01 December 2019

Neue starke Stimme in der europäischen Grundrechts-Polyphonie

Mit den beiden Beschlüssen Recht auf Vergessen I und Recht auf Vergessen II (1 BvR 16/13; 1 BvR 276/17) intoniert der 1. Senat einen wohlabgestimmten Paukenschlag für den Grundrechtsschutz in der EU. Den Beschlüssen liegen mehrpolige Grundrechtsverhältnisse zugrunde, die sich bei Veröffentlichungen im Internet ergeben und die komplexe Abwägungen erfordern (s. Zusammenfassungen der Sachverhalte I und II). Für Aufmerksamkeit sorgt insbesondere der Beschluss Recht auf Vergessen II, in dem der Senat nun für bestimmte Konstellationen die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab anwendet. Ausdrücklich rückt der 1. Senat teilweise von seiner bisherigen Aussage ab, unionsrechtlich begründete Rechte gehörten nicht zu den Grundrechten, die mit der Verfassungsbeschwerde verteidigt werden könnten (II, Rn. 67). Darum geht es in diesem Beitrag.

Die beiden Sachverhalte eignen sich sehr gut für die Entfaltung der neuen Kriterien des 1. Senats für die Anwendung von GG-Grundrechten einerseits und Unionsgrundrechten andererseits. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Ausgangsfällen besteht darin, dass im Fall Recht auf Verbessen I das sogenannte Medienprivileg (Art. 9 DSRL 95/46/EG, Art. 85 DSGVO) greift. Mit dem Medienprivileg eröffnet das europäische Datenschutzrecht den Mitgliedstaaten die Möglichkeit von Abweichungen und Ausnahmen, u.a. soweit die Verarbeitung persönlicher Daten zu journalistischen Zwecken erfolgt. Auf diese Weise sollen die Mitgliedstaaten das Recht auf Schutz personenbezogener Daten mit der Meinungsfreiheit und der Informationsfreiheit in Einklang bringen können.

Entscheidendes Kriterium dafür, ob das BVerfG künftig allein die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab heranzieht, ist nunmehr die „vollständige Vereinheitlichung“ eines Reglungsbereichs durch Unionsrecht (II, Rn. 32). Nur jenseits dieses Bereichs der durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlichten Materien, soweit das Unionsrecht also – wie etwa im Fall Recht auf Vergessen I infolge des Medienprivilegs – „gestaltungsoffen“ ist, wendet das BVerfG nach wie vor – primär – die GG-Grundrechte an.

Allerdings sind die GG-Grundrechte nach diesem Beschluss auch für innerstaatliches Recht, das der Durchführung gestaltungsoffenen Unionsrechts dient, nicht stets exklusiver Prüfungsmaßstab. Eine Prüfung allein am Maßstab der GG-Grundrechte kann nämlich nicht ausreichen, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts ausnahmsweise nicht gewährleistet ist. Die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta-Grundrechte durch die Anwendung der GG-Grundrechte „mitgewährleistet“ wird, ist dann widerlegt. Insoweit ist auch dann eine Prüfung innerstaatlichen Rechts, das der Durchführung des Unionsrechts dient, unmittelbar an den Charta-Grundrechten geboten (I, Rn. 63). Diese Konstellation kann sich dann ergeben, wenn das unionsrechtliche Fachrecht ausnahmsweise auch für Umsetzungsspielräume engere grundrechtliche Maßgaben enthält und damit die GG-Grundrechte als Prüfungsmaßstab verdrängt (I, Rn. 65). Auch dann werden die GG-Grundrechte durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt.

Begründung des Senats für die Anwendung der Unionsgrundrechte

Der Senat begründet die Heranziehung der Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab zum einen mit der Integrationsverantwortung von BVerfG und Fachgerichten, zum anderen mit einer andernfalls hinsichtlich der fachgerichtlichen Anwendung der Unionsgrundrechte bestehenden Schutzlücke.

