Misstrauensvorschuss: Zur Verfassungsschutz-Regelanfrage vor Einstellung in den Justizdienst
Zurück in die 70er
Man fühlt sich zurückversetzt in die frühen 70er Jahre, wenn man nun liest, dass vor der Einstellung in den Justizdienst eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz eingeführt werden soll – nach bayerischem Vorbild, wo sie schon seit September 2016 wieder gilt. 1972 wurde die Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden aufgrund des sogenannten „Radikalenerlasses“ begonnen. Eine Anstellung im öffentlichen Dienst durfte danach abgelehnt oder eine Entlassung ausgesprochen werden, wenn Zweifel an der Verfassungstreue bestanden; die Mitgliedschaft in einer verbotenen Partei war dafür ebenso wenig Voraussetzung wie eine Straffälligkeit. Die aus der Anwendung des Erlasses folgenden Berufsverbote wurden im In- und Ausland stark kritisiert. 1995 folgte eine Verurteilung Deutschlands durch den EGMR in dem Verfahren Vogt gegen Deutschland; die Entlassung einer Lehrerin wegen ihrer Mitgliedschaft in der DKP wurde für konventionswidrig erklärt. Die Bundesregierung hatte sich bereits 1979 mit den Grundsätzen für die Prüfung der Verfassungstreue (zuletzt bestätigt in 2007 und 2012) von der Regelanfrage verabschiedet, in Bayern wurde sie bis Anfang der 90er Jahre praktiziert.
Auslöser für die Neueinführung der Regelanfrage in Bayern im Jahr 2016 war der Fall eines rechtsextremistischen Proberichters im Jahr 2014. Nun ist Hessens Justizministerin auf den Zug aufgesprungen; auf ihre Initiative hin wurde auf der Justizministerkonferenz (JuMiKo) am 6./7. Juni 2018 in Eisenach die Wiedereinführung der Regelanfrage erörtert. Eine solche aber ist verfassungsrechtlich problematisch, unnötig und schwächt die Justiz und den Rechtsstaat.
Grundrechtseingriff ohne Rechtfertigung
Die diskutierte Regelanfrage beim Verfassungsschutz berührt den Schutzbereich gleich mehrerer Grundrechte: Sie greift jedenfalls in das Grundrecht der Berufswahlfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ein, denn wird die Zustimmung zur Anfrage verweigert, kommt eine Einstellung in den Justizdienst nicht in Betracht. Daneben sind das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG betroffen. Fragt man nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, bestehen schon an der formellen Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel. Im Rahmen dieses Beitrags soll es insofern bei der Frage bleiben, ob dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt dadurch genügt ist, dass den Bestimmungen des Richtergesetzes zum Erfordernis der Verfassungstreue (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG i.V.m. § 71 DRiG bzw. § 9 Nr. 2 DRiG) unter Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 5 GG für die Regelanfrage eine deutlich größere Tragweite verliehen wird; auf diese gesetzlichen Grundlagen stützt sich die Bayerische Verfassungstreue-Bekanntmachung (dort Ziff. 2.3).
Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Regelanfrage scheitert jedenfalls materiell am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar verfolgt die Regelanfrage ein legitimes Ziel, weil sie die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes sichern will. Auch werden sich die wenigsten gegen die Auffassung des Verfassungsgerichts (zB hier und hier) wenden, dass den Bediensteten des Staates einschließlich Richter*innen eine besondere Treuepflicht obliegt. Die Regelanfrage dürfte auch geeignet sein, den mit ihrer Hilfe angestrebten Erfolg, eine von Verfassungsfeinden freie Justiz, zumindest zu fördern. Der Grundrechtseingriff, der mit der Regelanfrage einhergeht, ist aber nicht erforderlich.
