08 July 2015

Merkel, Tsipras und die Schwierigkeit, das offensichtlich Richtige zu tun

In dem aktuellen Drama um Griechenland sehen sich zwei europäische Politiker mit der Erwartung konfrontiert, etwas offensichtlich Richtiges, aber gleichzeitig offenkundig Unmögliches zu tun.

Alexis Tsipras soll aus Griechenland endlich einen funktionalen Staat machen, Korruption und Vetternwirtschaft beenden, Steuern erheben, den ökonomischen Eliten einen adäquaten Beitrag abverlangen. Das ist doch offensichtlich! Da kann doch niemand dagegen sein, schon gar nicht eine linke Systemveränderungspartei, die sich die Sache der kleinen Leute auf ihre Fahnen geschrieben hat!

Angela Merkel soll Griechenland endlich aus der Schuldenfalle rauslassen, Wachstum und damit am Ende auch Schuldendienst endlich wieder möglich machen, anstatt das Land auf Menschenalter hinaus ins Elend zu stoßen und zu kosovarisieren. Das ist doch offensichtlich! Da kann doch niemand dagegen sein, schon gar nicht eine ansonsten jeder ideologischen Verhärtung abholden Pragmatikerpartei, die für Europa Verantwortung trägt wie keine zweite!

Wenn das so offensichtlich ist, warum tun sie es dann nicht? Die nahe liegende Antwort scheint zu sein, dass es sich um Idioten bzw. Schurken handelt. Es laufen in Deutsch- wie in Griechenland eine Menge Leute herum, die genau diese Art von personalisierender Kompetenz- und Motivationsdiagnostik mit großer Lautstärke betreiben: Tsipras sei ein dilettantischer Spinner/brandgefährlicher Sozialexperimentator mit Leninbärtchen/beutegieriger Abzocker (ein Grieche halt)! Merkel sei eine triefäugige Aussitzerin/eiskalte Niedrigzinskolonialistin mit Hitlerbärtchen/beutegierige Abzockerin (eine Deutsche halt)! Selbst wenn unter der Kruste denunziatorischer Geschichtsvergleiche und Ethnopsychologisierei ein Körnchen Wahrheit stecken sollte (was ich nicht glaube) – das erklärt überhaupt nichts.

Mir scheint ein anderer Punkt interessanter.

Beiden, Tsipras wie Merkel, ist gemeinsam, dass ihnen abverlangt wird, ihre Macht gleichsam auf sich selber zu richten. Beide sind als mächtigster Mann Griechenlands bzw. mächtigste Frau der Eurozone aufgefordert, justament das, was ihnen diese Macht verleiht, zu zerstören. Wenn Machtallokation in Griechenland nun einmal über Klientelnetzwerke stattfindet, wie soll man dann von der solchermaßen allozierten Macht erwarten, diese Klientelnetzwerke aufzubohren? Wenn Machtallokation in der Eurozone nun einmal über Stabilitätsregeln und Exportüberschüsse stattfindet, wie soll man dann von der solchermaßen allozierten Macht erwarten, diese Stabilitätsregeln und Exportüberschüsse aufzubohren? Natürlich soll man, keine Frage. Aber es wird halt nicht passieren. Jedenfalls nicht nur deswegen, weil man es erwartet.

Politik, so ist das nun einmal in einer funktional differenzierten Gesellschaft, kann am Ende immer nur Politik. Das ökonomisch bzw. moralisch Richtige tut sie dann und nur dann, wenn sich der Wert- bzw. Gerechtigkeitsgewinn in ein Mehr an Macht übersetzen lässt. Das kann man schlimm finden, das hilft aber nichts. In der Logik der Politik haben Tsipras und Merkel aber prima vista jeweils überhaupt nichts zu erwarten, wenn sie das Richtige tun, außer den sofortigen Verlust ihrer Macht. Sie wären beide sofort weg vom Fenster.

Solange das so ist, wird diese Krise kein friedliches Ende finden.

Vor diesem Hintergrund könnten die so verwirrenden und bestürzenden Ereignisse der letzten Woche doch einen gewissen Sinn, wenn nicht sogar Anlass zu vorsichtigem Optimismus geben.

