Status, Verantwortung und Gemeinschaft nach 9/11
Die Terrorakte vom 11. September 2001 und ihre Folgeerscheinungen trafen westliche Gesellschaften in einer Zeit anhaltender und – ungeachtet Diskrepanzen zwischen subjektiver Wahrnehmung und globaler Verteilung (IOM, OECD) – sichtbarer Migration, die in einem immer angeschlagenerem gemeinsamen Asylsystem stattfand (und -findet). In den seither vergangenen Jahren kündigten wechselnde Gruppen erst in körnigen Kameraaufnahmen, dann professionell bearbeiteten Social Media-Beiträgen an, terroristische Kämpfe in offene Gesellschaften zu tragen und riefen „einsame Wölfe“ unmittelbar zum Handeln auf (zum IS etwa S. 22 f.). Das Ziel der subkutanen Präsenz, das tägliche Leben in freien Gesellschaften unsicher zu machen und das Freiheitsgefühl einzuschränken, fand in boulevardesken Überzeichnungen auf manche Tat begriffliche Vollzugshilfe für dieses gesellschaftliche Spaltungsprogramm. Auch wenn Recht gesellschaftliche Prozesse verzögert verarbeitet und dadurch manches herausfiltern kann, hat der Debattenton über Migration und Statusrechte eine eigene Bedeutung, weil in ihm auch gesellschaftlicher Zusammenhalt verhandelt wird. Aus der Perspektive öffentlicher Sicherheit aber, der Politik verfassungsrechtlich verpflichtet ist, können solche Ankündigungen nur von Personen erfüllt werden, die sich entweder schon im Land aufhalten oder hierzu einreisen. Es gibt mit anderen Worten jenseits von Cyberterrorismus keine Möglichkeit, einen terroristischen Akt auszuführen, ohne einen rechtlichen Status (Duldung, Schutzstatus, Aufenthaltsstatus, Staatsangehörigkeit, Unionsbürgerschaft) innezuhaben.
Eine „Versicherheitlichung“ der Debatte kündigt sich damit fast systemisch an. Sie ist in demokratischen Staaten auch eine binnenrationale Handlung des politischen Systems, der sich – freilich in sehr unterschiedlichen Nuancen – kaum eine Partei entziehen kann. Migrations- und Staatsangehörigkeitsrecht sind politisch gestaltbare Materien, wie alle anderen. Alle terroristischen Bedrohungen berühren die staatliche Schutzpflicht für das Leben, möglicherweise staatliche Infrastruktur und das Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum. Gerade eine Verbindung zu Migration aufzugreifen kann im Gegensatz zum schon heimischen rechten und linken Binnenextremismus die schnelle Reduktion externer Gefahren im politischen Wettbewerb versprechen. Sicher verwerfen die Meisten eine Gleichsetzung von Migration und Terrorismus als politisch (und rechtlich, Rn. 2 ff.) zurückgeblieben. Das Bild einer Unterwanderung von Migration durch Terrorismus aber wirkt. Es geht dann nicht mehr darum, ob eine Sicherheitsdebatte über Migration und Statusrechte läuft, sondern in welche Richtung sie läuft.
Das europäische Asylsystem scheitert zwar an unversöhnlichen Grundvorstellungen der Mitgliedstaaten, schafft aber trotzdem eine weitere Flanke, weil es innerstaatlich, etwa im Wahlkampf, als externes Problem markiert werden kann. Nur so lässt sich Michel Barniers Vorschlag im laufenden französischen Präsidentschaftswahlkampf erklären, ein ‘constitutional shield’ gegen migrationspolitische Entscheidungen von EuGH und EGMR zu errichten – auch wenn nicht alle Migranten „major terrorists or delinquents“ seien (betone: major; Brexit-Sarkasmus: ‘Stop immigration, curb the European court but don’t call me a Frexiteer’). Seine Erwiderung auf die (kalkulierte) Empörung unterstreicht das Problem: „To avoid any unnecessary controversy and as I have always said very precisely, my proposal for a ‘constitutional shield’ will only apply to migration policy.“ (Hervorhebung von mir; frz. Orig.). Interessant ist nicht, ob solche Ideen in den Élysée-Palast tragen (das werden wir sehen), sondern dass die Begrenzung der Aussage auf das Migrationsrecht als unkontrovers erscheint. Warum müssen sich Präsidentschaftskandidaten für den Fall ihrer Wahl mit verfassungsrechtlichen Schutzschildern gegen Entscheidungen der migration policy wehren? Gestalten sie die als gewählte Repräsentanten nicht maßgeblich mit? Barnier steht in Frankreich nicht für einen Ausreißer, sondern zeigt nur, wie sich das übergreifende Klima im schlechtesten Fall verändern kann.
