Offene Flanken der Brandenburger Justiz
Die seit dem Beginn der Rechtsstaatskrise in Polen (2015) geführte Debatte über die unzureichende Resilienz der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit steht mit zwei konkreten Entwürfen zur Änderung von Art. 93 und 94 GG auf der Zielgeraden. Zur Stärkung der Resilienz des Thüringer Verfassungsgerichtshofes hat das Thüringen-Projekt jüngst konkrete Vorschläge unterbreitet. Bislang nicht im Fokus der Debatte stand die Justiz in Brandenburg. Zu Unrecht: Im September wird auch in Brandenburg gewählt. Nach den derzeitigen Umfragen ist eine Mehrheit für die derzeitige Kenia-Koalition denkbar knapp; Parteien, die auf Konfrontationskurs gegen das von ihnen verhasste „System“ gehen, haben gute Aussichten, mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag zu erringen. Angesichts der Konsequenzen, die ein Erstarken solcher Kräfte hätte, besteht noch vor der Wahl Handlungsbedarf.
Funktionsfähigkeit des Landesverfassungsgerichts
Erfreulicherweise sieht die Brandenburger Verfassung zur Absicherung des Landesverfassungsgerichts schon heute gewisse Regeln vor, die auf Bundesebene noch in der Diskussion sind. So ist der Status als selbstständiger und unabhängiger Gerichtshof des Landes, die maximale Größe von zwölf Richtern und die Amtszeit von zehn Jahren in Art. 112 der Verfassung des Landes Brandenburg festgeschrieben. Ebenfalls ist in der Verfassung selbst – und nicht allein im einfachen Recht – vorgesehen, dass es einer Zweidrittelmehrheit für die Wahl der Richter bedarf. Erreicht eine Partei mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag, könnte sie also die Wahl neuer Richter blockieren oder als Hebel nutzen, um eigene Kandidaten durchzusetzen. Gegen dieses Erpressungspotential ist – anders als etwa in Thüringen – durch § 6 Abs. 2 S. 2 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg Vorsorge getroffen worden. Art. 112 Abs. 4 S. 2 LV formuliert zwar das Ziel, dass „[b]ei der Wahl […]anzustreben [ist], dass die politischen Kräfte des Landes angemessen mit Vorschlägen vertreten sind“ (vgl. dazu Lehmann/Sturzebecher). Für den Fall, dass es etwa dadurch zu einer Blockade kommen sollte, sieht § 6 Abs. 2 S. 2 VerfGGBbg vor, dass ausscheidende Richter ihre Amtsgeschäfte bis zur Ernennung des Nachfolgers fortführen. Damit dürfte für die Neuwahl des Präsidenten und Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichts sowie von vier weiteren Richtern, deren Amtszeit in der kommenden Legislaturperiode bis September 2029 endet, eine Absicherung der Funktionsfähigkeit des Landesverfassungsgerichts gegen eine Sperrminorität einfachgesetzlich bereits bestehen.
Scheidet ein Richter aus anderen Gründen als wegen des Erreichens der Altersgrenze oder des Endes der Amtszeit aus, besteht ebenfalls eine einfachgesetzliche Absicherung. Ist etwa ein Verfassungsrichter oder eine Verfassungsrichterin dauernd dienstunfähig oder gar zu einer Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden, reduziert sich das Beschlussfähigkeitsquorum von sechs um die Anzahl der ausgeschiedenen Richter, § 8 VerfGGBbg.
„Verwundbarkeit“ des Landesverfassungsgerichts
Allerdings kann eine einfache Landtagsmehrheit die skizzierten einfachgesetzlichen Absicherungen der Funktionsfähigkeit des Landesverfassungsgerichts aufheben. Prozedurale Regelungen, die nach polnischem Vorbild die Funktionsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigen sollen – etwa eine ausufernde Begründungspflicht oder eine Pflicht zur chronologischen Abarbeitung der Fälle –, könnten in das Landesverfassungsgerichtsgesetz mit einfacher Mehrheit aufgenommen werden. Auch die Regelung, dass „Entscheidungen des Verfassungsgerichts […] die Verfassungsorgane sowie alle Gerichte und Behörden des Landes [binden]“, findet sich nicht in der Verfassung, sondern nur in § 29 VerfGGBbg. Zudem kommen die einfachgesetzlichen Lösungsansätze bei einer anhaltenden Blockadesituation an ihre Grenzen. Denn je länger eine Nachwahl verhindert wird, desto größer wird das Defizit an demokratischer Legitimation (vgl. dazu Berlin) und desto mehr wird die Arbeitsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigt. Aufwendige Verfahren können wegen des „Risikos“ eines Richterwechsel nicht mehr durchgeführt werden – ganz abgesehen von der Frage nach dem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), die sich nach Ablauf der regulären Amtszeit immer drängender stellen wird.