Das Referendum vom letzten Sonntag hatte, so irre es auch aus Eurozonen-Perspektive in der Verhandlungssituation Ende letzter Woche erscheinen musste, zwei Effekte: Zum einen hat es der griechischen Gesellschaft einen knüppelharten Vorgeschmack darauf beschert, wie es sich anfühlt, wenn der Euro weg ist. Zum anderen hat sich Tsipras’ Machtbasis von den 35 Prozent Gewerkschaftlern, Ex-PASOK-Klienten und sonstigen Stakeholdern am alten griechischen Klientelsystem, die ihn im Januar gewählt haben, auf die 61 Prozent Griechinnen und Griechen verlagert, die am Sonntag mit OXI gestimmt haben. Wer weiß – vielleicht war es das, was nötig war, um Tsipras einen Nixon-goes-to-China-Moment zu ermöglichen.

Zum anderen aber hatte auch Merkel in diesen Tagen jede Menge Möglichkeiten, ein finsteres Gesicht zur Schau zu tragen und sich im Zähneknirschen und Kopfschütteln über diesen unmöglichen Tsipras mit ihrer Partei und Fraktion einig zu wissen. Obendrein hat auch noch Sigmar Gabriel ihr den Gefallen getan, sie im Griechen-Bashing rechts zu überholen, was den Reiz hat, ihn am Sonntag mit einer Einigung blöd aussehen lassen zu können. Und dann ist auch noch die US-Regierung aus der Deckung gekommen und fordert jetzt offen und lautstark einen Schuldenschnitt. Bis Sonntag spitzt sich das Klima jetzt noch ordentlich zu, der Euro fällt tüchtig und der DAX auch – und dann, wer weiß, ist das Geschlotter auch in Deutschland so groß, dass sich am Ende doch auch machtpolitisch ein Fenster auftut, das Richtige zu tun.

Darauf will ich jetzt mal hoffen. Denn wenn nicht – dann wird alles ganz, ganz furchtbar.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Merkel, Tsipras und die Schwierigkeit, das offensichtlich Richtige zu tun, VerfBlog, 2015/7/08, https://verfassungsblog.de/merkel-tsipras-und-die-schwierigkeit-das-offensichtlich-richtige-zu-tun/, DOI: 10.17176/20170724-183746.

10 Comments

  1. Blinzler Wed 8 Jul 2015 at 17:17 - Reply

    Lieber Herr Steinbeis,

    ich stimme Ihnen weitgehend zu. Zwar denke ich, dass bereits die gewonnene Wahl der Syriza-geführten Regierung ein (relatives) Überwinden der Klientelnetzwerke Griechenlands darstellte und zudem die Regierung (mE) seitdem durchaus pragmatisch und kompromissbereit versucht, vieles von ihren Versprechungen vor der Wahl wahr zu machen, trifft Ihre Beschreibung der Zwickmühle denke ich durchaus zu.
    Gleichzeitig scheint mir ein Blick auf das, was sehr viele Ökonomen in den letzten Wochen klar formulieren (nämlich ein völlig verfehltes Programm der Institutionen und Gläubiger), so eindeutig, dass ich mit Merkel nicht so gnädig sein kann, wie mit Tsipras auf der anderen Seite.

    Ich bin gespannt und hoffnungsvoll, ob/dass Ihre Prognose eintrifft. Wobei mir eine nachhaltigere Lösung noch lieber wäre…

  2. Manuel Müller Wed 8 Jul 2015 at 19:02 - Reply

    Max, ich stimme dir da völlig zu (und gebe mir auch alle Mühe, deinen Optimismus für Sonntag zu teilen). Aber langfristig ist doch genau das der Grund, weshalb die Entscheidung über so wichtige gemeinsame Fragen der Währungsunion im Europäischen Rat falsch aufgehoben ist. Man stelle sich vor, anstelle von Merkel und Tsipras würden jetzt die Chefs der zwei größten Fraktionen im Europäischen Parlament über die Bedingungen eines neuen Hilfspakets verhandeln – die beide vor allem daran interessiert wären, bei der nächsten Europawahl durch Deutsche und Griechen wiedergewählt zu werden…

  3. Tschernyschewski Wed 8 Jul 2015 at 19:34 - Reply

    @M.S: „das offensichtlich Richtige zu tun“

    Also der Grexit ist zu vermeiden. Was ist jetzt das Offensichtliche, das zu tun ist?
    – Einen Finanzausgleich mit den übrigen 18 Euro-Ländern?
    – Das griechische Sozialversicherungssystem (soweit vorhanden) an die Sozialversicherungssysteme (soweit vorhanden) der übrigen 18 Euro-Länder anzuflanschen ?
    – Ein drittes Hilfspaket zu schnüren und in drei Jahren wieder die Säue durchs Dorf treiben?
    – Ein Schuldenschnitt zu machen und in ein paar Jahren erneut verhandeln, weil durch zwischenzeitlich aufgenommenen Schulden die Schuldentragfähigkeit wieder nicht mehr gewährleistet ist?
    Und was tun die übrigen 17 Euro-Länder? Tun, was Frau Merkel tut?