Ich möchte im Folgenden einen Blick auf die Entwicklung der Statusrechte in Deutschland nach 9/11 richten. Das kann nur über ausgesuchte ›Schlaglichter‹ geschehen, die Licht und Schatten zeigen werden. Der Schwerpunkt wird auf dem Staatsangehörigkeitsrecht liegen. Im Gegensatz zu weiten Teilen des Aufenthalts- und Flüchtlingsrechts ist es ein maßgeblich vom deutschen Recht bestimmter Status und konzentriert den Blick so genauer auf die Entwicklungen in einer Gesellschaft. Mein Ergebnis wird vor allem auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung hinauslaufen, die wir uns als rechtswissenschaftlich, rechtspolitisch und moralisch gleichzeitig denkende Wesen beim Kritisieren und Begründen erhalten sollten: Ein sicherheitspolitisches ›Framing‹ von Statusrechten bleibt eine Zuschreibung durch soziale Akteure, die sich hiervon aus unterschiedlichen Gründen etwas versprechen. Vielschichtige Entwicklungen mit einem generalisierenden Narrativ zu versehen, setzt durch Zuspitzung viel kritisches Potenzial frei, bleibt aber unvermeidbar selektiv. Auswirkungen von 9/11 sind fraglos auszumachen, von einer „Versicherheitlichung“ oder Instrumentalisierung der Statusrechte kann aber keine Rede sein. Ihre Gestaltung steht in der Bundesrepublik nicht zur Disposition demokratischer Mehrheiten, um auf dem Rücken Einzelner Wehrhaftigkeit zur Schau zu stellen. Sie ist in einen funktionierenden Grund- und Menschenrechtsrahmen eingebunden, in dem die letzten zwanzig Jahre gleichermaßen grundlegende Öffnungen wie restriktive Regelungen erfolgten. Letztere gehören nur ebenso zum legitimen Gestaltungsspektrum eines demokratischen Rechtsstaats, der Statuserwerb und -verlust an eigenverantwortliche Handlungen der Einzelnen anknüpft.
Ambivalenzen: Verdächtige Praxis, gesetzliche Öffnung und die Rolle des Rechts für die Ausbildung personaler Autonomie
Die unmittelbaren Reaktionen auf 9/11 werden im Januar 2002 schnell im Terrorismusbekämpfungsgesetz sichtbar. Sie betreffen aber vor allem die Ausdehnung geheimdienstlicher Befugnisse und verfahrens- sowie datenschutzrechtlicher Änderungen, auch im Ausländerrecht. Ein früher, meines Erachtens statusrechtlicher Tiefpunkt findet sich unterhalb der gesetzlichen Ebene, an der Schnittstelle zwischen politischer Steuerung und Verwaltungspraxis. Zwischen 2005 und 2008 wurden etwa in der baden-württembergischen Verwaltungspraxis bei muslimischen Einbürgerungsbewerbern „generell“ Zweifel am Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung – auf der Grundlage einer Umfrage – angemeldet (S. 121 ff.). Im genannten Zeitraum waren die Länder zudem selbst für die Erstellung von Fragen für die Einbürgerungstests zuständig. Hier wurde zwar neutral formuliert. Dennoch haben es Testfragen aus Baden-Württemberg und Hessen zu globaler Bekanntheit gebracht, etwa im Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law (Shachar, S. 1014). Die Angesprochenen waren überdeutlich erkennbar, wie Proben aus dem baden-württembergischen Test von 2005 („Imagine that your adult son comes to you and declares that he is a homosexual and would like to live with another man. How would you react?“) und dem hessischen des Jahres 2006 („A women should not be allowed to move freely in public or travel unless escorted by a close male relative. What is your standpoint on this?“) zeigen. Der Rahmen kognitiver Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung wurde ins Moralische verlassen, mit Maßstäben, die auch zum Verlust einiger ›Autochtoner‹ führen würde (weitere Beispiele: S. 2136 ff.). Die bis 2001 stattfindende muslimische Zuwanderung hatte solche Überlegungen offenbar nicht ausgelöst. Die Testfragen wurden bald Sache des Bundes, sind nun ausschließlich kognitiv-normativ ausgerichtet und weisen in der Regel eine Bestehensquote von 97% aufwärts auf (Übersicht zum ersten Jahr auf Grundlage des vom Bund gestalteten Tests: S. 53 f.).
