Mit dem Kopf durch die europarechtliche Wand
Was Pkw-Maut und Migrationspolitik gemeinsam haben
Die Pkw-Maut ist rechtswidrig. Das hat der Europäische Gerichtshof vergangene Woche in erfrischender Klarheit festgestellt. Beobachterinnen und Beobachter konnte dieses Urteil dabei nicht erstaunen. Haben einige Zeitungen (z.B. hier und hier) durchaus verklärend von einem „überraschenden Urteil“ geschrieben, dann konnte das nur an den ihrerseits vollkommen überraschenden Schlussanträgen des Generalanwalts Nils Wahl und an den wankelmütigen Zusagen der Kommission (zu denen sie im Übrigen keinerlei Mandat hat) liegen. Der Generalanwalt hatte – an seinem letzten Arbeitstag am Gerichtshof – empfohlen, die Maut durchzuwinken und als rechtmäßig anzuerkennen. Zuvor hatte es eigentlich kaum eine Stimme aus der Fachwelt gegeben, die nicht die evidente Rechtswidrigkeit des Mautvorhabens angenommen hatte (eine Auswahl: hier, hier, hier, hier und hier). Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages war zu diesem Ergebnis gekommen. Der damalige CSU-Generalsekretär und heutige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hielt es in der Folge für angebracht „bei so viel fachlicher Ignoranz“ die Frage nach dem „Sinn des Wissenschaftlichen Dienstes“ zu stellen. Der einzige, der die geplanten Abgaben in einem Gutachten 2014 für das Bundesverkehrsministerium als unionsrechtskonform eingestuft hatte, war für Migrationsrechtlerinnen und Migrationsrechtler ein alter Bekannter.
Dass das Urteil nun fünf Jahre später gesprochen wurde, lag auch daran, dass die Kommission sich dazu entschied, kein Vertragsverletzungsverfahren zu betreiben. Die Maut wurde so zu einer Hängepartie und konnte als gehaltenes Wahlversprechen verkauft werden. Nun hat man eilig mit der Kündigung von (im Voraus) geschlossenen Verträgen begonnen. Immerhin: Durch das Vorhaben wurden noch keine Personen in ihren Rechten verletzt. Denn die Maut war noch nicht eingeführt.
Klares Muster: Politisierung durch Rechtswidrigkeit
Davon kann in anderen Rechtsgebieten nicht die Rede sein, insbesondere im Asyl- und Migrationsrecht. Darin liegt der erhebliche Unterschied und doch kann das gescheiterte Mautvorhaben als Muster für politische Manöver gelten, die auch im Asyl- und Migrationsrecht zu beobachten sind. Es wird Wahlkampf mit nationalen Interessen gemacht und/oder (symbolisch) politische Handlungsfähigkeit demonstriert. Europäische (und teilweise verfassungsrechtliche) Vorgaben werden dabei zur Randnotiz degradiert, die eine so große Rolle ohnehin nicht spielten. Die vermeintliche Rechtmäßigkeit der Vorhaben lässt man sich durch Gutachten bestätigen, deren Autorinnen und Autoren auffallend oft personengleich sind. Und die auffallend häufig nicht im jeweils kommentierten Rechtsgebiet bzw. dessen Teilbereich zu Hause sind.
Im Gesetzgebungsverfahren werden Gesetze dann wahlweise besonders kompliziert gemacht oder sie werden im Eilverfahren verabschiedet. Oder beides. Jedenfalls werden Fakten geschaffen, Gesetze werden anwendbar und unter Umständen werden individuelle Rechte verletzt, bevor ein Gericht die Rechtmäßigkeit der Vorschriften überprüft (dazu 1.). Wenn man sein politisches Handeln denn überhaupt in Gesetzesform zu gießen bereit ist und sich nicht dem Instrument des Deals behilft (dazu 2.), oder nur darauf aus ist, in einer politisch aufgeheizten Stimmung aus einem vermeintlichen „Rechtsbruch“ des politischen Gegners (?) politisches Kapital zu schlagen (dazu 3.).
