Neun Seiten Substanzlosigkeit
Die Stellungnahme des „Fachbereich Europa“ des Bundestags zu EU-Recht und Cannabis-Legalisierung
Die deutsche Presselandschaft und Teile des politischen Berlin sind in Aufruhr: Aus der Bundestagsverwaltung kommen drei „Gutachten“ zur Cannabis-Legalisierung, allerdings etwas verspätet: eines vom Wissenschaftlichen Dienst („WD“) zur Vereinbarkeit der Legalisierung mit dem Völkerrecht (abgeschlossen schon am 22.7.2022!), ein anderes zur niederländischen Praxis (WD 9 – 3000- 1022/) und schließlich eines der „Unterabteilung Europa/Fachbereich Europa“ zum EU-Recht, welches fälschlicherweise überall – so zunächst auch hier – ebenfalls dem WD zugeschrieben wurde. Um letzteres soll es hier gehen, wobei von einem „Gutachten“ im wissenschaftlichen Sinn keine Rede sein kann. Die Autoren selbst sprechen bescheidener von „Ausarbeitung“. In Auftrag gegeben hat sie ein CSU-Abgeordneter, der sich nun in seiner Meinung bestätigt sieht, dass eine deutsche Cannabis-Legalisierung völker- und europarechtswidrig wäre. Interessant wäre zu wissen, wie es möglich ist, dass ein einzelner Abgeordneter eine solche „Ausarbeitung“ von der genannten Unterabteilung anfordern kann.
Tatsächlich kann man dem dünnen, knapp neunseitigen Dokument – unter Abzug der ersten drei Seiten Deckblatt und Gliederung tatsächlich nur sechs Seiten – keine substantielle Stellungnahme zu der uns interessierende Frage entnehmen, denn es gibt lediglich die einschlägigen Vorschriften des – inzwischen allseits bekannten – Rahmenbeschlusses 2004/757/JI (Artikel 2) und des Schenger Durchführungsübereinkommens („SDÜ“) von 1990 (Art. 71) wieder und zitiert aus einer für die zu klärende Frage nur indirekt relevanten EuGH-Entscheidung (Rechtssache C-137/09, Josemans gegen Burgemeester van Maastricht, Urteil v. 16.12.2010). Eine Analyse oder Auslegung der zitierten Vorschriften findet nicht statt, eine Auseinandersetzung mit der (anwachsenden) wissenschaftlichen Literatur ebenfalls nicht, es wird lediglich auf die bekannten Beiträge von Hofmann (hier und hier und nun noch knapper in NStZ 2022, Heft 8, Editorial) verwiesen (Fn. 2), aber weder auf Gegenansichten (s. z.B. hier und differenzierend hier) noch auf weiterführende Literatur (z.B. die gründliche zweibändige Studie von van Kempen/Fedorova, Intersentia, 2019).
Zuzugeben ist, dass die „Ausarbeitung“ schon vom 16.8.2022 stammt, so dass jedenfalls die weiterführenden Gedanken von Thym aus zeitlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnten. Als Schnellschuss erinnert das Papier an das „Gutachten“ zur Konfliktteilnahme durch militärische Unterstützung der Ukraine, das sich allerdings anders als die aktuelle „Ausarbeitung“ immerhin mit der einschlägigen Literatur auseinandersetzt. Im Einzelnen:
1. Aus dem Rahmenbeschluss 2004/757/JI werden zunächst Art. 2 Abs. 1 lit. a)-c) rezitiert, ohne dass das grundsätzliche Ziel der Vorschrift, wie es schon im Titel zu Ausdruck kommt (Kriminalisierung von Taten „in Verbindung mit illegalem Handel mit Drogen“), erwähnt wird. Zwischen den unterschiedlichen Tathandlungen wird nicht differenziert, obwohl das in Art. 2 selbst angelegt ist, wenn dort etwa in lit. c) der Besitz oder Kauf von Drogen mit dem Ziel der in lit. a) aufgeführten Handlungen (die eben dem illegalen Handel dienen) erfasst wird und dies, wie sich aus Abs. 2 ergibt, von Handlungen zum Zwecke