In die Jahre nach 9/11 fallen auch Entwicklungen, die auf ältere Umstände zurückzuführen sind. Die Einführung des ius soli in § 4 Abs. 3 StAG galt vor und gilt nach der weitgehenden Lockerung der Optionspflicht (§ 29 Abs. 1a StAG) umso mehr als eine auch im Rechtsvergleich weitreichende und großzügige Regelung.1) Mit den Erfordernissen von Sprachkenntnissen und später Anforderungen an Rechts- und Gesellschaftskenntnisse im Einbürgerungsrecht reagierte der Gesetzgeber auf die Erkenntnis, dass sich unter den seit 1990/93 im AuslG enthaltenen (Regel)Einbürgerungsnormen eine ausreichende Integration durch bloßen Aufenthalt gegen die Erwartungen nicht einstellte (etwa S. 18 f. hier zu § 86 AuslG). Wenn es der Gesetzesbegründung um die Verbesserung von Integrationsvorgängen, auch durch das berühmte „Fordern und Fördern“ geht, ist das als Anliegen ernstzunehmen. Pauschalabwertungen demokratischer Aushandlungs- und Gesetzgebungsprozesse entfalten deshalb wie Positionen, die sich über sehr hohe Zugangshürden funktionale Gefahrenabwehrinstrumente herbeisehnen, keine ernsthafte Wirkung. Im Grunde löste die Abkehr vom ›kein Einwanderungsland‹-Paradigma die Erkenntnis aus, dass eine diverse Zuwanderung in eine offene Gesellschaft institutionelle und rechtliche Begleitung braucht. Die Gesetzesstruktur muss abstrakt verfahren und von Eritrea über Singapur bis zum Vereinigten Königreich (besonders nach dem Brexit) Personen aus aller Welt mit ihren unterschiedlichen Hintergründen adressieren. Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes hat der Gesetzgeber sich erst vor Kurzem, neben der im Verfahren zentralen NS-Wiedergutmachung auf Gesetzesebene, für weitere Einbürgerungserleichterungen genereller Natur entschieden (Art. 1 Nr. 5a und 6 lit. c und e Änderungsgesetz). Makroerzählungen wie De- und Renationalisierungsphasen ›of citizenship‹ (S. 859 aE f.), unter denen Öffnungs- und Schließungsphasen von Statusrechten verschiedener Staaten im Sinne gleichförmiger Entwicklungsbewegungen zusammenfassend beschrieben werden, erschienen mir stets als zu unscharf und müssen mit der Unterlegung von Ereignissen wie 9/11 differierende Umstände und komplexe Hintergründe in den verschiedenen und verschieden von Migration betroffenen Gesellschaften vernachlässigen.