Das mit der Regelanfrage verfolgte Ziel kann mit deutlich milderen Mitteln in gleicher Weise erreicht werden. Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, dass für die Wiedereinführung der Regelanfrage in Bayern ein einzelner Fall eines rechtsextremistischen Proberichters ausschlaggebend war. Weitere Fälle gibt es soweit ersichtlich nicht. Auch die Initiative der hessischen Justizministerin beruhte nicht etwa auf Erkenntnissen darüber, dass immer wieder oder vermehrt rechts- oder linksextreme Richter*innen eingestellt wurden (so hier in der FR). Unabhängig von dieser „Anlasslosigkeit“ gibt es auch ohne die Regelanfrage ausreichende Möglichkeiten, die Verfassungstreue von Bewerber*innen für den Justizdienst zu überprüfen (vgl. dazu Dieterle/Kühn, Wiedereinführung der Regelanfrage für angehende Richter in Bayern, ZD 2017, 69-74). Darauf hatte bereits der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz bei Wiedereinführung der Regelanfrage in Bayern im September 2016 hingewiesen. Zu diesen Möglichkeiten zählen im Vorfeld einer Einstellung die Beurteilungen aus dem (staatlichen) juristischen Vorbereitungsdienst, die Auskunft aus dem Bundeszentralregister (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 BZRG), die Anfrage beim Verfassungsschutz im sorgfältig zu prüfenden Einzelfall sowie – ganz entscheidend – der persönliche Eindruck im Bewerbungsgespräch. Tritt eine verfassungsfeindliche Einstellung nicht im Vorfeld zutage, sondern zeigt sie sich im Laufe der Probezeit, ist eine Entlassung während der ersten zwei Jahre nach (bloßem) pflichtgemäßen Ermessen möglich (§ 22 Abs. 1 DRiG). Zeigt sich erst später, dass ein*e Richter*in auf Probe für das Richteramt nicht geeignet ist, bietet § 22 Abs. 2 DRiG weitere vereinfachte Möglichkeiten der Entlassung. Bei der richterlichen Tätigkeit selbst schützen die Ablehnungsmöglichkeiten (z. B. § 42 ZPO) sowie die regelmäßig eröffneten Rechtsmittel und -behelfe gegen eine radikalisierte Rechtsauffassung. Schließlich besteht auch nicht die Gefahr, dass ein*e radikalisierte*r Richter*in hinter verschlossenen Türen, quasi im stillen Kämmerlein, an der Abschaffung des Grundgesetzes arbeitet. Die Arbeit von Richter*innen spielt sich typischerweise in der Öffentlichkeit ab. Durch den im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Öffentlichkeit (z. B. § 169 GVG; Art. 6 Abs. 1 EMRK) wird die richterliche Tätigkeit nicht nur transparent, sondern auch überwacht, von der Öffentlichkeit, den Medien und allen Verfahrensbeteiligten. Insoweit kommt der Rechtsanwaltschaft eine wichtige Kontrollfunktion zu: Rechtsanwält*innen haben regelmäßig Kontakt mit Richter*innen und erleben sie in ihrem beruflichen Umfeld. Bei Anzeichen verfassungsfeindlicher Gesinnung können sie nicht nur prozessuale Mittel ergreifen (Ablehnungsgesuch, Rechtsmittel), sondern auch Dienstaufsichtsbeschwerde erheben. Weshalb neben all diesen Möglichkeiten nunmehr die Regelanfrage zur Lösung hypothetischer Probleme diskutiert wird, erschließt sich nicht.