Integrationsverantwortung

Die Prüfungskompetenz des BVerfG für die Unionsgrundrechte leitet der Senat zunächst – zwanglos – aus „Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. den grundgesetzlichen Vorschriften über die Aufgaben des BVerfG im Bereich des Grundrechtsschutzes“ ab. Entsprechend seiner Aufgabe, gegenüber der deutschen Staatsgewalt umfassend Grundrechtsschutz zu gewähren, nehme das BVerfG damit seine Integrationsverantwortung im Bereich der Anwendung vollständig vereinheitlichten Unionsrechts wahr (II, Rn. 53). Darin sieht der Senat die Konsequenz der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG vorgesehenen Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union. Der spezifische Beitrag des BVerfG liege gerade darin, den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde insoweit auch auf die Durchsetzung der Unionsgrundrechte zu erstrecken – als „Funktionsäquivalent“ zu den GG-Grundrechten (II, Rn. 59, 63). Integrationsverantwortung tragen auch die Fachgerichte, die unmittelbar anwendbares Unionsrecht sowie nationales Umsetzungsrecht nach den Regeln der jeweiligen Prozessordnungen anwenden. Deshalb obliege es auch dem BVerfG, bei seiner Kontrolle der Rechtsprechung der Fachgerichte erforderlichenfalls die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen.

Schutzlücke

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden „Verdichtung“ des Unionsrechts befürchtet der Senat andernfalls Rechtsschutzlücken insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind, wie insbesondere das Datenschutzrecht. Hier ist – als Konsequenz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts – die Anwendung der GG-Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen. Daher werde ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechte zum Prüfungsmaßstab nehme. Diese Begründung bezieht der Senat auch auf den Fall, dass das Schutzniveau der Charta außerhalb vollvereinheitlichter Regelungsmaterien ausnahmsweise Anforderungen stellt, die die GG-Grundrechte nicht abdecken (II, Rn. 60, mit Verweis auf I, Rn. 67 ff.).

Die vom Senat ausgemachte Schutzlücke wird auch auf europäischer Ebene nicht geschlossen, weil Einzelne nicht die Verletzung von Unionsgrundrechten durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte unmittelbar vor dem EuGH geltend machen können. Auch die Fachgerichte könnten die Lücke nicht schließen. Vielmehr müsse die fachgerichtliche Gewährleistung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch eine grundrechtsspezifische Kontrolle durch das BVerfG insbesondere im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde ergänzt werden (II, Rn. 61 f.).

Wortlaut soll nicht entgegenstehen

Dieser Einbeziehung der Unionsgrundrechte stehe der Wortlaut der Verfassung, insbesondere der – offen formulierte – Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht entgegen. Bei der Interpretation dieser Vorschrift lässt der Senat die in eine andere Richtung deutende Entstehungsgeschichte zurücktreten. Bedeutung gewinnt demgegenüber die Interpretation im Lichte der dem BVerfG nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG aufgetragenen Mitwirkung an der Anwendung von Unionsrecht (II, Rn. 67). Diese Auslegung mag man überzeugend finden oder nicht. Am Wortlaut der Jurisdiktionsbestimmungen jedenfalls hat sich das BVerfG bei seinen Dispositionen über seine Jurisdiktionsbefugnis in EU-Angelegenheiten in den letzten vier Jahrzehnten ohnehin kaum orientiert. Auf diese Weise hat es seine Rolle im Institutionengefüge entscheidend selbst definiert – und gestärkt.