des „persönlichen Konsum[s] im Sinne des nationalen Rechts“ abzugrenzen ist. Dieser Abs. 2 wird in der „Ausarbeitung“ nur en passant erwähnt, obwohl er doch für die uns interessierende Frage – welcher Spielraum verbleibt einem Mitgliedsstaat bei der Legalisierung des persönlichen Konsum – von entscheidender Bedeutung ist (dazu schon hier [bei Fn. 11] und hier). Der Verweis auf Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 hängt ohne erklärende Auslegung ebenfalls in der Luft. Er enthält nicht mehr als den – seit der bahnbrechenden EuGH-Entscheidung im sog. griechischen Maisskandal – europastrafrechtlich üblichen Verweis auf die sanktionsrechtliche Mindesttrias (dazu Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 11 Rn. 39, 42); entscheidend ist aber, ob die Legalisierung des persönlichen Konsums (von Cannabis) überhaupt eine Straftat i.S.v. Art. 2 und 3 darstellt. Darüber lässt sich streiten, die Autoren schweigen dazu. Ebenso gehen sie darüber hinweg, dass Art. 2 Abs. 1 voraussetzt, dass die dort genannten Handlungen „ohne entsprechende Berechtigung“ vorgenommen werden, obwohl sich bei einer innerstaatlichen Legalisierung ja gerade argumentieren ließe (und auch schon argumentiert worden ist, s. hier), dass der entsprechende Handel mit „Berechtigung“ erfolgt.
2. Aus dem SDÜ wird nur Art. 71 Abs. 1, 2 und 5 rezitiert, aber ebenfalls ohne eine nur ansatzweise Analyse. Insoweit kann ich auf meine – vor der „Ausarbeitung“ veröffentlichte – frühere Stellungnahme verweisen, wonach Art. 71 zunächst fünf Absätze enthält und alle diese Absätze, einschließlich Absatz 2, im systematischen und teleologischen Gesamtzusammenhang auszulegen sind. Dabei ist insbesondere von Bedeutung, dass Absatz 1 explizit den Besitz von Betäubungsmitteln „zum Zwecke der Abgabe oder Ausfuhr“ mit Blick auf die „bestehenden Übereinkommen der Vereinten Nationen“ regulieren will, also explizit auf die völkerrechtlichen Vorgaben Bezug nimmt. Auf diese Vorgaben verweisen die Autoren unter einem mit „Exkurs“ überschrieben Abschnitt (2.3.) nur, ohne dass allerdings ein solcher Exkurs – also eine abschweifende Erörterung – vorgenommen würde (es wird nicht einmal auf einschlägige Literatur verwiesen). Art. 71 Abs. 2 SDÜ wiederum bezieht sich primär auf die „unerlaubte Ausfuhr“ von Betäubungsmitteln, um die es bei der kontrollierten Abgabe zum Eigenkonsum innerhalb eines nationalen Markts überhaupt nicht geht. Was schließlich den ebenfalls zitierten Art. 71 Abs. 5 angeht, so verweist dieser hinsichtlich der – in unserem Zusammenhang besonders wichtigen – „Eindämmung der unerlaubten Nachfrage“ auf den „Verantwortungsbereich der einzelnen Vertragsparteien“; dies wird in der „Ausarbeitung“ gänzlich ignoriert. Man kann also nochmals festhalten: Erstens ist Art. 71 SDÜ im Lichte der völkerrechtlichen Abkommen auszulegen bzw. will diese nachvollziehen. Zweitens überlässt die Vorschrift die Regulierung des nationalen Markts („Nachfrage“ i.S.v. Abs. 5) den Mitgliedsstaaten („Verantwortungsbereich der einzelnen Vertragsparteien“). Drittens geht es immer um ein „unerlaubtes“ Handeln (bei Ausfuhr, Einfuhr, Nachfrage), was zum einen auf die völkerrechtlichen Abkommen zurückverweist (was ist unerlaubt in deren Sinne?) und zum anderen eben dazu führt, dass eine (völkerrechtlich) erlaubte Produktion und Abgabe zum Eigenkonsum überhaupt nicht unter die Vorschrift fällt.
