08 February 2024

Nachhaltig nicht-nachhaltig

Rechte indigener Gruppen im Freihandelsabkommen EU-Mercosur

Im Rahmen der Energiewende wächst der europäische Bedarf nach Rohstoffen. Zahlreiche der für die Energiewende benötigten Rohstoffe befinden sich auf den Gebieten indigener Völker, was häufig zu Konflikten führt. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass das geplante Abkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten keine Vorschriften bezüglich Beteiligung und Schutz indigener Völker beinhaltet. Ein Verweis auf solche Vorschriften, insbesondere aus der ILO-Konvention 169, wäre völkerrechtlich geboten und trüge dazu bei, die Konflikte und Widersprüche des Nachhaltigkeitsbegriffs aushandelbar zu machen.

Erst jüngst hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) dem indigenen Volk der Q’eqchi’ in Guatemala Eigentumsrechte an einem von ihm bewohnten Gebiet zugesprochen, auf dem eine Nickelmine betrieben wird. In seiner Begründung stützte sich das Gericht auf die ILO Konvention Nr. 169 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern (i.F.: ILO Nr. 169), die neben anderen EU-Staaten auch von Deutschland ratifiziert wurde. Daher stellt sich die Frage nach der Umsetzung der Konvention im europäischen Kontext. Diese lässt sich bezüglich des Nachhaltigkeitskapitels des zwischen der EU und den Mercosur-Staaten geplanten Assoziierungs- bzw. Freihandelsabkommens als defizitär beantworten. Diese Defizite führen dazu, dass die Aushandlung der Widersprüche der Nachhaltigkeit einseitig in den Händen der rechtssetzenden Staaten verbleibt. Hierdurch werden koloniale Exklusionsmuster fortgeschrieben.

Lithiumabbau: Eine Schattenseite des „European Green Deal“

Auch wenn sein Abschluss in letzter Zeit unsicherer geworden ist, gerät das zwischen der EU und den Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) geplante Abkommen (i.F.: EU-Mercosur) in diesem Kontext in den Fokus. Argentinien ist als Teil des „Lithiumdreiecks“ essentiell für die Umsetzung des „European Green Deal“ der EU-Kommission, der eine Senkung verkehrsbedingter Emissionen um 90% bis 2050 vorsieht (S. 12). Eine Umstellung auf Elektromobilität ist nur mittels des Verbauens von Lithiumbatterien möglich. Den Preis dieser „Just Transition“ (zum Begriff Stark/Gale/Murphy-Gregory) des Globalen Nordens zu CO2-armen Ökonomien (hierzu Zografos) zahlen indigene Gruppen wie die Atacameños, deren Lebensgrundlage durch den enormen Süßwasserverbrauch des Lithiumabbaus existenziell bedroht ist.

EU-Mercosur: Eigentums- und Konsultationsrechte indigener Gruppen fehlen

Nachhaltigkeitskapitel in Freihandelsabkommen erklären etwa multilaterale Umweltübereinkommen als für die Parteien verbindlich und sehen spezielle Nachhaltigkeitsverpflichtungen vor. Die (bisherigen) Regelungen des Nachhaltigkeitskapitels des EU-Mercosur enthalten jedoch keinen Abschnitt zum Lithiumabbau – und keine diesbezüglichen Vorgaben zur Gewährleistung der Rechte indigener Gruppen aus ILO Nr. 169 (Fritz, S. 29). Die einzige Vorschrift, die in Zusammenhang mit indigenen Gruppen steht, ist Art. 8 Nr. 2 b) EU-Mercosur („Trade and Sustainable Management of Forests“). Darin ist lediglich vorgesehen, indigene Gruppen in nachhaltige Lieferketten der Forstwirtschaft einzubeziehen, sie vorher darüber zu informieren und ihr Einverständnis einzuholen. Dieses Einverständnis wird dabei faktisch vorausgesetzt, denn es findet sich keine Bestimmung für den Fall, dass dieses nicht eingeholt werden kann.

Das Nachhaltigkeitskapitel des EU-Mercosur-Abkommens wird somit seinem Namen selbst nach der engen Definition von Nachhaltigkeit, wie sie sich in Art. 1 Nr. 3 EU-Mercosur und in der Präambel der UN-SDGs findet (drei gleichrangige, interdependente Säulen aus Ökonomie, Ökologie und Sozialem), nicht gerecht. Und dies, obwohl in Art. 1 Nr. 2 des Nachhaltigkeitskapitels explizit auf die UN-SDGs verwiesen wird. UN-SDG Nr. 15.1 sieht insbesondere den Schutz inländischer Frischwassersysteme vor, während UN-SDG Nr. 16.7 inkludierende Partizipationsmöglichkeiten auf allen Ebenen von Entscheidungsfindungen absichert.

