PSPP mit „PEPP“
Der währungspolitische Kontrollmaßstab des BVerfG als „Ultra-vires-Akt“?
Das Urteil des Zweiten Senats zum Staatsanleihekaufprogramm der EZB (Public Sector Purchase Programme – PSPP) bildet eine Zäsur, deren Auswirkungen weit über den eigentlichen Verfahrensgegenstand hinausreichen. Darin hat das BVerfG dem EuGH erstmals explizit die Gefolgschaft verweigert: Das PSPP überschreite die Grenzen des geldpolitischen Mandats der EZB und sei deshalb als Ultra-vires-Maßnahme zu qualifizieren. Das anderslautende Urteil des EuGH vom 11. Dezember 2018 stehe dem nicht entgegen: Die vom Gerichtshof vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung sei vielmehr „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und insoweit [ebenfalls] ultra vires ergangen“ (Rn. 116). Dem kann so nicht gefolgt werden. Das BVerfG verkennt einerseits das weite Ermessen der EZB und andererseits die sich daraus zwingend ergebende geringere gerichtliche Kontrolldichte. Selbst wenn man mit dem BVerfG davon ausgeht, dass die EZB uneingeschränkt an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden ist, bleiben die Abwägungskriterien – wenig überraschend – weitgehend im Ungefähren.
Hintergrund des Verfahrens
Das PSPP ist Teil des Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), eines Rahmenprogramms des Eurosystems zum Ankauf von Vermögenswerten. Mit dem PSPP, das am 4. März 2015 beschlossen wurde, werden – unter im Einzelnen in den Beschlüssen der EZB festgelegten Rahmenbedingungen (dazu näher: Gentzsch, EuR 2019, 279, 282 f.) – Staatsanleihen und ähnliche marktfähige Schuldtitel erworben, die von der Zentralregierung eines Euro-Mitgliedstaats, „anerkannten Organen“, internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im Euro-Währungsgebiet begeben werden. Das PSPP soll bewirken, dass Unternehmen und private Haushalte günstiger Finanzmittel aufnehmen können. Dies befördere, so die Zielrichtung, Investitionen und Konsum. Angestrebt wird mit dem PSPP ein mittelfristiger Anstieg des harmonisierten Verbraucherpreisindex‘ (Inflationsrate) unter, aber nahe an 2 % pro Jahr, den sich die EZB als Zielvorgabe für die Preisstabilität gesetzt hat.
Reduzierte gerichtliche Kontrolldichte und Ultra-vires-Verstoß?
Die Gewährleistung der Preisstabilität ist das vorrangige Ziel der EZB, dem andere Ziele stets nachzuordnen sind (Art. 127 Abs. 1 S. 1, 2 AEUV). Mit Blick darauf agiert die EZB als Unionsorgan unabhängig (Art. 130 S. 1, 282 Abs. 3 S. 3 AEUV), was vom BVerfG in seinem Urteil zur Bankenunion nochmals gebilligt worden ist (Rn. 134 m.w.N.). Ihre Unabhängigkeit entbindet sie zwar nicht von der Einhaltung rechtlicher Grenzen, die von den (europäischen) Gerichten kontrolliert werden können. Dennoch erscheint die Annahme einer besonders strengen gerichtlichen Kontrolle, wie sie das BVerfG im aktuellen Urteil vornimmt (dort Rn. 140 ff.), verfehlt. Die funktionale Unabhängigkeit der Zentralbank im Rahmen der Währungspolitik ist dem Umstand geschuldet, dass geldpolitische Entscheidungen ein hohes Maß an spezifisch ökonomischem Sachverstand voraussetzen, der in individuelle Abwägungsentscheidungen einfließt. Die Komplexität der anzustellenden Bewertungen und die Abhängigkeit von ex ante zu treffenden Wahrscheinlichkeitsurteilen erschweren die nachträgliche Beurteilung dahingehend, dass eine Neubewertung keine Richtigkeitsgewähr erzeugt, sondern