Solche politischen Manöver sind für den Rechtsstaat gefährlich. Denn sie verschieben politische Verantwortlichkeiten auf die Gerichte – und politisieren diese so. Das Muster ist einfach: politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger treffen politische Entscheidungen, die teilweise rechtlich fragwürdig, teilweise evident rechtswidrig sind. Dies alles, um dem vermeintlichen Wählerwillen zu entsprechen. Namentlich geschieht dies auffällig oft, wenn das Europarecht Vorgaben macht und nationale Interessen scheinbar schwächt. Gerichte haben dann über die Rechtmäßigkeit zu entscheiden und bewegen sich in einem zuvor politisch aufgeladenen Raum. Der Europäische Gerichtshof mag dies Kraft seines Selbstverständnisses und seiner Rolle im System der europäischen Union aushalten können. In asylrechtlichen Fragen entscheiden häufig junge Einzelrichterinnen und Einzelrichter unter starkem Zeitdruck und in einem stark politisiertem Umfeld. Wird (k)eine Rechtsverletzung festgestellt und damit das politische Projekt beerdigt, stehen die Verantwortlichen schnell fest: die Gerichte, die „inhaltlich enttäuschend“ entscheiden.
Damit wird die Rolle der Gerichte erheblich geschwächt, denn sie treffen nicht mehr allein rechtliche Entscheidungen, sondern originär politische. Dass das ein komplett neues Phänomen ist, soll gar nicht behauptet werden. Aber in der Form und Ausprägung ist es jedenfalls auffällig und bedenklich.
Die politische Strategie schwächt auch Europa. Denn die Entscheidungen werden häufig aufgehoben, weil sie gegen Europarecht verstoßen. Nach dem Scheitern ist neben den Gerichten die zweite Verantwortliche deshalb häufig ebenso schnell gefunden: die Europäische Union. Und dies ist in einem Klima wie dem derzeitigen gefährlich.
Dazu drei knappe Beispiele:
1. Das „Geordnete Rückkehr Gesetz“
Im „Geordnete Rückkehr Gesetz“ – ein „kompliziertes Gesetz“ im Eilverfahren – wird, neben vielen weiteren problematischen Änderungen (dazu etwa hier und hier), das sog. Trennungsgebot zur räumlich getrennten Unterbringung von Abschiebe- und Strafgefangenen bis mindestens 2022 aufgegeben (§ 62a AufenthG-E). Dies sei mit Art. 18 der Rückführungsrichtlinie zu rechtfertigen, der in Notlagen bei einer „unvorhersehbaren Überbelastung der Kapazitäten von Hafteinrichtungen“, ein Abweichen vom Trennungsgebot erlaubt. Der Europäische Gerichtshof hat die Bundesrepublik zuletzt 2014 in dieser Causa verurteilt. Damals hatte eine Person, die abgeschoben werden sollte, zugestimmt, in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht zu werden. Es ist also nicht so, dass die Unterbringungsverpflichtung „unvorhergesehen“ über die Bundesrepublik hereinbrach. Darüber, wie eine Notlage für drei Jahre zu rechtfertigen ist, schweigen Begründungen. Im gleichen Urteil stellte der Gerichtshof auch fest, dass die getrennte Unterbringung keine einfache Durchsetzungsmodalität, sondern menschenrechtlich geboten sei. Ein entsprechendes Urteil ist nur – aber eben auch – eine Frage der Zeit.