    Und was tut Herr Tsipras? Zusagen geben, auf deren Einhaltung man gespannt sein kann?

    In dem Artikel erscheint das Tun bei Frau Merkel und Herrn Tsipras symmetrisch verteilt. Tatsächlich würde eine Partei vorleisten und bei der anderen Partei würde das „Tun“ in Zusagen bestehen. Das erscheint mir eher asymmetrisch.

  4. Enes Scholkaldetten Thu 9 Jul 2015 at 09:34 - Reply

    Für die Kosten aufkommen müsste eigentlich derjenige, der die ganze Misere verschuldet haben: Die Skandalbanker von Goldman Sachs. Griechenland hat nie die Konvergenz Kriterien zur Euro Aufnahme erfüllt. Mit krimineller Energie durch diese “Bad Bank” Goldman Sachs wurden Manipulationen vorgenommen, um aufgenommen zu werden. Und bei der EZB war man damals wohl (absichtlich ?) betriebsblind und ist darauf reingefallen. Selbst Theo Waigel (damals Finanzminister der BRD) versteht bis heute nicht, wie das nicht auffallen konnte.
    Somit hatte die Euro-Zone von Anfang an ein Krebs-Geschwür. Nun müssen wir aufpassen, dass der gesunde Rest-Organismus nicht befallen wird.

  5. schorsch Thu 9 Jul 2015 at 11:07 - Reply

    @ES: “Krebsgeschwür” und “Organismus” – machen Sie sich auch Sorgen um den “deutschen Volkskörper”? Ich weiß, die Nazis haben die Körper- und Krankheitsmetaphorik nicht erfunden, aber finden Sie nicht, dass Ihre Ausdrucksweise unglückliche Assoziationen weckt?

  6. Niels Dettenbach Thu 9 Jul 2015 at 16:11 - Reply

    Als primär kühlem Verstand erlegener Betrachter tritt täglich weiter das ein, was ich bereits vor mehr als fünf Jahren “prophezeite” – und ich bin sicher kein Prophet. Ein Minimum an Menschenkenntnis und Lebenserfahrung reicht da schon erstaunlich weit und unter Blinden ist bekanntlich schon der Einäugige König.

    Die Vernunft sagt mir auch weiterhin, das Griechenland nur dann seine Ziele oder auch nur irgend eine Stabilität erreichen kann, wenn es zurück zur eigenen Währung geht oder Europa bereit ist, Griechenland dauerhaft privilegiert zu alimentieren. Woher der ernsthafte Sinnes- und Gesinnungswandel der Griechen kommen soll, der von den Machtinteressenten bis heute populiert wird, ist für mich nicht erkennbar.

    Die Erpressungsstrategie seitens Griechenland wird aber wohl einmal mehr aufgehen – und damit jene Ideologen Europas auf den Plan rufen, die darin ihre Möglichkeit zur Machterlangung sehen, denn der ewige Wiedergänger Sozialismus – rot wie braun – hat inzwischen wieder wachsenden Zuspruch geschichtsvergessener, bildungsverflachter Jugend und Caféhausintellektuellen, deren “Gerechtigkeit” vor allem jene ist, die ihre Positionen oder/und Einkommen stärkt – und seien es auch nur Diäten. Ein sozialistisches Neueuropa wäre der Anfang vom Ende, denn die Osteuropäer, die ein halbes Leben die Überwindung des Sozialismus für die Freiheit arbeiteten, werden sich nicht in neue Sozenspinnereien einspannen lassen dafür haben sie – im Gegenzug zu zB Griechenland – persönliche Engagements eingebracht in einem Umfang, der den Wohlstandsverdrossenen Hobbylinken des Westens von je her fremd ist.