In Bezug auf den Lithiumabbau fehlen Verrechtlichungen solcher Partizipationsmöglichkeiten in Gestalt der Umsetzung der ILO Nr. 169 im EU-Mercosur völlig. Eine ähnliche Tendenz zeigt auch der der kurz vor der Verabschiedung stehende EU Critical Raw Materials Act (CRMA, siehe auch Kampourakis). Dieser erlaubt Abbauprojekte in Drittländern als „Strategische Projekte“ einzustufen und diese somit zu forcieren. Hierfür ist nach Art. 6 Abs. 5 UAbs. 2 CRMA zwar die „ausdrückliche Genehmigung“ des Drittstaates erforderlich. Wer genau an dieser Entscheidungsfindung zu beteiligen ist, bleibt hingegen unbenannt.

Dabei beinhaltet die ILO-Konvention 169 verschiedene Regelungen, die in Bezug auf den Lithiumabbau Relevanz erlangen können. Art. 14 und 15 statuieren etwa umfassende staatliche Anerkennungs- und Schutzpflichten der Eigentums- und Besitzrechte indigener Gruppen, insbesondere auch hinsichtlich der Nutzung natürlichen Ressourcen. Aus Art. 6 Nr. 1 a) folgt das Recht auf die Implementierung eines effektiven Konsultationsverfahrens in Form eines Free Prior Informed Consent (FPIC). Letzteres hat der IAGMR in seiner Rechtsprechung aufgegriffen und konturiert (vertiefend Eichler, S. 170 ff.). Argentinien hat sich wie sämtliche Mercosur-Staaten dieser Rechtsprechung unterworfen, was verbindliche Umsetzungspflichten für den völkerrechtlichen Vertrag des EU-Mercosur schaffen dürfte. Der Beitrag möchte jedoch nicht mit dem (westlichen) Finger allein auf den argentinischen Staat zeigen. Die grundsätzliche Kritik zielt darauf, dass die aus ILO Nr. 169 resultierenden Verpflichtungen ebenso für die EU als Vertragspartei des EU-Mercosur gelten und diese ebenfalls zu ihrer Umsetzung verpflichtet ist.

Die ILO 169 spielt insbesondere in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten eine wichtige Rolle (Überblick bei Courtis). Nicht nur der IAGMR, sondern auch verschiedene nationale Gerichte haben ihren Inhalt ausbuchstabiert, einzelne Regelungen können gar zu (regionalen) Gewohnheitsrecht erstarkt sein (vgl. Anaya/Wiessner). In einem gewissen Kontrast hierzu steht die Rechtspraxis in Europa. So war etwa der Ratifikationsprozess in Deutschland von der Überzeugung geprägt, der Schritt sei rechtlich folgenlos, da auf deutschem Staatsgebiet keine indigenen Völker lebten (BReg, S. 23). Rechtsprechung und Literatur, welche die Wirkung der Konvention in der deutschen Rechtsordnung zum Gegenstand hat, ist – soweit ersichtlich – bislang nicht vorhanden.

ILO Nr. 169: Unional bindend

Anders als Deutschland oder Argentinien hat die EU selbst ILO Nr. 169 nicht ratifiziert. In seinem Kadi-Urteil hat der EuGH aber betont, dass er sich hinsichtlich der menschenrechtlichen Vereinbarkeit unionaler Handlungen u.a. „von den Hinweisen leiten [lasse], die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, […] denen [die Mitgliedstaaten] beigetreten sind“ (Rn. 283 ff.) Da innerhalb der EU neben Deutschland auch Luxemburg und Dänemark ILO Nr. 169 ratifiziert haben, muss sich auch ein Freihandelsabkommen wie das EU-Mercosur als unionale Handlung (Art. 217 AEUV) an den Maßstäben der ILO Nr. 169 messen lassen. Zudem ist die EU über Art. 51 Abs. 1 Alt. 1 GRCh beim Abschluss einer internationalen Übereinkunft – hier: EU-Mercosur – an die Grundrechtecharta gebunden (Schwerdtfeger, Art. 51 Rn. 32 m.w.N). Insofern erfahren sowohl das Eigentums- als auch das Konsultationsrecht aus ILO Nr. 169 über die je als Menschenrecht ausgestalteten Art. 17 Abs. 1 (Eigentumsschutz) und Art. 47 Abs. 1 GRCh (Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf) eine enorme unionale Verschränkung. Die ebenfalls als Menschenrechte ausgestalteten Parallelregelungen Art. 1 ZP 1 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 EMRK verstärken diese. Obwohl die EU selbst der EMRK nicht beigetreten ist, sind ihre Grundrechte gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, womit die EMRK die wichtigste Rechtserkenntnisquelle hierfür bleibt (Kingreen, Art. 6 EUV Rn. 7). Art. 52 Abs. 3 GRCh normiert diese Bedeutung explizit.