Auch für das Verfassungsgericht von Brandenburg besteht deshalb Handlungsbedarf – sowohl mit Blick auf dessen Resilienz gegen obstruktive Minderheiten als auch gegen einfache Mehrheiten im Landtag, denen das eine oder andere Urteil oder gleich „die ganze Richtung“ nicht gefällt. Sowohl eine dazu von der Justizministerkonferenz ins Leben gerufene Bund-Länder-Arbeitsgruppe als auch die Rechtswissenschaft haben dazu tragfähige Vorschläge entwickelt. Hierzu gehören namentlich ein maßgeblich aus Landesrichtern bestehendes Auffangwahlorgan, das aus eigenen Personalvorschlägen des Landesverfassungsgerichts – analog zu § 7a BVerfGG – die geeigneten Nachfolgerinnen und Nachfolger auswählt bzw. ein in weiteren Wahlgängen abgestuftes Mehrheitserfordernis im Landtag. Zudem kann als letzte Absicherungsstufe die Organleihe nach Art. 99 GG vorgesehen werden (dazu: Machura/Weickert, Ausfalloption Karlsruhe). Gleichzeitig sollte der Landtag – wie auch im Bund konsentiert – die Bindungswirkung der landesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen in die Verfassung aufnehmen.
Instanzgerichte bislang nicht hinreichend im Fokus
Die Verfassungsgerichte nehmen in der Justizlandschaft eine herausgehobene Stellung ein. Die Rechtstaatskrisen in Polen, Ungarn, der Türkei und vielen weiteren Ländern haben in der Tat gezeigt, dass der Griff nach der totalen Macht stets bei den obersten Gerichten beginnt, bevor auch weitere verhasste Institutionen wie der öffentliche Rundfunk, die „Systemmedien“, die sonstigen obersten Gerichte sowie die Sicherheitsdienste in den Blick genommen werden können (vgl. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit, EU-Kommission, 2022. Länderkapitel Polen). Dennoch werden Gewaltenteilung und Rechtsbindung im Alltag nicht allein durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern primär durch die Verwaltungs-, die ordentliche und die (sonstige) Fachgerichtsbarkeit abgesichert – auch in den „unteren Instanzen“.
Angriffe auf die Unabhängigkeit, Funktionsfähigkeit und die Durchsetzungsfähigkeit der Dritten Gewalt – auch dies zeigen die Krisen vieler unserer Partnerländer – sind zunächst eher unspektakulär. Sie reichen von Aufrufen extremer Parteien zur Beteiligung an der Schöffenwahl und politisch motivierten Versetzungen über gesinnungsgefärbte Beurteilungen bis hin zur der Verächtlichmachung von Instanzgerichten durch die anderen Gewalten. Ganz akut ist indes in Brandenburg ein anderes Problem: Eine drohende Sperrminorität im Richterwahlausschuss. Nach Art. 109 LV und § 11 Abs. 1 BbgRiG entscheidet der Richterwahlausschuss über jede Berufung in das Richteramt. Mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Richterwahlausschusses sind Abgeordnete des Landtages; eine Vertretung aller Fraktionen ist ausdrücklich vorgesehen (Art. 109 Abs. 1 S. 2 LV). Auch die Vertreter der Richter-, der Anwalt- und der Staatsanwaltschaft werden – von einer Vorschlagsliste, welche die Berufsgruppen aufstellen (§ 15 BbgRiG) –, vom Landtag selbst gewählt (§ 12 BbgRiG). Zum Richter gewählt ist nur „wer zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erhält“ (§ 22 Abs. 1 BbgRiG).
