28 May 2024

Parteiverbotsverfahren zum Schutz vor Rassismus

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat am 13. Mai entschieden, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den Bundesverband der AfD und die Junge Alternative als Verdachtsfall sowie den sogenannten „Flügel“ als gesichert rechtsextrem beobachten und die Öffentlichkeit hierüber unterrichten darf. Laut der Süddeutschen Zeitung arbeitet das BfV zudem an einem Gutachten, in dem es die Hochstufung des Bundesverbandes prüft. Die Urteile sind ein Meilenstein in der aktuellen Debatte über den Umgang mit der AfD und wurden häufig als Vorbedingung für ein Parteiverbotsverfahren gesehen. Je stärker der Verdacht der Verfassungswidrigkeit der AfD sich erhärtet, desto drängender die Frage, ob ein Parteiverbotsverfahren angestrengt werden sollte.

Über die antirassistische Seite der Debatte liest man allerdings wenig (für ein Verbot hier und gegen hier). Dabei ist das Parteiverbotsverfahren im Kern antirassistisch und muss als Teil einer größeren antirassistischen Politik gedacht werden, die dem Schutz rassifizierter Menschen dient. Zum Schutz von Personen, die von Rassismus betroffen sind, scheint ein Verbotsverfahren bei entsprechender Beweislage damit mehr als geboten.

Das Parteiverbotsverfahren ist antirassistisch

Das Parteiverbotsverfahren ist ein ambivalentes Element in der Verfassungsarchitektur des Grundgesetzes. Wo die Demokratie den politischen Prozess frei gestaltet, schränkt sie ihn zum Schutz ihres eigenen Bestandes wieder ein. Die Demokratie des Grundgesetzes ist streitbar, wehrhaft. Nach Karl Loewenstein soll die militant democracy, wie er sie nannte, faschistischen Techniken der Machtübernahme und Zersetzung von Demokratien durch ihre inneren Feinde eine Antwort bieten, indem sie sich selbst autokratischer Elemente bedient.

Diese Ambivalenz der wehrhaften Elemente des Grundgesetzes zeigt sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Parteiverboten. Die Kriterien des Art. 21 Abs. 2 GG sind hochgradig unbestimmt und ihre Konkretisierung umstritten. Durch deren Konkretisierung wird zugleich austariert, wie die Demokratie sich wehren können soll, ohne ihre eigene Identität zu verlieren.1) Dieser Streit wird auch über die Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) ausgetragen. Im SRP- und KPD-Urteildefiniert das BVerfG diese regelbeispielhaft durch Aufzählung materialer Verfassungsgehalte. Dazu zählten „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“ (BVerfGE 2, 1, (12 f.)) Diese Definition wurde vielerorts für ihre „Theoriearmut“ kritisiert. Die fdGO blieb konturenlos und die Grenzen des Parteiverbots unscharf.

In dem zweiten NPD-Urteil 2017 lag eine Zäsur. Das BVerfG konturierte mit seinem Urteil die fdGO viel klarer. Statt einer Aufzählung von Regelbeispielen, die „mindestens“ zur fdGO gehören sollen, wird ihr Menschenwürdebezug stärker ins Zentrum gestellt. Dieser enge Menschenwürdebezug und die Grundannahme, dass der Staat um des Menschen Willen da sei, begründen das Demokratie- sowie das Rechtsstaatsprinzip als weitere Elemente der fdGO. Darin drücke sich die verfassungspolitische Entscheidung des Grundgesetzes für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen als Grundwerte der staatlichen Einheit aus (BVerfGE 144, 20 (Rn. 530)). Das BVerfG betont in Bezug auf die Menschenwürde insbesondere den Zusammenhang mit den Diskriminierungsverboten nach Art. 3 Abs. 3 GG. „Antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar und verstoßen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“ (BVerfGE 144, 20 (Rn. 541)).

Das BVerfG unterstreicht mit dem klaren Bezug auf die Menschenwürdewidrigkeit von Rassismus und Antisemitismus die Verfassungsfeindlichkeit jeglicher rassistischer und antisemitischer Handlungen. Damit verdeutlicht das Gericht einmal mehr die antifaschistische Ausrichtung des Grundgesetzes, das als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus gilt (BVerfGE 124, 300 (Ls. 1)). Dass auf dieser Grundlage Parteien verboten werden können, macht ein Parteiverbotsverfahren im Kern zu einer antirassistischen Maßnahme. Die Anträge stehen allerdings im Ermessen der Antragsberechtigten, also nach § 43 Abs. 1 BVerfGG des Bundestags, Bundesrats und der Bundesregierung. Darüber, ob ein Parteiverbotsverfahren angestrengt werden sollte, ist also noch wenig gesagt.