regelmäßig nur eine andere vertretbare Entscheidung hervorbringt (vgl. Thiele, ZBB 2015, 295, 298).Zwar wird die demokratische Legitimation der EZB durch ihr unabhängiges und nicht weisungsgebundenes Handeln gemindert. Als Kompensation dieses Legitimationsdefizits fungiert dabei indes die gerichtliche Kontrolle, die so weit wie möglich, nicht aber zwangsläufig „in vollem Umfang“ erfolgen muss (so aber Rn. 143). Das liegt daran, dass die Gerichte – hier der EuGH und das BVerfG – in personeller wie fachlicher Hinsicht gerade nicht über die „Analysekapazität“ der EZB verfügen und damit an die Grenzen ihrer funktionalen Leistungsfähigkeit gerieten. Etwas anderes ergibt sich, entgegen der Auffassung des BVerfG, auch nicht aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes oder den Grundrechten. Denn selbst wenn man annimmt, dass die Eigentumsgarantie (Art. 17 Abs. 1 GrCh, Art. 14 GG) die Preiswertstabilität mit umfasst, kommen im Hinblick auf die komplexen geldpolitischen Abwägungen allenfalls evident preisstabilitätsgefährdende Maßnahmen als Eingriffe in Betracht (näher, auch zum Standpunkt des BVerfG: Gentzsch/Brade, EuR 2019, 602, 613 ff.). Soweit das BVerfG schließlich auf die abweichende „methodische Vorgehensweise des Gerichtshofs in nahezu allen anderen Bereichen des Unionsrechts“ abstellt (Rn. 146 ff.), wird nicht recht deutlich, was daraus folgen soll. Denn die Unabhängigkeit der EZB rechtfertigt nach dem Gesagten gerade eine andere Behandlung ihrer – hier interessierenden – Währungspolitik mitsamt ihren mannigfaltigen wirtschaftspolitischen Implikationen.
Daher erscheint auch die Annahme des BVerfG verfehlt, der EuGH habe ultra vires gehandelt. Dass die Ultra-vires-Kontrolle zurückhaltend und europafreundlich auszuüben sei (Rn. 112), bleibt dabei ein leeres Versprechen. Denn, so betonte der Vorsitzende des Zweiten Senats bei der Verkündung des Urteils, die verfassungsgerichtlichen Kontrollinstrumente der Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle „verlören ihren Sinn, wenn sie niemals Erfolg haben dürften“. Ihre Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Das BVerfG muss eine Entscheidung durch den EuGH „vielmehr auch dann respektieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint“ (so der Grundsatz aus dem OMT-Urteil, Rn. 161). Für Willkür fehlt indes jeder Anhaltspunkt. Insbesondere hat auch der EuGH die Bindung der Währungspolitik der EZB an den für das BVerfG so zentralen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) im Vorabentscheidungsverfahren hervorgehoben und das PSPP daran – wenn auch in zurückgenommenem Umfang – gemessen (s. dort Rn. 71 ff.).
Die damit verbundene Reduktion gerichtlicher Kontrolle missachtet, anders als das BVerfG im aktuellen Urteil meint (Rn. 123 ff.), nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern verortet ihn im Gegenteil sinnvoll im Gefüge der europäischen Verträge, die eben auch die Unabhängigkeit der EZB und das Primat der Preisstabilität normieren. Es ist im Übrigen nicht Aufgabe des BVerfG, bei Auslegungsfragen im Unionsrecht, hier die Strukturierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betreffend, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des EuGH zu setzen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in vielen Rechtsordnungen anerkannt ist, ohne dass über seine Dogmatik Einigkeit bestünde (vgl. Rn. 124 ff. m.w.N.)
