist, wenn es um den Schutzbereich der Meinungsfreiheit geht, sondern um die Differenz zwischen Auseinandersetzung und A-Priori-Ausschluss von der Auseinandersetzung. Natürlich kann man auch in der Auseinandersetzung härteste Beleidigungen aussprechen, aber das ist innerhalb des Schutzbereiches durch Abwägung zu lösen, während man sich durch A-Priori-Ausschluss selbst aus dem Schutzbereich herausschießt. Das ist dann die berühmte Schmähkritik.

  8. schorsch Thu 6 Apr 2017 at 12:27 - Reply

    @Steinbeis: Ich hoffe, Sie haben meinen (zugegebenermaßen etwas umständlich formulierten) Kommentar nicht missverstanden. Ich wollte genau darauf hinaus. Mir ging es um meine Vorredner, denen es lediglich um die Intensität der Ehrverletzung zu gehen scheint (“ich würde eher”, “schlimmere Beleidigung”).

  9. Rechtsanwalt Alexander Würdinger, München Thu 6 Apr 2017 at 12:41 - Reply

    ***gelöscht. Ich hatte Herrn Würdiger wiederholt per Direktmail gebeten, es zu unterlassen, diesen Blog mit Off-Topic-Kommentaren nach dem Motto “apropos Meinungsfreiheit” zu fluten, was er mir zugesagt hat. Da dies offenbar nichts fruchtet und ich nicht zulassen kann und will, dass die Kommentarsektion auf diese Weise gehighjackt wird, weiß ich mir nicht mehr anders zu helfen, als seine Kommentare künftig zu löschen. Max Steinbeis***

  10. Lutz Lippke Thu 6 Apr 2017 at 12:50 - Reply

    @Dominic Schelling
    Sie schreiben: “Aufforderung das bewährte demokratische Verfassungssystem zu zerstören”

    Steckt nicht gerade im Festhalten an einem solchen Narrativ zum “Bewährten” gerade die entscheidende Zerstörungsgefahr? Womit hat sich denn das Verfassungssystem bewährt? Damit das Grundrechte sehr Vieler schon grundsätzlich unter den Tisch fallen, weitere Grundrechtsverletzungen über viele Jahre fortgeführt werden und Klagen kein Gehör finden, bis man aus einer neuen Interessenlage heraus gönnerhaft meint, ab nun hätte sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen? Tatsächlich ist die Durchsetzung des Verfassungsrechts bis heute ein entweder ehrlich oder aber scheinheilig erklärtes Ziel und müsste sich erst noch bewähren. Bewährt haben sich bis heute vor allem bremsende, vereitelnde und missbrauchende Aktionen.

  11. Dominic Schelling Thu 6 Apr 2017 at 14:07