Generalverdacht gegen Bewerber*innen
Die Regelanfrage stellt Bewerber*innen für die Justiz vielmehr unter den nicht gerechtfertigten Generalverdacht einer verfassungsfeindlichen Gesinnung. Befürworter*innen der Regelanfrage betonen zwar, es werde lediglich der „Zugang zum Richteramt abgesichert“, weil „die Stellung der Richter aufgrund ihrer Weisungsfreiheit und Funktion eine besondere ist“. Die Anfrage werde außerdem nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Jedoch: wird diese Zustimmung verweigert, ist eine Einstellung nicht möglich. Genau das aber zeigt, dass tatsächlich von einem Generalverdacht gesprochen werden muss. Denn im Ergebnis obliegt es damit den Bewerber*innen, der Einstellungsbehörde zu beweisen, dass sie keine verfassungsfeindliche Einstellung haben; es gibt keinen Vertrauensvorschuss mehr. Auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG wird ausgehöhlt, wenn eine Einstellung in den Justizdienst gerade deswegen verweigert wird, weil sich Bewerber*innen auf ihre informationelle Selbstbestimmung berufen. Um die Chance zu haben, Richter*in zu werden, müssen sie auf eine Grundrechtsausübung verzichten.
Intransparenz und Anonymität des Verfassungsschutzes
Die Problematik der Regelanfrage geht aber noch weiter: Der Verfassungsschutz legt seine Quellen regelmäßig nicht offen; die Anonymität und Intransparenz der Erkenntnisse sind sein Markenzeichen. Betroffene können Auskunft über die über sie gespeicherten Daten nur erlangen, wenn sie auf einen konkreten Sachverhalt hinweisen und ein besonderes Interesse an einer Auskunft darlegen. Über die Herkunft der Daten muss regelmäßig keine Auskunft erteilt, die Ablehnung einer Auskunftserteilung muss nicht begründet werden (z.B. § 15 BVerfschG; Art. 23 BayVSG; § 13 LSVG [BaWü]; § 25 LVerfSchG [SH]). Feste gesetzliche Tilgungsfristen gibt es nicht (vgl. § 12 Abs. 3 BVerfschG). Hier offenbart sich auch, dass die vom Verfassungsschutz gesammelten Erkenntnisse eine völlig andere Qualität haben als Eintragungen im Bundeszentralregister (BZR). Die Eintragungen im BZR sind weder anonym noch intransparent: eingetragen werden nur rechtskräftige Entscheidungen nach rechtsförmlichen Verfahren (vgl. § 3 BZRG), von denen die Betroffenen entweder sowieso Kenntnis haben oder durch Auskunft erlangen können (§ 42 BZRG; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 11. April 2013 – 1 VAs 145/12). Die Eintragungen werden nach gesetzlich festgelegten Fristen getilgt (§§ 45 ff. BZRG) und dürfen danach grundsätzlich nicht mehr verwertet werden (§ 51 BZRG; Ausnahmen: § 52 BZRG). „Jugendsünden“ finden sich damit im BZR nicht, beim Verfassungsschutz schon.
Im Zusammenspiel mit einer Regelanfrage vor der Einstellung in den Justizdienst führt diese Intransparenz und Anonymität zu einer faktischen Beweislastumkehr zum Nachteil der Bewerber*innen: Eine Einstellung in den öffentlichen Dienst wird bereits bei „begründeten Zweifeln“, dass ein*e Bewerber*in die „Gewähr bietet“, die freiheitliche demokratische Grundordnung einzuhalten, abgelehnt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. November 1980 – 2 C 38/79, Rn. 22). Es wird aber schwierig sein, (bloße) Zweifel auszuräumen, die aufgrund der Regelanfrage beim Verfassungsschutz gesät wurden. Die Intransparenz der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes macht eine Verteidigung dagegen und ihre Widerlegung schwierig bis unmöglich. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ hilft nicht weiter; er findet keine Anwendung (BVerwG, Urteil vom 27. November 1980 – 2 C 38/79, Rn. 31). In der Praxis müssen so die Bewerber*innen beweisen, dass keine Zweifel an ihrer Verfassungstreue bestehen. Dass sie insofern ein Unterlassen beweisen müssen, nämlich dass sie keine verfassungsfeindliche Gesinnung haben, macht ihre Lage nicht einfacher. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Einstellungsentscheidung gerichtlich überprüfbar ist. Die auf die Persönlichkeit der Bewerber*innen bezogene Eignungsprognose unterliegt wie andere persönlichkeitsbedingte Werturteile des Dienstherrn nicht in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. November 1980 – 2 C 38/79, Rn. 26; vgl. auch BAG, Urteil vom 29. Juli 1982 – 2 AZR 1093/79).
