Ausfalloption Karlsruhe
Wie das Bundesverfassungsgericht eine funktionsunfähige Landesverfassungsgerichtsbarkeit auffangen könnte
Antidemokratische Kräfte erstarken – und mit ihnen die parlamentarische Obstruktion in Bund und Ländern. Wenn solche Kräfte in den anstehenden Landtagswahlen mehr als ein Drittel oder gar die Mehrheit der Stimmen gewinnen, stellt sich mit Dringlichkeit die Frage, wie die Landesverfassungsgerichte funktionsfähig bleiben können. Eine derzeit diskutierte Möglichkeit besteht darin, die für das Bundesverfassungsgericht diskutierten Mechanismen auch auf die Landesverfassungsgerichtsbarkeit zu übertragen (dazu auch Gundling und Reutter). Eine andere Option wäre es, den Weg zu beschreiten, den das Grundgesetz in Art. 99 GG vorgezeichnet hat: die Organleihe.
Wie die Organleihe funktioniert
In Thüringen wird für die Wahl der Verfassungsrichter:innen eine Zweidrittelmehrheit benötigt (vgl. Art. 79 III S.3 ThürVerf. Bis zum Jahr 2029 scheiden alle neun amtierenden Thüringer Landesverfassungsrichter:innen und sieben ihrer Stellvertreter:innen aus dem Amt aus. Da ein geschäftsführender Verbleib perspektivisch durch die harte Altersobergrenze und weitere Voraussetzungen (§ 4 ThürVGHG) beschränkt ist, könnte sich dieses Problem in nicht allzu ferner Zukunft zuspitzen (siehe hier). Schon wenn mehr als ein Drittel der Abgeordneten die Verfassungsrichter:innenwahl konsequent blockieren, könnte das Landesverfassungsgericht personell ausbluten. Dann könnten landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten – vom Wahl- und Wahlprüfungsrecht über die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse bis hin zur Wahl der Ministerpräsident:innen – kaum mehr entschieden werden. Selbst wenn zunächst genügend Richter:innen geschäftsführend im Amt verbleiben, stellt sich irgendwann die Frage, ob das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verletzt ist.
Nach Artikel 99 Alt. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht das Recht, über Landesverfassungsstreitigkeiten zu entscheiden, wenn ihm von den Ländern eine solche Befugnis übertragen wurde. Das Land darf dem Bundesverfassungsgericht dabei nur solche Kompetenzen übertragen, die er auch einem Landesverfassungsgericht übertragen kann (siehe BVerfGE 1, 208). Das Verfahren würde nach den landesrechtlichen Vorschriften vor dem Bundesverfassungsgericht geführt.1)
Zurück zum Beispiel Thüringen: Nach Art. 80 ThürVerf kann das Landesverfassungsgericht sowohl über landesrechtliche Verfassungsbeschwerden von Bürger:innen und Gemeinden, abstrakte und konkrete Normenkontrollen, Zulässigkeit von Volksbegehren, Verfassungswidrigkeiten von Untersuchungsaufträgen (Art 64 I ThürVerf) und Anfechtungen der Prüfung der Wirksamkeit der Landeswahl entscheiden. All diese Kompetenzen könnte der Thüringer Landesgesetzgeber an das Bundesverfassungsgericht übertragen. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist dabei das Landesverfassungsrecht. Es umfasst alle Grundrechte, Grundentscheidungen und Grundsätze, die aus dem Text und Gesamtinhalt der Landesverfassung ableitbar sind.2) Das Grundgesetz kann zwar durch seine Prinzipien hineinwirken, aber das Landesverfassungsrecht bleibt Landesverfassungsrecht. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht als beliehenes Landesverfassungsgericht agiert und der Streitgegenstand stets ein Landesstaatsakt und dessen Vereinbarkeit mit der jeweiligen Landesverfassung sein muss.3)
Neben der Verfassungsgerichtsbarkeit hat auch die einfache Landesgerichtsbarkeit eine essenzielle Bedeutung für den Rechtsstaat und den Individualrechtsschutz. Deshalb wäre es wichtig, dass der Landesgesetzgeber nach Art. 99 Alt. 2 GG den Bundesgerichten als Revisionsinstanz zudem die letztinstanzliche Entscheidungskompetenz bei der Anwendung von einfachem Recht zuweist.4) Im Gegensatz zu der Organleihe des Bundesverfassungsgerichts ist das aber nicht die alleinige Entscheidung der Länder. Der Bund darf nicht von seiner vorrangigen Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 I Nr. 1 GG oder Art. 108 VI GG Gebrauch gemacht haben.5) So könnten auch Landesrechtssachen, die keine Verfassungsstreitigkeiten sind, an die rechtsstaatlichen, funktionierenden Bundesgerichte gegeben werden.