Hilfsweise: Subsumtion
Lässt man sich dennoch auf die Argumentation des BVerfG ein, sind die vom Zweiten Senat gegenüber der EZB aufgestellten Begründungsanforderungen alles andere als niedrigschwellig und zudem kaum operationalisierbar. Als Knackpunkt erweist sich – wie bereits erwähnt – weniger die Vereinbarkeit des PSPP mit Art. 123 Abs. 1 AEUV, sondern vielmehr die Verhältnismäßigkeit, die vom BVerfG für die Abgrenzung von Wirtschafts- und Währungspolitik herangezogen wird (Rn. 127). Die Kritik des BVerfG entzündet sich vor allem daran, dass die erforderliche Abwägung des währungspolitischen Ziels mit den mit dem eingesetzten Mittel verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen nicht stattfinde oder zumindest nicht ersichtlich sei (Rn. 167). Beispielhaft werden etwa die Auswirkungen auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen, die Bilanzstrukturen im Bankensektor, das Risiko von Immobilien- und Aktienblasen sowie ökonomische und soziale Auswirkungen genannt. Der Ton ist hierbei ein Stück weit lehrmeisterlich, wenngleich das BVerfG unterstreicht, dass es über eine Gewichtung der Belange nicht zu entscheiden habe und sich vielmehr damit zufriedengebe, dass sie nicht vollständig außer Acht gelassen werden (Rn. 173). Für die Zukunft, insbesondere für die vom BVerfG verlangte Nachbesserung des PSPP, liegt der Fokus auf der nach Art. 296 Abs. 2 AEUV erforderlichen Begründungspflicht. In materieller Hinsicht muss wiederum geklärt werden, wie das auf praktische Konkordanz ausgerichtete Verhältnismäßigkeitsprinzip mit dem einer klaren Abstufung von Zielvorgaben entspringenden Stabilitätsprimat (Art. 127 Abs. 1 S. 1, 2 AEUV) in Einklang gebracht werden kann. Bedenken ergeben sich daraus, dass gerade das Mandat der EZB, das klar messbare Ergebnisse ermöglichen soll, ihre Unabhängigkeit rechtfertigt und demokratisch absichert.
Auch dem EuGH wirft das BVerfG im Hinblick auf die Einordnung von Maßnahmen zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik vor, die wirtschaftspolitischen Folgen weitgehend ausgeblendet zu haben. Auch wenn es dem vom EuGH entwickelten Abgrenzungsmaßstab basierend auf der Zielsetzung und der gewählten Mittel (Rn. 54 ff., 68 f.) grundsätzlich folgt, dringt es bei der Untersuchung der geldpolitischen Zielsetzung auf eine weiterreichende Prüfung (Rn. 137). Zwar könnte man bemängeln, dass der EuGH die Ausführungen der EZB im Wesentlichen übernimmt und nicht überprüft, ob sich diese Zwecksetzung auf objektivierbare Kriterien stützt (vgl. Sander, JZ 2018, 525, 530 ff.). Jedoch birgt eine rechtliche Ermittlung und Bewertung solcher Merkmale – auch unter Rückgriff auf ökonomisches Erfahrungswissen – die Gefahr, dass die Gerichte einen eigenen Abwägungsvorgang vornehmen und schließlich der EZB das Vorliegen eines entsprechenden subjektiven Moments unterstellen. Insgesamt wird deutlich, dass das PSPP noch stärker als das OMT-Programm währungspolitisch ausgerichtet ist, weil es gerade nicht um die Neutralisierung von Zinsaufschlägen aus Schuldtiteln einzelner Mitgliedstaaten geht und weder Selektivität noch Konditionalität der Ankäufe – Merkmale, die eine wirtschaftspolitische Ausrichtung infolge der Verbindung zum ESM zumindest nahelegten – in der Ausgestaltung des Programms Niederschlag fanden.
Die „berüchtigte“ fünfte Vorlagefrage
Erhebliche Sprengkraft hatte die Tatsache, dass die fünfte Vorlagefrage betreffend die primärrechtliche Zulässigkeit einer nachträglichen Risikoverteilung für die erworbenen Staatsanleihen vom EuGH in der Sache unbeantwortet blieb, obwohl das BVerfG hiervon die Entscheidung über eine mögliche Verletzung des parlamentarischen Budgetrechts als Bestandteil der Verfassungsidentität i.S.d. Art. 79 Abs. 3 GG abhängig machte (s. im Vorlagebeschluss Rn. 124). Der EuGH begründete seine Entscheidung überzeugend mit der hypothetischen Natur der Fragestellung, gerade weil eine solche Annahme nicht durch die im Programm niedergelegten Bestimmungen gestützt sei (s. dort Rn. 159 ff.). Dies mag um das Argument ergänzt werden, dass risikoteilende Maßnahmen – zumindest vor dem BVerfG – einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen und die Annahme eines irgendwie gearteten Haftungsautomatismus eher fernliegt (hierzu: ESM-Urteil, Rn. 164 ff.).