Stärkung der Justiz erforderlich
Es wird niemand widersprechen, wenn die Justizminister*innen in ihrem Beschluss „die besondere Bedeutung der Justiz sowie der öffentlichen Verwaltung für die Bewahrung des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats“ und „die zentrale Bedeutung der Richterschaft für das Funktionieren einer wehrhaften Demokratie“ betonen. Eine logische Folge dieses Bekenntnisses wäre allerdings eine „Kampagne für den Rechtsstaat“, wie Justizministerin Dr. Katarina Barley sie jüngst auf europäischer Ebene forderte und die neben dem im Koalitionsvertrag festgeschriebenen „Pakt für den Rechtsstaat“ das Vertrauen in die Justiz und den Rechtsstaat vielleicht stärken könnte. Die Regelanfrage dagegen bewirkt genau das Gegenteil. Sie schwächt die Justiz und den Rechtsstaat, indem sie alle Bewerber*innen für den Justizdienst unter Generalverdacht stellt und so Misstrauen in die Justiz schürt. Außerdem: wenn Widerspruch, Regierungskritik und Opposition eine spätere Einstellung in den Justizdienst gefährden können, wird die Regelanfrage auf lange Sicht auch das Verhalten der nächsten Generationen von Richter*innen verändern – angepasste, stromlinienförmige Richter*innen und Staatsanwält*innen aber sind eine offene Flanke für den Rechtsstaat. „Die streitbare Demokratie [wird] am verläßlichsten durch streitbare Demokraten geschützt“ (BVerfGE 63, 266 (310) – Sondervotum Simon). Das hatte die Bundesregierung bereits 1979 erkannt und die Regelanfrage als „falsche Antwort auf die Gefahren rechts- und linksextremistischer Unterwanderung des öffentlichen Dienstes“ bewertet, die „unsere demokratische Substanz eher geschwächt als gestärkt hat“. Warum soll dieser Fehler nun wiederholt werden?
Der Rechtsstaat braucht eine starke und unabhängige Justiz, die ein hohes Vertrauen bei der Bevölkerung genießt. Dass dies in erster Linie durch gute Arbeit der Justiz selbst gelingen muss, versteht sich von selbst. Das alleine reicht aber nicht. Zu einem stärkeren Vertrauen könnte die vorgeschlagene „Kampagne für den Rechtsstaat“ beitragen, indem sie über die Justiz und den Rechtsstaat informiert. Eine solche Kampagne könnte den Menschen zeigen, dass in der Justiz engagierte und hoch motivierte Richter*innen und Staatsanwält*innen, Rechtspfleger*innen und Servicekräfte arbeiten, die unter hoher Belastung täglich dazu beitragen, dass die (Grund)Rechte der Bürger*innen gewahrt werden. Auf die Justiz wird die Öffentlichkeit in der Regel nur aufmerksam, wenn etwas schiefläuft, zum Beispiel Verfahren zu lange dauern, Familiengerichte falsche Prognoseentscheidungen treffen oder Strafgerichte (vermeintlich) zu lasch urteilen (vgl. z. B. hier). Dass Gerichte in Deutschland tagtäglich in hunderten Fällen Rechtsschutz gewähren, Rechte von Benachteiligten und Schwächeren durchsetzen, gerät dagegen immer wieder in Vergessenheit. Vertrauen in die Justiz und den Rechtsstaat kann nur durch Information über die Arbeit und die Menschen in der Justiz vermittelt werden. Ein Schritt in die richtige Richtung ist dafür zum Beispiel das Forum Recht in Karlsruhe. Die Regelanfrage dagegen, die Bewerber*innen für die Justiz unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellt, ist das falsche Signal.