Die Bundesregierung ist am Zug

Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung können gem. § 43 Abs. 1 BVerfGG einen Antrag auf Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei stellen. Das BVerfG spricht bezüglich der Antragsstellung mal von politischem Ermessen (BVerfGE 5, 85 (Ls. 2)), mal von pflichtgemäßem Ermessen (BVerfGE 5, 85 (113)). Ob dieses Ermessen auch auf Null reduziert sein und damit eine Antragspflicht begründen kann, ist umstritten (für eine Pflicht bspw. Fischer-Lescano und Hong). Selbst wenn man jedoch das Ermessen als rechtlich unbegrenzt betrachtet, muss die Entscheidung informiert getroffen werden. Auch hier spielen antirassistische Erwägungen eine große Rolle.

Der Einwand vieler Gegner*innen eines Parteiverbotsverfahrens lautet, dass zum jetzigen Zeitpunkt die Erfolgsaussichten nicht hoch genug seien. Ein scheiterndes Verfahren würde der AfD sogar Kanonenfutter bieten. Sie könnte sich als Märtyrerin oder gar durch das BVerfG bestätigt verfassungsfreundlich darstellen. Die AfD geriert sich aber ohnehin stetig als Opfer von Hetzkampagnen gegen sie – auch mit Verbotsverfahren. Funktionäre der AfD verfallen in Bezug auf die Urteile aus Münster gar Verschwörungsmythen und zweifeln an der Unabhängigkeit des Gerichts. Entscheidend sollten daher die unzähligen Anhaltspunkte für ihre Verfassungsfeindlichkeit sein, die selbst ihre Wahlprogramme bieten, die aber auch das OVG Münster in seinen Urteilen herausgearbeitet hat. Auch die beständigen Loyalitätsbekundungen zum Grundgesetz (bspw. hier) reichen nicht aus, um die Zweifel zu widerlegen. Vielmehr lohnt sich, wie das BVerfG im SRP-Urteil nahelegt, ein näherer Blick: „Hitler gab vor 1933 mehrfach Loyalitätserklärungen ab und leistete, als Hindenburg ihn 1933 zum Reichskanzler ernannte, sogar den Eid auf die Weimarer Verfassung; und das Programm der NSDAP war so vieldeutig formuliert, daß es die wirklichen Ziele der Partei schwer erkennen ließ. Werden aber, wie Hitlers Beispiel zeigt, offizielle Erklärungen der Führenden einer verfassungswidrigen Partei zur Verschleierung benützt und wird das Parteiprogramm bewußt “vorsichtig” gehalten, so sind der Wortlaut des Programms und Loyalitätserklärungen – auf welche die SRP sich zum Gegenbeweis beruft – ohne Beweiswert für die wahren Ziele der Partei.“ (BVerfGE 2, 1 (20)).

Dieser Blick erfordert jedoch Ressourcen. Der rassistische Ton der Programme der AfD, Aussagen von Mitgliedern der AfD sowie durch die Zivilgesellschaft offengelegte Chat-Gruppen und Beweissammlungen legen nahe, dass es weitere Beweise gibt, die für die Verfassungsfeindlichkeit der AfD sprechen. Die Bundesregierung hat die notwendigen Mittel dafür, diese offenzulegen. Dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat untersteht nach § 2 Abs. 1 S. 2 BVerfSchG das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG die Aufgabe hat, Informationen über Bestrebungen, die gegen die fdGO gerichtet sind, zu sammeln und auszuwerten. Wegen der Entschlackung der Definition der fdGO gem. Art. 21 Abs. 2 GG im zweiten NPD-Urteil unterscheidet der Begriff sich zwar von der Legaldefinition des § 4 Abs. 2 BVerfSchG (zur verfassungsrechtlichen Aufklärung des Begriffs s. Wihl). Es gibt dennoch Überschneidungen. Damit kann die Beobachtung der AfD zur Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens beitragen. Auf Grundlage der gesammelten Informationen kann eine genauere Prognose abgegeben werden, ob ein Antrag Aussicht auf Erfolg hat. Die Bundesregierung ist damit am Zug.