Vergleichende Einordnung

Vergleicht man diese Begründung des Senats mit den Ausführungen anderer mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte, die ebenfalls die Unionsgrundrechte in ihren Prüfungsmaßstab einbeziehen, so fällt auf, dass der Senat weder mit dem unionsrechtlichen Äquivalenzgebot noch mit der infolge der Grundrechtecharta veränderten Situation argumentiert (s. insoweit insbesondere VerfGH Österreich, U 466/11‐18, U 1836/11‐13, Erkenntnis v. 14.03.2012, Rn. 24–35). Diese Begründung vermochte schon beim österreichischen VerfGH nicht zu überzeugen, weil der VerfGH ein idiosynkratrisches Verständnis des Äquivalenzprinzips zugrunde legte. Der Vergleich macht zugleich deutlich, warum der Senat auf die verbleibende Rolle der Fachgerichte hinweist, ist doch das Erkenntnis des österreichischen VerfGH Ausdruck eines Kompetenzgerangels mit den Fachgerichten (s. Oberster Gerichtshof Österreich, 9 Ob 15/12i, Beschluss v. 17.12.2012). Die eigene Verantwortung der Fachgerichte erblickt der Senat sodann darin, die Grundrechte im Einzelfall konkretisierend im Wegen des Ausgleichs von Grundrechtspositionen anzuwenden, auch soweit die Auslegung der Grundrechte geklärt ist. (II, Rn. 64 f.).

Abgrenzungskriterium vollständige Vereinheitlichung 

Ist die Begründung des Senats für die situative Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstabe zwar nicht zwingend, aber doch plausibel, so stellt sich sogleich die Frage, wie die Unterscheidung zwischen vollständig vereinheitlichtem und gestaltungsoffenem Unionsrecht genau zu verstehen ist. Davon hängt entscheidend die Bedeutung und Reichweite der neuen Rechtsprechung ab. Zudem muss das neue Abgrenzungskriterium in der Praxis vorhersehbar zu handhaben sein. Abgrenzungsschwierigkeiten waren jedenfalls ein zentraler Kritikpunkt an der sog. Trennungsthese (s. dazu nun I, Rn. 42–44). Der Senat bekennt auch sogleich, dass das Kriterium der vollständigen Vereinheitlichung Abgrenzungsfragen aufwerfen kann (II, Rn. 77). Folglich gibt er den Fachgerichten eine Handreichung (II, Rn. 78–80) – und hat dabei offensichtlich das Datenschutzrecht im Blick. Außerdem legt der Senat den Fachgerichten eine Möglichkeit nahe, schwierige Abgrenzungsfragen dahinstehen zu lassen: Diese ergibt sich dann, wenn eine parallele Anwendung sowohl der GG- als auch der Charta-Grundrechte im konkreten Fall nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führt (II, Rn. 81). Dann können die Fachgerichte eine Vorlage an den EuGH vermeiden, weil die Abgrenzungsfrage dann nicht länger entscheidungserheblich ist. Zugleich ist dann ausgeschlossen, dass die Fachgerichte durch eine fehlerhafte Abgrenzung Bedeutung und Tragweite der GG-Grundrechte verkennen.

In der Tat ist die Abgrenzung zwischen vollständig vereinheitlichtem und gestaltungsoffenem Unionsrecht nicht ganz einfach. Offensichtlich kann dafür angesichts der Vermischung der Handlungsformen in der Rechtsetzungspraxis der Unionsorgane die Wahl der Form der Verordnung oder der Richtlinie nicht entscheidend sein. Es handelt sich um eine Frage der Auslegung der jeweils anzuwendenden Vorschrift des unionsrechtlichen Fachrechts. Der Senat bezieht sich insoweit auf die Rechtsprechung des EuGH zu einzelnen Bestimmungen der Urheberrechts-Richtlinie 2001/29/EG (II, Rn. 78). Danach sei in Bezug auf die jeweilige Norm des Unionsrechts zu untersuchen, ob sie auf die Ermöglichung von Vielfalt und die Geltendmachung verschiedener Wertungen angelegt sei. Gestaltungsoffenheit sei nicht intendiert, wenn die Norm nur dazu dienen solle, besonderen Sachgegebenheiten hinreichend flexibel Rechnung zu tragen, dabei aber von dem Ziel der gleichförmigen Rechtsanwendung getragen sei (II, Rn. 80). Die Frage sei dabei zunächst jeweils in Bezug auf die konkret auf den Fall anzuwendenden Vorschriften in ihrem Kontext zu beurteilen, nicht aber aufgrund einer allgemeinen Betrachtung des Regelungsbereichs (II, Rn. 78). Weiterhin sollen aber auch die Einbindung der Vorschrift in das Regelwerk als Ganzes und die hiermit verbundene Zielsetzung Berücksichtigung finden. In diesem Zusammenhang betont der Senat, dass Öffnungsklauseln – wie in der DSGVO – Gestaltungsmöglichkeiten nur in dem jeweils freigegebenen Umfang zulassen, nicht aber erlauben, die Anwendung der Regelung insgesamt an den GG-Grundrechten zu messen (II, Rn. 79).