Das BVerfG scheint nach allem ersichtlich um Versöhnung bemüht, wenn es der Unzulässigkeit der Vorlagefrage jetzt in bemerkenswerter Weise einen „spezifisch materiell-rechtlichen Sinn“ beimisst und sie „als Absage an eine entsprechende sekundär- oder tertiärrechtliche Regelung in der Zukunft“ interpretiert, „weil der Gerichtshof sie auf der Basis des geltenden Integrationsprogramms nicht nur in tatsächlicher Hinsicht für ungewiss, sondern auch für rechtlich nicht möglich und daher hypothetisch hält“ (Rn. 224). Die Auffassung des EuGH, es bestehe keine primärrechtliche Vorschrift zur Haftungsteilung, ist angesichts des Art. 32.4. S. 2 ESZB/EZB-Satzung zwar angreifbar, wird aber vom BVerfG dankbar aufgegriffen und in der Zusammenschau mit den übrigen Ausführungen des EuGH kurzerhand als acte éclairé eingestuft, was mit Blick auf Art. 123 Abs. 1 AEUV und die darin benannten Garantien fragwürdig erscheint.
Fazit und Ausblick
Schon diese ersten Einwände gegen die Entscheidung rücken das BVerfG in den Mittelpunkt der Kompetenzdebatte und geben Anlass zu der Annahme, dass das Gericht hier möglicherweise selbst die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten und damit gewissermaßen selbst „ultra vires“ gehandelt hat. Die EZB hat das Urteil zwar zur Kenntnis genommen, aber kühl auf die Entscheidung des EuGH verwiesen. Damit wird der „Gehorsamskonflikt“ mitten in das Europäische System der Zentralbanken hineingetragen, deren Bestandteil die insofern weisungsgebundene (Art. 14.3. S. 1 ESZB/EZB-Satzung) und (auch) der Jurisdiktion des EuGH unterworfene (Art. 271 lit. d AEUV) Deutsche Bundesbank ist.
Auch wenn der scheidende Präsident des BVerfG noch einmal explizit darauf verwiesen hat, dass die im Zusammenhang mit der Corona-Krise getroffenen geldpolitischen Maßnahmen nicht Gegenstand der Entscheidung waren, steht ihre Signalwirkung außer Frage. Dies gilt einerseits für die zusätzlichen Nettoankäufe in Höhe von 120 Mrd. EUR im Rahmen des PSPP, andererseits für das am 18. März dieses Jahres angekündigte und am 24. März beschlossene Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP). Gerade dessen Volumen von 750 Mrd. EUR, aber auch seine Fortsetzung bis zum derzeitig noch nicht absehbaren Ende der Corona-Krise dürften sich als wichtige Abwägungskriterien in der vom BVerfG vorgezeichneten, aber so nicht überzeugenden Verhältnismäßigkeitsprüfung erweisen. Im Übrigen wirft gerade die avisierte „flexible Durchführung“ des PEPP währungsrechtliche Fragestellungen auf, die alsbald einstweilige Anträge vor dem BVerfG provozieren dürften. Wenngleich sich die praktische Bedeutung der Entscheidung – konkret im Hinblick auf das PSPP – wegen des vom BVerfG gebilligten „Nachschiebens von Gründen“ (vgl. Rn. 109) innerhalb der dreimonatigen Übergangsfrist (Rn. 235) als eher überschaubar erweisen dürfte, sind die Auswirkungen für das Kooperationsverhältnis zwischen den Gerichten im europäischen Rechtsprechungsverbund verheerend – auch und gerade mit Blick auf Ungarn und die Republik Polen.