2. Deals zur Direktzurückweisung
Im Sommer vergangenen Jahres hätte die Frage danach, ob es Zurückweisungen an der deutsch-österreichischen Grenze geben dürfte, die große Koalition beinahe gesprengt. Herausgekommen sind Deals mit verschiedenen Mitgliedstaaten, unter anderem mit Griechenland, die eine Direktzurückweisung innerhalb von 48 Stunden ermöglichen sollen. Die eigentlich für diesen Fall vorgesehene Dublin-III-Verordnung hingegen, soll in diesen Fällen gar nicht zur Anwendung kommen. In einer Talkshow wedelt Alexander Dobrindt noch mit dem Grundgesetz und liest Art. 16a Abs. 2 des Grundgesetzes vor, nach dem sich nicht auf Asyl berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Mitgliedstaaten einreist. Den Absatz 5 des Artikels, der den Vorrang des Europarechts normiert, kennt er nicht oder vergisst er. Die statistische Insignifikanz des Art. 16a GG auch, dafür bezeichnet er den anwesenden Experten noch abfällig als „Paragraphenfuchs“. Die Deals wurden vor der Öffentlichkeit lange geheim gehalten, keiner wusste, was sie tatsächlich enthalten. Auch nach Veröffentlichung bzw. Leak können an der offensichtlichen Rechtswidrigkeit aus mindestens drei Gründen keine Zweifel bestehen. Zum einem ist ein Dublin-Verfahren durchzuführen (vgl. nur hier und hier), die Bundesregierung hält ein solches für entbehrlich. Zum anderen sind schon die Grenzkontrollen rechtswidrig und im Schengen-Raum sind Außen- und Binnengrenzen zwei verschiedene Dinge, Zurückweisungen aber nur an der Außengrenze zulässig. Das hat der EuGH kürzlich festgestellt. Drittens verstößt eine Zurückführung innerhalb von 48 Stunden – ohne Anwaltskontakt – eindeutig gegen die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht zum Flughafenverfahren gemacht hat: „Der nicht anwaltlich vertretene Antragsteller muß ferner durch organisatorische Maßnahmen Gelegenheit erhalten, – soweit erforderlich unter Einsatz eines Sprachmittlers – kostenlos asylrechtskundige Beratung in Anspruch zu nehmen“ (dort Rn. 140). Art. 19 Abs. 4 GG hatte Alexander Dobrindt scheinbar nicht gelesen, bevor er in die Talkshow kam. Ganz zu schweigen davon, dass sich eine Abschiebung nach Griechenland aus anderen Gründen verbieten könnte. Das Verwaltungsgericht München konnte dem politischen Druck in einem ersten Fall nicht standhalten und hat im Eilverfahren entschieden, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die eigentliche Klage nicht erfolgreich ist. Damit, dass der Europäische Gerichtshof das auch so sieht, ist nicht zu rechnen.
3. „Grenzöffnung“
2016 wurde mit viel medialem Rummel in der Bayerischen Staatskanzlei ein Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio vorgestellt, das dem Freistaat Bayern in Aussicht stellte, erfolgreich gegen die vermeintliche „Grenzöffnung“ für Schutzsuchende aus dem Sommer 2015 klagen zu können. Vereinfacht sagt es: Staatlichkeit gebiete Grenzkontrollen und die europäischen Vorgaben zu Grenzschutz, Binnenmarkt und Asylsuchendenallokation könnten höchstens unter „günstigen Bedingungen“ funktionieren, das gemeinsame Europäische Asylsystem funktioniere aber gerade nicht. Genau wie für die oben beschriebene 2. Konstellation, gebiete § 18 AsylG etwas anderes, nämlich die Schließung und ggf. Zurückweisung. Der Bund hätte deshalb eine Pflicht gegenüber den Ländern, den „massenhaften und unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen“ (S. 101) zu verhindern (ausführlich dazu hier). Implizit wirft er der Bundesrepublik damit Rechtsbruch vor, weil sie die Grenze 2015 nicht „geschlossen“ hat und nicht schließt. Der Begriff und der Vorwurf entwickelten eine Eigendynamik, die CSU hat damit Wahlkampf gemacht, die AfD sowieso. Der EuGH hat jedenfalls zur Frage der Anwendbarkeit und einer etwaigen Verletzung der Dublin-Regeln 2017 in der für ein Höchstgericht gebotenen Nüchternheit Stellung genommen: die Dublin-Regeln haben immer gegolten und Mitgliedstaaten steht es frei, sich für die Überprüfung von Asylanträgen zuständig zu erklären (sog. Selbsteintrittsrecht, Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO). Die Bundesrepublik hätte Personen zurückführen können, sie konnte ihr Asylverfahren aber auch selbst durchführen. Die AfD-Fraktion war 2018 noch mit einer Beschwerde, mit der sie die Nicht-Beteiligung des Parlaments und einen etwaigen „Geheimerlass“ rügen wollte, vor dem Bundesverfassungsgerichtgescheitert. Sie war nicht einmal zulässig.