Zugangsgrenzen und Statusverlust angesichts von Terror und Extremismus
Wenn der Gesetzgeber Verlust- und Ausschlussregelungen einführt, betritt er ein besonders sensibles Feld. Art. 16 Abs. 1 des Grundgesetzes schützt Staatsangehörige (nach überwiegender Auffassung absolut) gegen Entziehungen und schränkt zugleich Verlustmöglichkeiten ein. Hier ist nach 9/11 zunächst nichts geschehen. Dafür wurden die Ausweisungsmöglichkeiten erweitert (heute § 54 Nr. 2-5 AufenthG) und mit dem Zuwanderungsgesetz über die in § 58a AufenthG eingefügte Abschiebungsanordnung zur schnellen Beendigung des Aufenthalts von „Top-Gefährdern“, ohne Ausweisung und vorherige Abschiebungsandrohung, dogmatisch neue Gefilde betreten. Nicht nur die Linie zu 9/11 ist unmittelbar erkennbar, sondern auch bemerkenswert, dass die Norm wegen verschiedener verfassungsrechtlicher Zweifel bis ins Jahr 2017 praktisch bedeutungslos blieb,2) bis Anwendungsfälle Entscheidungen in Leipzig und Karlsruhe auslösten, die die Norm materiell für verfassungskonform erklärten (zum BVerfG Rn. 35 ff.). Aufenthaltsstatus haben insofern fraglos eine Zunahme von Sicherheitsaspekten erfahren. Und wenn etwa die Auswertung von Mobiltelefonen im Asylverfahren zur Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit, systematisch eine Ausnahmevorschrift (§ 15a Abs. 1 AsylG), praktisch zur Standardmaßnahme wird, verdichtet sich der Eindruck eines Security-Checks statt eines Verfahrens zur Prüfung individueller Schutzbedürftigkeit. Auf der anderen Seite kann aber das in der Norm zum Ausdruck kommende Interesse, zu erfahren für wen das Verfahren geführt wird (ob nun bewusst oder unverschuldet ohne Papiere gereist wird) nicht als illegitim gelten – schon um Kontrollverlust- und Unterwanderungsmythen von sich zu weisen. Das zentrale Problem ist auch hier, wie so oft im Migrations- und Staatsangehörigkeitsrecht, ob die Normanwendung verfassungswidrig ausfällt oder nicht.3)
Im Staatsangehörigkeitsrecht sind Verlust- und Ausschlusstatbestände, die mit Terrorismus und Extremismus in Zusammenhang stehen, erst spät anzutreffen. Es handelt sich nicht nur um Reaktionen auf Folgeereignisse von 9/11, sondern auch innergesellschaftliche Anlässe. Hierzu zählt etwa der Ende August 2021 in Kraft getretene Einbürgerungsausschluss bei Verurteilung zu einer rechtswidrigen antisemitischen, rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Tat in § 12a Abs. 1 S. 2 StAG. Im Hintergrund stehen seit Jahren ansteigende Fallzahlen und sichtbare antisemitische Demonstrationen und Übergriffe (S. 17 aE f.; S. 19). Insbesondere zum Antisemitismus bestehen Erfassungsprobleme seiner genauen gesellschaftlichen Verteilung (differenziert dazu etwa hier und ausführlich hier), um langfristige Lösungen über gesellschaftspolitische und bildungspolitische Maßnahmen genauer ansteuern zu können. So gering die Fallzahl auch sein mag, ist es daneben aber nicht ausgeschlossen, gegenüber eindeutig verurteilten Antisemiten, Rassisten und ähnlichen Tätern eine Zugangsgrenze zu ziehen. Gesetzgebung kommuniziert daneben auch symbolisch.
Dieser Gesichtspunkt überwiegt bislang auch die Einfügung der Verlustregel wegen einer konkreten Beteiligung an Kampfhandlungen terroristischer Vereinigungen nach § 28 Abs. 1 Nr. 2 StAG im August 2019. Das Auseinanderfallen von bisheriger praktischer Relevanz (null Anwendungsfälle) und der emotional geführten rechtspolitischen Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Norm, auch auf diesem Blog (nicht abschließend: Gärditz/Wallrabenstein, Thym), zeigt meines Erachtens etwas Positives: Der Streit um Grenzen der politischen Gemeinschaft hat einen gemeinsamen rechtlichen Ort, jenseits lebensweltlich relevanterer Gruppenzugehörigkeiten und Selbstverständnisse. Das ist im Vergleich nicht mehr selbstverständlich. Ich habe mehrfach dargelegt, dass ich die Norm für eine verfassungskonforme Regelung halte, weil sie diskriminierungsfrei an ein unstreitig schwerwiegendes und nach den bekannten, aber auch bewusst offen gehaltenen Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts zumutbar vermeidbares Verhalten anknüpft. Gegenüber den auch im Rechtsvergleich engen Voraussetzungen4) dringen grundrechtliche und unions- wie völkerrechtliche Einwendungen im Ergebnis nicht durch.