Verbotsantrag ist zum Schutz rassifizierter Personen geboten

Wenn die Erfolgsaussichten des Verfahrens sich weiter verdichten, ist zum Schutz von Personen, die von Rassismus betroffen sind, ein Antrag mehr als geboten. Rechte Parteien sind eine unmittelbare Gefahr, gerade für rassifizierte Personen. Damit gilt dies auch für die AfD. Diese Gefahr erkennt das BVerfG an, wenn es in Bezug auf die Menschenwürde das Verbot von Rassismus und Antisemitismus gesondert hervorhebt. Die Gewaltfantasien von AfD-Mitgliedern sind überwiegend rassistisch (auch wenn sie sich gegen alle möglichen Gruppen richten, z.B. Linke, Feminist*innen, Umweltaktivist*innen, das politische Establishment etc.). Sie grenzt sich in ihren Programmen und in der Öffentlichkeit fortwährend von anderen Kulturen, der Ideologie des Multikulturalismus und dem Islam ab.

Eine Sorge, die Forderungen nach einem Verbotsverfahren gegen die AfD allerdings begleitet, ist, dass sich die sog. Mitte dadurch ihrer eigenen Verantwortung entledigt und Rassismus einzig am sog. rechten Rand verortet (dazu Barskanmaz hier). Folgert man daraus, dass ein AfD-Verbotsverfahren nicht antirassistisch geboten sei, geht diese Argumentation jedoch fehl. Die AfD bleibt mit oder ohne Verbotsverfahren Bezugsgröße für anti-/rassistische Politik, seit den Correctiv-Enthüllungen mehr als zuvor (auch wenn viele Betroffene die Überraschung darüber nicht nachvollziehen können). Die sog. Mitte zieht eine Brandmauer gegen Rechts, gleichzeitig nähert sich ihre Politik immer weiter dem Programm der Neuen Rechten an. Dazu gehört, dass die Ampel-Regierung dem langersehnten Traum („endlich“) der Abschiebungen im großen Stil nachgehen kann. Parallel dazu stärkt die GEAS-Reform unter Aufgabe rechtsstaatlicher Asylverfahren die “Festung Europa“ weiter. Die sog. Mitte ist es auch, die rassistische Debatten um Clan-Kriminalität führt, die die Herkunft von Straftäter*innen jedes Silvester aufs Neue zur Diskussion stellen, die pauschal palästina-solidarischen Aktivismus diffamiert oder rassistische Anschläge nicht hinreichend aufklärt. Studienergebnisse wie „Jugend in Deutschland“, nach der die AfD bei 14- bis 29-Jährigen stärkste Partei wäre, dürften weiter zu dem Trend beitragen, dass die sog. Mitte versucht, Wähler*innen durch rechte Politik zu gewinnen. Dringende politische Probleme anzugehen, wie bspw. Wohnungsnot, (Alters-)Armut, die Klimakrise und Bildung, verpassen die Parteien dadurch. Wenn eine verfassungsfeindliche Partei aber verboten wird, fällt sie als direkte Opposition weg. Dem Schutz von rassifizierten Personen scheint es also zumindest zuträglich, wenn die Politik der etablierten Parteien nicht mehr Reaktion auf die Politik einer verfassungsfeindlichen Partei ist, in deren Wähler*innenschaft sie nach Stimmen buhlt.

Die Demokratie schützen

Die Verfassungsfeindlichkeit der AfD i.S.d. Art. 21 Abs. 2 GG muss zum Schutz rassifizierter Personen von der Bundesregierung überprüft werden. Sie muss anhand der gesammelten Informationen die Erfolgsaussichten eines Verbotsantrags bewerten. Verdichtet sich der Verdacht weiter, darf zum Schutz von Personen, die von Rassismus betroffen sind, nicht weiter mit einem Verbotsantrag gewartet werden. Welche Schäden autoritär-populistische Parteien der bundesrepublikanischen Demokratie zufügen können, zeigen die Ergebnisse des Thüringen-Projekts auf diesem Blog eindrücklich. Die Erfahrung anderer Staaten verdeutlicht die Gefahr. Dass sich die sog. Mitte mit Rassismus auseinandersetzen und mehr für den Schutz rassifizierter Personen tun muss, sowie diese endlich als gleichwertige Mitglieder der politischen Gemeinschaft anerkennen und nicht als „Andere“ zeichnen darf, bleibt unbestritten. Deshalb nicht auf ernstzunehmende autoritäre Bedrohungen zu reagieren, wäre töricht. Nie wieder, ist und war schon immer jetzt.

References

References
1 Tobias Linke, Verbotsunwürdige Verfassungsfeinde: Anmerkungen zum zweiten NPD-Urteil, in: DÖV 2017, 483, 484.

SUGGESTED CITATION  Kaya, Berkan: Parteiverbotsverfahren zum Schutz vor Rassismus, VerfBlog, 2024/5/28, https://verfassungsblog.de/parteiverbotsverfahren-zum-schutz-vor-rassismus/, DOI: 10.59704/ef6c57774fd40f97.

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