Auch im Vergleich mit anderen Bundesländern scheint das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für sämtliche Berufungen in das Richteramt missbrauchsanfällig und weder geeignet noch erforderlich für eine demokratische Legitimation der dritten Gewalt. Zudem sieht sich der Richterwahlausschuss ohnehin seit jeher der Kritik ausgesetzt, in Sachen Bestenauslese i.S.d. Art. 33 Abs. 2 GG und Unabhängigkeit i.S.d. Art. 97 GG dysfunktional zu sein (vgl. Wittreck, Gutachten, Dt. Juristentag 2020/2022). Mittel- bis langfristig wird das Zweidrittelerfordernis die erforderlichen Nachbesetzungen sowie Beförderungen verhindern oder dazu führen, dass das Drohpotential einer Blockade dazu missbraucht wird, „eigene“ Kandidaten durchzusetzen. Das würde die Unabhängigkeit der Justiz massiv beschädigen und die – nur bei hinreichender Personalausstattung leistbare – Justizgewährung in angemessener Zeit gefährden. Der Gesetzgeber sollte das Brandenburger Richtergesetz daher gleichlautend zu § 22 Abs. 1 S. 4 des Berliner Richtergesetzes so ändern, dass eine einfache Mehrheit genügt, wenn ein Personalvorschlag in den Richterwahlausschuss wiedereingebracht wird. Um einen damit ggf. verbundenen Einflussverlust der Landtagsabgeordneten gegenüber dem Justizministerium zu kompensieren, sollte erwogen werden, den jeweiligen Personalvorschlag von der Präsidentin oder dem Präsidenten des oberen Landesgerichts, nach Beteiligung des Präsidialrats, einbringen zu lassen.
Mit dem Resilienz-Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, den die Justizministerkonferenz auf ihrer Frühjahrestagung verabschieden wird, steht in Deutschland erstmals eine umfassende Schwachstellenanalyse zur Verfügung, die die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats auch im Ländervergleich in den Blick nimmt. Brandenburg gehört – wie Thüringen – zu jenen Ländern, die Nachholbedarf aufweisen – damit auch in künftigen, womöglich noch raueren Legislaturperioden eine funktionierende Gewaltenteilung gewährleistet bleibt.
Dass eine Fraktion mit einer Sperrminorität versucht, eigene Kandidaten durchzusetzen, ist kein Skandal, sondern im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Glauben die Autoren etwa, dass beispielsweise die Grünen den Personalvorschlägen der CDU aus reiner Selbstlosigkeit zustimmen (und nicht, weil ihrerseits die CDU die Vorschläge der Grünen unterstützt)?
Es geht nicht um die Interaktion demokratischer Parteien. Es geht darum, dass die Verfassungsgerichte strukturell angreifbar sind gegenüber antidemokratischen Demontagen. Das ist kein Skandal, aber es ist bedenklich.
Bedenklich ist, dass ein kleiner Teil meint ganz genau zu wissen, was und wer antidemokratisch ist.
ah Ihr “kleiner Teil” besteht tatsächlich aus der demokratischen Mehrheit der gewählten Volksvertreter und der Bürger. Und wir sind doch nun wirklich schon längst darüber hinaus, uns darüber zu streiten, ob die AFD rechtsextrem ist, oder?
Bei dem Richterwahlausschuss des Landes Brandenburg stellt sich auch die Frage, inwieweit es für die demokratische Legitimation der Richterinnen und Richter – und nur hierin dürfte die Beteiligung ihre Berechtigung finden – überhaupt einer Befassung oder Entscheidung eines Richterwahlausschusses bedarf, soweit es um mehr als die erstmalige Ernennung von Richterinnen und Richtern bzw. deren Aufnahme in den Richterdienst geht. Weshalb die Beteiligung eines Gremiums, in dem Landtagsabgeordnete über eine entscheidende Mehrheit verfügen, auch bei jeder sogenannten Beförderung oder gleichrangigen Versetzung vorgesehen ist, erschließt sich aus dem Gedanken demokratischer Legitimation der Dritten Gewalt als solcher jedenfalls nicht.
Sie denken an zb Kooptation durch die Richter selbst, ja? oder ähnliches?
Sie haben natürlich recht, dass im Vergleich etwa ein Parlament den Richtern was husten täte, würden diese sich das Recht nehmen und über die Besetzung der Abgeordneten-Sitze (mit)entscheiden zu wollen etc.