Schon ein einfaches Landesgesetz könnte die Resilienz erhöhen
Bisher wurde Art. 99 GG in der Geschichte der Bundesrepublik nur in Schleswig-Holstein angewendet, bis das Bundesland 2008 ein eigenes Landesverfassungsgericht einrichtete (früher Art. 44 I LVerf SH, jetzt Art. 51 I LVerf SH). Eine Kompetenzverlagerung für den Fall einer Funktionsunfähigkeit der Landesverfassungsgerichtsbarkeit gab es in der Geschichte des Grundgesetzes noch nie. Dennoch widerspricht der Regelungsvorschlag nicht dem Zweck der Norm: Einerseits gab es den Wunsch einzelner neu gebildeter Länder, in denen ehemaliges einheitliches (z.B. preußisches) Landesrecht noch anwendbar ist, für Fragen aus diesem Rechtsgebiet eine einheitliche letzte Instanz zu schaffen.6) Anderseits sollte den Bundesländern der Verzicht auf ein eigenes Verfassungsgericht ermöglicht werden.7) Jedoch wurde die Norm explizit nicht auf eine der unterschiedlichen Intentionen beschränkt.8)
Die Möglichkeit der Organleihe verletzt auch nicht das Prinzip der Bundesstaatlichkeit – das Grundgesetz schafft bei der rechtssprechenden Gewalt explizit „Verbindungswege“ für die sonst grundsätzlich getrennten und eigenständigen Verfassungsräume des Bundes und der Länder. So gibt es im Gegensatz zu den USA nicht nebeneinanderstehende Instanzenzüge von Landes- und Bundesgerichten, sondern Bundesgerichte bilden regelmäßig die letzte Instanz. Entscheidungen eines Landesverfassungsgerichts können Gegenstand einer Bundesverfassungsbeschwerde sein und das Bundesverfassungsgericht kann gem. Art. 98 V S.3 GG über landesinterne Streitigkeiten in Form der Richteranklage entscheiden, sofern dieses Instrument gem. Art 98 V S. 1 GG iVm II im jeweiligen Landesrecht besteht.9) Darüber hinaus geht die Kompetenzverlagerung gem. Art 99 GG von den Ländern aus. Dadurch untergräbt sie eine Landesverfassungsgerichtsbarkeit nicht, sondern soll sie gewährleisten, indem sie ihren Ausfall auffängt.
Die Grundlage dafür kann der Landesgesetzgeber nicht nur durch Landesverfassungsrecht, sondern auch durch ein formelles Landesgesetz schaffen.10) Gerade deshalb sollte der Thüringer Landtag die jetzt noch vorhandenen demokratischen Mehrheitverhältnisse dazu nutzen, eine solche Verfassungsänderung – oder aber zumindest ein einfaches Gesetz – zur Organleihe auf den Weg zu bringen und damit einen wichtigen rechtsstaatlichen Resilienzmechanismus zu schaffen.
Um den Sorgen einer unnötigen Kompetenzverlagerung weiter entgegenzuwirken, könnte der Gesetzesentwurf auch Sicherheitsklauseln festlegen; etwa die Organleihe erst aktivieren, wenn das Gericht nicht mehr beschlussfähig ist oder es selbst präventiv mit einer qualifizierten Mehrheit die Kompetenzabgabe beschließt.
Organleihe über den Weg des Bundeszwangs?
Doch was ist, wenn die Akteure vor den Landtagswahlen im September nicht mehr rechtzeitig eine Regelung schaffen: Gehen dann die landesverfassungsgerichtlichen Lichter aus?
Sollte ein Bundesland seine Verpflichtungen gegenüber dem Bundesstaat verletzen, sieht das Grundgesetz Schutzmechanismen vor, als schärfstes Schwert den Bundeszwang in Art. 37 GG. Dessen Anwendung, um die Organleihe des Bundesverfassungsgerichtes anzuordnen, wäre ein verfassungsrechtliches Novum und ein bislang nicht einmal diskutierter Ansatz. Die Bundesrepublik stand jedoch auch noch nie vor derartig gravierenden Herausforderungen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es könnte daher geboten sein, den „Knüppel aus dem Sack“11) zu lassen – wenn auch als ultima ratio.
Der Bundeszwang sieht vor, dass die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die „notwendigen Maßnahmen treffen” kann, um sicherzustellen, dass das Land seine Bundespflichten gem. Art 28 I GG erfüllt. Dazu gehört eine funktionsfähige Landesverfassungsgerichtsbarkeit.
Auch in Landesverfassungen werden elementar wichtige Regelungen getroffen: unter anderem das Wahlrecht, die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und die Wahl der Ministerpräsident*innen.12) Eine Landesverfassungsordnung – mit für die Demokratie unverzichtbaren Regelungsgehalt – bedarf daher einer funktionsfähigen Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht zieht eine Pflicht zur Einrichtung einer Landesverfassungsgerichtsbarkeit auch aus der Vorlagepflicht bei vermuteten Verstößen gegen Landesverfassungsrecht (vgl. Art. 100 I GG; BVerfGE 96, 345 Rn. 79). Dass eine solche Gerichtsbarkeit – nicht nur vorübergehend – nicht handlungunsfähig ist, dürfte wohl Teil dieser Pflicht sein.
Möglich wäre, dass die Bundesregierung einen Rechtsakt erlässt, der – zumindest temporär – die Organleihe (Art. 99 GG) anordnet. Gegen den Erlass oder die Änderung eines Landesverfassungsgesetzes wird das Argument der Verfassungsautonomie der Länder in Stellung gebracht (Art. 28 I GG).13) Die Länder sollen ihre eigene verfassungsmäßige Ordnung gestalten dürfen. Doch gerade diese Ordnung würde de facto außer Kraft gesetzt, wenn es keine funktionierende Gerichtsbarkeit mehr gäbe, um sie durchzusetzen. Würde keine funktionale Verfassungsgerichtsbarkeit bestehen, könnte es dazu kommen, dass der Bund zahlreiche Aufgaben des Bundeslandes im Wege der Ersatzvornahme wahrnehmen müsste – bis hin zur Besetzung einer Landesregierung. Indem der Bund hier eingreift und eine Gerichtsbarkeit einsetzt, die weiterhin an die Landesverfassung gebunden ist, bewahrt er die verfassungsmäßige Ordnung des Landes mit einem viel weniger intensiven Eingriff in die Verfassungsautonomie. Ein Bundeszwang, der ge