Justierung der Balance im europäischen Grundrechtsschutz

Mit seiner Neubestimmung der Prüfungsmaßstäbe im Kontext des Unionsrechts versucht der Senat, dem BVerfG in der europäischen Grundrechtsjudikatur angesichts der zunehmenden Verdichtung des Unionsrechts und der damit einhergehenden Verdrängung der GG-Grundrechte gegenüber dem EuGH mehr Gewicht zu verleihen. Zudem kann man darin eine Stärkung der Grundrechtecharta sehen. In diesem Sinne wird jedenfalls EuGH-Präsident Lenaerts zitiert. Ihrer Durchsetzung durch das BVerfG stärkt die Charta jedenfalls insofern, als ihr damit gegenüber dem sonstigen – „überkonstitutionalisierten“ – Primärrecht, dessen hierarchischen Rang sie nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EUV teilt, eine herausgehobene Position zuteilwird.

Für die Einbettung in den europäischen Kontext ist zunächst von Bedeutung, dass bereits andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab herangezogen haben. Für Aufsehen sorgte insbesondere bereits 2012 der österreichische Verfassungsgerichtshof mit dem schon erwähnten Erkenntnis, welches das Asylrecht betraf. 2018 entwickelten der belgische Verfassungsgerichtshof in einem datenschutzrechtlichen Fall und der französische Conseil Constitutionnel in einem Fall zur Wahrung von Geschäftsgeheimnisse eine ähnliche Rechtsprechung. Zuletzt zog 2019 die italienische Corte costituzionale Art. 7 und 8 GRCh in einem ebenfalls datenschutzrechtlichen Fall als Maßstab heran. Im Vergleich zu diesen Gerichten, auf deren Entscheidungen er explizit Bezug nimmt (II, Rn. 50), übt der Senat Zurückhaltung, indem er seine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte grundsätzlich auf die innerstaatliche Anwendung unionsrechtlich vollvereinheitlichten Rechts beschränkt. Vergleichbare Einschränkungen finden sich in den Entscheidungen der anderen Gerichte nicht.

Mit Blick auf das notorisch schwierige Verhältnis des BVerfG zum EuGH als Grundrechtsgericht betont der Senat, dass das BVerfG, soweit es die Charta-Grundrechte als Prüfungsmaßstab anlege, seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH ausübe (II, Rn. 68). Für die einheitliche Auslegung der Charta-Grundrechte ist dies zentral. Dabei anerkennt der Senat das „letzte Wort“ des EuGH bei der Auslegung der Charta-Grundrechte und der Entwicklung der aus ihnen abzuleitenden Grundsätze für deren Anwendung (II, Rn. 69). Die Anwendung der Unionsgrundrechte durch das BVerfG komme demgegenüber nur in Betracht, soweit der EuGH deren Auslegung bereits geklärt habe oder aber die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze aus sich heraus offenkundig seien. Insofern verweist der Senat auch auf die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR, die im Einzelfall auch den Inhalt der Charta bestimmt (vgl. Art. 52 Abs. 3, 4 GRCh).