3. In der zitierten Rechtssache Josemanns, in der der EuGH übrigens ausdrücklich auf Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluss Bezug nimmt (Rn. 5, 39), ging es um die Frage, ob das niederländische Recht (hier angewendet durch den Burgemeester von Maastricht) nicht in den Niederlanden ansässigen EU-Bürgern den Zugang zu einem Coffeeshop verbieten kann oder dies aus europarechtlicher Sicht gegen den freien Waren- und/oder Dienstleistungsverkehr oder das Diskriminierungsverbot verstößt. Der EuGH sah keinen Verstoß (Rn. 36 ff. [54, 84]), weil ein grenzüberschreitendes Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln (u.a. nach Art. 71 SDÜ) verboten und die „Bekämpfung des Drogentourismus“ als „Teil der [grenzüberschreitenden] Drogenbekämpfung“ (Rn. 65) legitim ist. Eine nationale faktische Toleranzpolitik wie die niederländische ändert daran nichts (Rn. 43). Eine EU-weite Gleichbehandlung (Nicht-Diskriminierung) kann insoweit nur bezüglich der in einem Coffeeshop verkauften legalen Produkte beansprucht werden (Rn. 54). Die Pointe dieses Urteils besteht nun aber darin, dass das EuGH mit Blick auf die rein faktische niederländische Toleranzpolitik von der Aufrechterhaltung des grundsätzlichen Verbotsregimes ausgehen konnte und damit die Binnenmarktvorschriften nicht anwendbar waren (s. schon Thym). Die Autoren zitieren insoweit die entscheidende Rn. 43 (S. 9), verkennen aber diese Pointe und den ihr immanenten Sprengstoff, wenn ein Mitgliedsstaat, wie eben Deutschland, einen einheitlichen legalen und staatlich kontrollierten Cannabismarkt etablieren will. Wird Cannabis, anders als in den Niederlanden, tatsächlich und umfassend legalisiert, so wäre es eine europarechtswidrige Ungleichbehandlung von nicht-deutschen EU-Bürgern, wenn ihnen der Zugang zu diesem legalen Cannabis verwehrt würde. Denn dieses Cannabis wäre dann eben wie jedes andere legale Produkt im europäischen Binnenmarkt zu behandeln, würde also an den Grundfreiheiten teilhaben. Praktisch würde das bedeuten, dass EU-Bürgern wie deutschen Bürger erlaubt wäre, in Deutschland legal Cannabis zu konsumieren; Deutschland wäre aber verpflichtet, den grenzüberschreitenden Handel mit Cannabis, also insbesondere seine Ausfuhr, zu unterbinden. Darin liegt m.E. das europarechtliche und praktische Hauptproblem, nicht so sehr in dem rudimentären EU-Drogen(straf)recht. In einem grundsätzlich offenen Binnenmarkt verbieten sich eben nationale Alleingänge, die die vom Binnenmarkt geschützten Freiheiten betreffen. Insoweit wäre natürlich auch bei der Cannabis-Legalisierung eine EU-weite Lösung sinnvoller; sollte dies aber eine gesundheits- und kriminalpolitische sinnvolle Lösung auf nationaler Ebene verhindern, wenn eine EU-weite Einigung nicht möglich ist?
4. Im Ergebnis ändert die dünne Stellungnahme des „Fachbereichs Europa“ nichts an der – problematischen – europäischen und auch völkerrechtlichen Rechtslage. Völkerrechtlich kommt es entscheidend auf die Auslegung der nationalen Verfassungsvorbehalte mit Blick auf die Legalisierung/Entkriminalisierung des Eigenkonsums an. Europarechtlich ist die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 von Rahmenbeschluss 2004/757/JI entscheidend; im Übrigen vollzieht das Europarecht das Völkerrecht nach (was auch nicht anders sein kann, weil ja die EU auch Vertragspartei der Wiener Drogenkonvention 1988 ist). Es ist höchste Zeit, die notwendige (völker-/europa-)rechtliche Debatte auf einem angemessenen Niveau zu führen, nicht nur auf diesem Blog. Stellungnahmen wie die hier analysierte als autoritative Rechtsgutachten zu behandeln, trägt dazu nichts bei.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels enthielt einen faktischen Fehler, der korrigiert wurde, d.Red.
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