Auch die Bundesrepublik treffen im Zusammenhang mit dem Zugang zu ausländischen Lithiumvorkommen Pflichten aus der ILO-Konvention 169. So folgt nach dem BVerfG aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG eine Pflicht der Staatsorgane, „das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen“ (Rn. 93). Um die Rechte aus der Konvention zu gewährleisten, ist die Bundesrepublik verpflichtet, im Rahmen von Vertragsverhandlung im Rat auf die Einhaltung insbesondere der Beteiligungs- und Konsultationsrechte zu dringen und sich gegebenenfalls als ultima ratio gegen einen Vertragsschluss auszusprechen.

Vom widersprüchlichen zum konfliktuellen Nachhaltigkeitsbegriff

Auf einer höheren Ebene zeigt sich in der Nichtberücksichtigung indigener Partizipationsrechte im Nachhaltigkeitskapitel des Mercosur-Abkommens ein tiefergehendes Problem des Nachhaltigkeitsbegriffs. Dieser ist – jedenfalls nachdem er sich früh von jeder Wachstumskritik gelöst hat (Spehr/Stickler, S. 214) – von Widersprüchen geprägt. Wie das Beispiel des Lithiumabbaus zeigt, befördert die ökologisch motivierte Antriebswende keine harmonische Verwirklichung des magischen Nachhaltigkeitsdreiecks, sondern führt zu handfesten sozialen und ökologischen Verwerfungen. Diese Verwerfungen können nicht adressiert werden, solange die Widersprüche des Nachhaltigkeitsbegriffs unthematisiert bleiben.

Diese Widersprüche werden hierbei durch das Nachhaltigkeitsdreieck selbst erzeugt und sind in diesem nicht lösbar. Deswegen ist der Nachhaltigkeitsbegriff (radikal) zu transformieren. Widersprüche sind zum Konflikt zu machen, indem sie in rechtliche Verfahren überführt werden (vgl. Jaeggi, S. 152 f.). Rechtsakte wie das Mercosur-Abkommen oder der EU Critical Raw Materials Act sollten somit Regelungen beinhalten, welche Partizipationsmöglichkeiten in diesen Konflikten eröffnen, etwa durch die Beteiligung indigener Völker am Ort der Rohstoffgewinnung. Solche Partizipationsverfahren sind dabei keine großzügige Geste, sondern völkerrechtlich und nach dem nationalen Recht zahlreicher Staaten verpflichtend.

Macht die EU die Etablierung von Handelsbeziehungen von der Einhaltung solcher Mindeststandards – insbesondere aus der ILO-Konvention 169 – abhängig oder kritisiert sie die Nichteinhaltung durch die argentinische Regierung, handelt es sich somit gerade nicht um eine Form des „moralischen Imperialismus“, also um eine Oktroyierung (westlicher) Menschenrechtsstandards. Das Gegenteil ist der Fall: Verzichtet die EU darauf, Partizipationsmöglichkeiten nicht-staatlicher Akteur*innen, etwa indigener Völker, verbindlich zu setzen, monopolisiert sie die Aushandlung der Nachhaltigkeitskonflikte in der zwischenstaatlichen Sphäre. Sie reproduziert damit die Exklusion indigener Völker aus der Entscheidungsfindung über die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Die Aushandlung der Nachhaltigkeitskonflikte bleiben allein den staatlichen Akteur*innen überlassen, die Atacameños und andere indigene Gruppen werden auf die Zuschauer*innenplätze verbannt.

Not just green, but just green transformations

Die Konflikte um den Rohstoffabbau werden im Rahmen der „grünen Transformation“ aller Voraussicht nach zunehmen. Um zu verhindern, dass die europäische Energie- und Antriebswende einen „grünen Kolonialismus“ befördert (siehe etwa Claar), ist eine breite Partizipation, insbesondere historisch exkludierter und gleichzeitig häufig in besonderer Weise von Rohstoffabbau betroffener indigener Völker zu gewährleisten. Solche Partizipation führt dazu, dass auch die derzeit herrschenden Grundannahmen der Nachhaltigkeitstransformation der Aushandlung ausgesetzt werden. Nur prozedurale Aushandlungen ermöglichen die Einschreibung eines Reflexionsmoments transnationaler (Menschenrechts-)Gerechtigkeit innerhalb der „grünen Transformation“. Ist die zur Aufrechterhaltung des derzeitigen westlichen Lebens- und insbesondere Mobilitätsmodells erforderliche Rohstoffmenge bei Gewährleistung indigener und anderer Partizipationsrechte nicht zu gewinnen, ist daher eine Verringerung des Rohstoffbedarfs, nicht jedoch des menschenrechtlichen Schutzstandards ins Auge zu fassen.


SUGGESTED CITATION  Kohlmeier, Nils; Gutmann, Andreas: Nachhaltig nicht-nachhaltig: Rechte indigener Gruppen im Freihandelsabkommen EU-Mercosur, VerfBlog, 2024/2/08, https://verfassungsblog.de/nachhaltig-nicht-nachhaltig/, DOI: 10.59704/7b777bd425ba4ec2.

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