Andernfalls seien die Fragen dem EuGH vorzulegen. In der Konstellation vollständiger unionsrechtlicher Vereinheitlichung sind Auslegungsfragen grundsätzlich unmittelbar entscheidungserheblich. Deshalb prognostiziert der Senat in nachvollziehbarer Weise, dass hier Vorlagen in wesentlich größerem Umfang in Betracht zu ziehen sein werden als in Fällen, in denen neben dem GG zwar auch die Charta anwendbar ist, das BVerfG aber – wie bisher – seine Kontrolle am Maßstab der deutschen Grundrechte ausübe (II, Rn. 70). Davon darf sich das BVerfG erhoffen, über detaillierte Vorabentscheidungsersuchen auf die Grundrechtsjudikatur des EuGH Einfluss nehmen zu können. Mangels Entscheidungserheblichkeit offen lässt der Senat die im Raume stehende Frage, wie sich die Vorlagepflicht des BVerfG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV dann zu der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Fachgerichte verhält (II, Rn. 72).

Die hier angekündigte Vorlage- und Kooperationsbereitschaft steht im Kontrast zu einer langjährigen Zurückhaltung und später auch konfrontativen Wahrnehmung des Vorabentscheidungsverfahrens jenseits der Unionsgrundrechte. Im Rahmen der mit dem Beschluss Recht auf Vergessen II zu entscheidenden Verfassungsbeschwerde selbst hält der Senat eine Vorlage an den EuGH übrigens nicht für geboten. Die Anwendung der Unionsgrundrechte auf den vorliegenden Fall werfe keine Auslegungsfragen auf, die nicht schon aus sich heraus klar oder durch die Rechtsprechung des EuGH – unter ergänzender Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR – hinreichend geklärt seien. Dies legt der Senat ausführlich dar (II, Rn. 137–141; für Kritik daran s. hier).

Selbststand der nationalen Grundrechte?

Versucht der Senat also, einer Marginalisierung des BVerfG entgegenzuwirken, so lautet doch ein zentraler Kritikpunkt gegenüber der von ihm gefundenen Lösung, die Unionsgrundrechte als prinzipalen Prüfungsmaßstab heranzuziehen, dass sie die nationalen Grundrechte schwäche. Wohlgemerkt ist zwischen dem institutionellen Gewicht des BVerfG und der materiell-rechtlichen Selbständigkeit der GG-Grundrechte als Ausdruck einer eigenen Grundrechtstradition zu unterscheiden. Die Anwendung der Unionsgrundrechte stellt den Versuch dar, das BVerfG institutionell zu stärken, soweit die GG-Grundrechte nicht anwendbar sind. Einer gleichzeitigen Schwächung der GG-Grundrechte soll immerhin teilweise entgegenwirken, dass der Senat die Anwendung der Unionsgrundrechte auf bestimmte Konstellationen beschränkt.

Der Senat erinnert vor diesem Hintergrund an das gemeinsame Fundament von unionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Grundrechtsstandards in der EMRK (I, Rn. 57; II, Rn. 44, 59). Vor allem aber betont er den Selbststand der GG-Grundrechte. Unbeschadet ihrer Wechselwirkungen seien Charta-Grundrechte und GG-Grundrechte jeweils autonom auszulegen (I, Rn. 66). Es könne zunächst nicht davon ausgegangen werden, dass sich ein einheitlicher Grundrechtsschutz nach der Charta in den Einzelheiten mit jenem nach dem Grundgesetz decke. (II, Rn. 44–46). Weiterhin unterstreicht der Senat, dass gerade eine eigenständige und in einzelnen Wertungen abweichende Interpretation der GG-Grundrechte für Materien Bedeutung haben könne, die nicht unionsrechtlich überformt sind. Dies gelte jedenfalls insoweit, als die Charta nicht ihrerseits nur die für alle Mitgliedstaaten ohnehin verbindlichen EMRK-Gewährleistungen absichere, sondern für das Unionsrecht spezifisch eigene Konkretisierungen hervorbringe (I, Rn. 62).

Dem Selbststand der GG-Grundrechte kommt gewiss auch zugute, dass sich der Senat für die „radikalere“ Variante entschieden hat, die Unionsgrundrechte selbst als prinzipalen Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Stattdessen hätte er die GG-Grundrechte auch in A