Trotz des Musters: Grenzen der Vergleichbarkeit
Die Beispiele mögen zeigen: die politische Diskussion dehnt die Grenzen des rechtlich Machbaren bewusst und nimmt es in Kauf, zu einem späteren Zeitpunkt von Gerichten in die juristischen Schranken verwiesen zu werden. Bei der Maut war das absehbar. Beim Trennungsgebot ist es absehbar, bei den Zurückweisungen und dem „Rechtsbruch-Mythos“ war es oder ist es das ebenfalls. Ins Auge fällt dabei, dass häufig gerade das Europarecht nicht beachtet wird, obwohl es vorrangig ist. Das ist schädlich für die Europäische Union und für Gerichte, denn sie werden so zum „Watschenbaum“, der dafür sorgt, dass politisch unbedingt gewollte Entscheidungen auf dem Rechtsweg verenden.
Und damit enden die Gemeinsamkeiten zwischen der Mautfrage und asylrechtlichen Fallgestaltungen. Die Maut träfe zwar viele und ist ungerecht. Zurückweisungen an der Grenze oder Inhaftierungen mit Strafgefangenen treffen Personen jedoch in unveräußerlichen Freiheitsrechten. Und sind doch politische Verhandlungsmasse. Bis ein Gerichtsverfahren zu Zurückweisungen nach Griechenland entschieden ist, sitzen Betroffene schon lange in griechischen Gefängnissen – ohne Rechtsbeistand wird man (höchstens) nach der Abschiebung auf die Zurückgewiesenen aufmerksam. Ein Gerichtsurteil hat dann zwar eine klarstellende Wirkung, den Individuen hilft es aber mitunter wenig, es dauert häufig einfach zu lange. In der Mautfrage hätte die Kommission (Art. 258 AEUV) ein Vertragsverletzungsverfahren betreiben können. Als sie dies abgelehnt hat, haben Mitgliedstaaten das Verfahren vorangetrieben (Art. 259 AEUV). In asylrechtlichen Fragen wird dies nicht passieren. Personen sind auf den Individualrechtsschutz verwiesen, eine Verbandsklage, oder ähnliches, ist nicht möglich. Bis zum EuGH ist es dann ein weiter Weg. Alle Gerichte können ihn zwar anrufen und offene Rechtsfragen zur Beurteilung vorlegen, dazu verpflichtet sind aber nur Gerichte, gegen deren Entscheidungen keine Rechtsmittel mehr zugelassen sind (Art. 267 AEUV), in Deutschland also das Bundesverwaltungsgericht. Bis dieses entscheidet, vergingen seit dem letzten Rechtsmittel 2018 14 Monate und 16 Tage. Davor müssen noch Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten durchlaufen werden. Die Bearbeitungsdauer beim EuGH betrug 2017 (aktuellere Zahlen sind nicht vorhanden) zusätzliche 15,7 Monate. Bis eine Rechtsfrage entschieden ist, können also gut und gerne drei Jahre ins Land gehen. Die politischen Probleme haben sich dann vielleicht schon erledigt, die politisch Verantwortlichen sind vielleicht gar nicht mehr im Amt. Jedenfalls kann man eine ganze Zeit lang mit rechtswidrigen Versprechungen Politik machen.
Schade, die grandiosen Ausführungen von Herrn Hillgruber hat das BMI laut waybackmaschine gestern getilgt:
https://web.archive.org/web/20190601000000*/https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/VerkehrUndMobilitaet/Strasse/infrastrukturabgabe-gutachten.pdf?__blob=publicationFile
Hat jemand eine Kopie dieser herausragenden Arbeit?
ach, hier ist es doch für andere Interessierte:
https://web.archive.org/web/20190625022053/https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/VerkehrUndMobilitaet/Strasse/infrastrukturabgabe-gutachten.pdf?__blob=publicationFile